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Gap years und Freiwilligendienste als Ausdruck der Sinnsuche

Rahim Taghizadegan am 24. September 2015

Im Zuge der Bologna-Reform sind die Entscheidungsschwierigkeiten und Lücken in den Bildungslaufbahnen gewachsen: Schulabgänger fühlen sich durch die internationale Auswahl bei wachsenden Zweifeln am Herkömmlichen und dem Druck zu Zusatzqualifikationen bei Bildungs- und Karriereentscheidungen massiv überfordert, nach dem Bachelor-Abschluss nehmen die Wartezeiten und Zweifel vor Anschluss des Master-Programms zu, und nach dem Master sieht sich die „Generation Praktikum“ erst recht zweifelnd und verzweifelnd. Daher steigt die Nachfrage nach sinnorientierten Freiwilligendiensten. Junge Menschen reagieren damit auf schwindende Einstiegsmöglichkeiten am Arbeitsmarkt und schwindende Möglichkeiten sinnorientiert-selbständiger Wertschöpfung.

In Großbritannien entstand die Tradition der Gap Years, bei denen Jugendliche oft ein Jahr in der Dritten Welt in Hilfsprojekten verbringen. Diese Idee setzt sich nun auch in den USA durch und gewinnt auch in Europa immer mehr Anhänger. Ist ein solches Sinn-Jahr nicht eine hervorragende Ergänzung zum Universitätstrott? Leider fällt eine Gesellschaft, die sich nach Sinn sehnt, allzu leicht auf Unsinn herein, auf wohlklingende Täuschungen. Gap Years und Freiwilligendienste können tatsächlich einmalige Erfahrungen sein, mit größerer Wichtigkeit für die Persönlichkeitsbildung als alle Zertifikate zusammen. Meist jedoch handelt es sich um teure Täuschungen, nämlich illusionäre Abenteuerurlaube. Ergänzungsprogramme dieser Art treten ja gerade unter der Prämisse an, jungen Menschen einen unbequemen Erkenntnisweg zu öffnen, der aus der Parallelwelt hinausführt, welche die von der Realität abgeschotteten schulischen Institutionen vermitteln. Oft verstärken solche Erfahrungen aber die Realitätsferne, anstatt sie zu verringern.

So wie das Universitätsstudium trotz (nicht wegen) der Institution eine wichtige Episode der Persönlichkeitsentwicklung sein kann, gilt das auch für Auslandsaufenthalte: Viele Jugendliche sind dabei erstmals fern der elterlichen Obsorge, müssen sich das erste Mal wirklich selbst durchschlagen, sich um ihre Unterkunft und Verpflegung kümmern und ihre Wäsche waschen. Je ferner der Kulturkreis, desto größer solche alltags-praktischen Herausforderungen. Dennoch wäre es dazu nicht nötig, an das andere Ende der Welt zu jetten – rein psychologisch fühlen sich die Eltern aber in diesem Fall freilich ferner an und die Verantwortung größer.

Die Hilfsausflüge von Kindern aus gutem Hause in ferne Weltgegenden sehen sich allerdings wachsendem Spott ausgesetzt. Die Erinnerungsfotos solcher Aufenthalte verdichteten sich in der Wahrnehmung durch das Mitteilungsbedürfnis dieser Jugendlichen in den „sozialen“ Medien. Dabei ist das immer feinere Sensorium für politische Unkorrektheiten angesprungen: Eben noch Fotos vom Shaken und Chillen in der Timeline, und dann ein Selfie inmitten von kleinen Schwarzen. Direkt mit dem Jet von der coolen Party zum coolen Entwicklungshilfeprojekt. Ist das Rassismus? Kolonialismus? Die coolen Kinder verspottet freilich niemand. Die Uncoolen aber sahen ihren coolen Freiwilligendienst bald bissigem Spott ausgesetzt. So wie das Selfie mit den coolen Kids auf der Party fake wirkt, so wirkt auch das Selfie mit den coolen, unterernährten und barfüßigen, kleinen Stimmungsbomben in Afrika ungut.

Das Sensorium für Rassismus und Kolonialismus schlägt heute vielleicht allzu leicht aus, auch wenn gar keine böse Intention besteht, doch hier deutet es doch auf Widersprüche, die es in sich haben. Wie sinnvoll ist es, dass Jugendliche, die auf einer Party schon mal das Monatseinkommen von Menschen in unterentwickelten Ländern versaufen, dann zur Gewissensberuhigung Sinn durch Hilfsprojekte in ebendiesen Ländern suchen? Diese polemische Gegenüberstellung von Geldwerten meine ich allerdings ganz anders als gewohnt: Meist wird eine abstrakte Schuld aus solchen Beispielen abgeleitet. Tatsächlich geht es hier um Realitätsunterschiede, die mit Schuld relativ wenig zu tun haben. Es ist nicht sinnlos und dumm, Menschen am anderen Ende der Welt helfen zu wollen, obwohl oder weil man in ganz anderen Vermögensverhältnissen aufgewachsen ist. Die wesentlichere Frage ist: Kann man diesen Menschen als Jugendlicher aus gutem Haus auf dem Entwicklungshilfetrip überhaupt helfen? Eine gewisse Überheblichkeit scheint da schon implizit zu sein, ideologische Beobachter würden sie vielleicht „kolonialistisch“ schimpfen, das trifft aber glatt daneben. Mit Rassismus und Kolonialismus hat die Sache nämlich gar nichts zu tun. Nur mit der Kluft zwischen Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung, die hinter den Neurosen der Generation Y steckt. Wenn diese Kluft nicht adressiert wird, wächst sie im Zuge eines solchen Gap Years noch, was die Neurose verstärkt, anstatt sie abzubauen.

Diese Neurosen sind anerzogen und angelernt. Einerseits neigen Eltern mit Sinnproblemen zu Projektionen, bei denen dem Kind zu viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Dabei entstehen Prinzen und Prinzessinnen, denen die Eltern den Eindruck vermitteln, sie könnten alles, was sie wollten. Das führt später gleichzeitig zu Selbstüberschätzung und Entscheidungsüberforderung. Andererseits werden diese Neurosen in den Schulen verstärkt, in denen egalitäre Illusionen, massive Realitätsferne von Institution und Lehrkörper sowie wohlmeinende Kumpelhaftigkeit der Persönlichkeitsentwicklung nicht genügend Reibeflächen bieten.

Wenn ich europäische Jugendliche mit solchen, die ich im Nahen Osten, in Südostasien, in Lateinamerika und in Afrika kennengelernt habe, vergleiche, bemerke ich sehr deutlich jene unheilvolle Kombination von Selbstüberschätzung und Lähmung. Jugendliche in unterentwickelten Regionen wissen, dass ihnen eben nicht alles offen steht, darum haben sie aber auch mehr Leistungsbereitschaft und ein realistischeres Selbstbild, das mit mehr Demut einhergeht. Aus der reichen Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen aus aller Welt kann ich mir das Lachen nicht verkneifen, wenn westliche Jugendliche in unterentwickelte Länder reisen, um den Jugendlichen dort „zu helfen“ oder gar „etwas beizubringen“. Was es in unterentwickelten Ländern braucht, ist die Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen. Das lernen die neugierigen und blitzgescheiten Kinder dort von klein auf. Irgendwann sterben dann allenfalls die Neugier und der Ehrgeiz, wenn die kleinen Versuche, aus nichts etwas zu machen, durch Krieg oder Plünderung immer wieder hintertrieben werden. Hört die Zerstörung und Plünderung einmal auf, ist die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung beeindruckend. Mit Geldmangel, Wissensmangel oder gar Intelligenzmangel hat das Ausbleiben dieser Dynamik relativ wenig zu tun.

Westliche Jugendliche wissen vor allem, wie man aus viel weniger macht. Aus nichts etwas machen müssen sie kaum jemals. Wenn man etwas will, braucht man nur Geld dafür. Die Gap Years sind in erster Linie Konsum. So wie die Erasmus-Semester während des Studiums. Zu diesen absurden Entwicklungshilfetrips gehören Abenteuerurlaube in Kuba, bei denen „antikapitalistische“ Jugendliche aus dem Westen bei der Ernte im Agrarkollektiv „helfen“, Südseeatmosphäre mit einem kräftigen Schuss Rum genießen und dank der mitzubringenden Dollars auf keine Annehmlichkeiten verzichten müssen. Die Wertschöpfung bei der Erntearbeit ohne Erfahrung, mit kaum Sprachkenntnissen und bei wenigen Stunden physischer Leistungsfähigkeit im ungewohnten Klima steht in keiner Relation zum Reise-, Verpflegungs-, Unterkunfts- und Unterhaltungsaufwand.

Kuba ist hier nur ein Beispiel, das selbe Bild bietet sich bei Freiwilligendiensten in Afrika oder Lateinamerika. Unlängst wies mich ein Praktikant auf das Angebot hin, als WU-Student einen Freiwilligendienst in Südafrika zu machen. Unterkunft und Verpflegung in den Slums sind relativ günstig, nur die Reisekosten schlagen etwas zu Buche. Diese Studenten sollen dann vor Ort südafrikanische Kleinunternehmer beraten und ihnen betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse vermitteln. Das klingt nach einer guten Idee, ich musste aber sogleich lachen. Ich hatte viel sowohl mit WU-Studenten als auch südafrikanischen Kleinunternehmern in den dortigen Slums zu tun. Unter den ersteren gibt es zweifellos ganz brillante junge Leute, die intelligent und ehrgeizig sind. Unter den letzteren gibt es zweifellos viele Bildungsmängel. Und doch sehe ich kaum Überlappungen zwischen der WU-Betriebswirtschaftslehre und der Realität der südafrikanischen Schattenwirtschaft. Der Gedanke, dass ein durchschnittlicher WU-Student einem durchschnittlichen südafrikanischen Unternehmer irgendetwas von Wert vermitteln könnte, scheint mir völlig realitätsfremd. Hier geht es darum, mit viel etwas zu machen (meist weniger), also Budgets zu verwalten, Geldströme zu erfassen, Ausgabeposten zu argumentieren. Dort geht es eben darum, mit nichts etwas zu machen (nämlich mehr), also praktische Lebenskunst, Wendigkeit, Auskommen mit wenig bis nichts. Was bringt es, einen Geschäftsplan mit mehr Tabellen auszustatten, wenn die Bilanzsumme nahe null ist?

Eigentlich müsste der afrikanische, asiatische, lateinamerikanische Jugendliche in den Westen kommen, um dort Entwicklungshilfe zu leisten. Bei uns wird Kapital konsumiert, dort wird Kapital aufgebaut, sobald es nicht mehr politisch zerstört und geplündert wird. Kapitalkonsum kann nach viel Wissen, Kultiviertheit, Weltläufigkeit aussehen. Konsum ist auch an sich nichts Schlechtes. Man sollte ihn aber nicht für ein Entwicklungsmodell halten.

Sich ein Jahr Zeit zu nehmen vor einer Studien- und Berufswahl ist eine gute Idee. Doch mehr Zeit an sich verbessert nur sehr selten eine Entscheidung. Das wissen erfolgreiche Unternehmer, die rasch und damit oft intuitiv entscheiden. Zeit für Persönlichkeitsentwicklung ist sinnvoll, doch das ganze Leben ist diese Zeit – die Lernphase ist nie zu Ende. Da Schulen aber keine idealen Orte der Persönlichkeitsentwicklung sind und die Studienentscheidungen viel zu ernst genommen werden, fühlen sich viele junge Menschen überfordert – diese sind die besten. Diejenigen, die sich nicht überfordert fühlen, sind oft Mitläufer. Ein Gap Year zur Persönlichkeitsentwicklung muss viele Kontexte bieten und Perspektiven, muss viele Potentiale und Talente prüfen und muss vor allem an die Realität heranführen. Nicht unbedingt die Realität der Zeit, denn die ist schon passé, sondern die Realität der Welt, die über künftige Entwicklungen entscheidet. Die meisten Gap Years und Freiwilligendienste führen aber noch weiter von der Realität weg, sie verstärken die Illusion, dass für Sinn schon gute Intentionen ausreichen.


Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.

Filed Under: Freie Bildung, Scholien

Eine Anthropologie des Wohlfahrtsstaates

Rahim Taghizadegan am 20. September 2015

Seit Anbeginn des Wohlfahrtsstaates warnen Ökonomen vor Finanzierungsproblemen und einer Verschuldungsspirale. Warum konnten diese Argumente bislang nicht überzeugen? Für die meisten Menschen ist der Wohlfahrtsstaat eine anthropologische und moralische Notwendigkeit, daher beeindrucken ökonomische Argumente kaum. Der Mensch kommt als das lebensunfähigste Tier auf die Welt und erfährt von klein auf Abhängigkeit und Fürsorgeverantwortung. Als soziale Wesen empfinden wir instinktiv, dass es gelegentlich nötig ist, als Individuen materiell zurückzustecken, um das Überleben der Gruppe zu gewährleisten. Unser Hirn ist, wie schon Friedrich A. von Hayek erkannte, denkbar schlecht auf das Leben außerhalb einer engen Sippengemeinschaft ausgelegt. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Antwortversuch auf dieses unbewusst empfundene Dilemma in modernen, anonymen Gesellschaften. Hegel brachte diesen Zwiespalt am besten auf den Punkt, als er die Kernaufgabe des modernen Staates und damit des Wohlfahrtsstaates darin erkannte, eine Synthese zwischen Liebe und Freiheit zu bilden: das heißt, die Fürsorglichkeit der Sippe zu erfahren, ohne den Beschränkungen der Sippe ausgeliefert zu sein. So kommt es, dass der Wohlfahrtsstaat schon früh auch liberal begründet wurde: als Mindestmaß institutionalisierter Fürsorge, die erst die anonyme Freiheit einer großen Gesellschaft erlaube.

Es sind im Wesentlichen drei anthropologische Prämissen, die den Wohlfahrtsstaat als notwendiges Projekt erscheinen lassen, das grundsätzlich jeden Preis wert sein müsse – und damit über der Ökonomie stehe. Am Anfang steht die These, dass eine plötzliche Häufung von Not freiwillige Strukturen, die eher dezentral und gemeinschaftlich sind, überfordere. In der Neuzeit nehmen solche Häufungen durch die wachsende Tragweite politischer und ökonomischer Wechselfälle zu. An der Geburtsstunde des Wohlfahrtsstaates steht vielfach die politische Aufhebung der Klöster, der bis dahin größten Nothilfestrukturen jenseits der engen Sippenkontexte. Natürlich lässt sich hier einwenden, dass da wohl der Staat die Bedürftigkeit vielfach erst geschaffen hatte, mit der er seine spätere Fürsorge legitimierte. Doch das wird die wenigsten Menschen überzeugen: Das moralische Gebot, Menschen in Not in größtmöglichem Maße – und daher eben auch systematisch von Staats wegen – zu helfen, wird durch die gegensätzliche Bewertung politischer Ursachen nicht aufhoben.

Gemeinhin wird die exponentielle Erhöhung der Sozialausgaben als Indiz der sich rapide verschlechternden sozialen Lage vieler Menschen interpretiert. Von dieser Korrelation ausgehend läge es aber auch nahe, auf eine paradoxe Kausalität zu schließen. Könnte es sein, dass der Wohlfahrtsstaat selbst Bedürftigkeit produziert? Eine ökonomische Anreizanalyse motiviert dies, wie eine Anekdote aus Vietnam verdeutlicht: Um einer Rattenplage Herr zu werden, bot die Regierung Prämien für die Schwänze toter Ratten. Damit stieg aber der Wert von Ratten, die daraufhin von den Rattenfängern zwar ihres Schwanzes entledigt, aber tunlichst nicht an der Vermehrung gehindert, geschweige denn getötet wurden. Die Zahl der Ratten wuchs dadurch noch weiter an.

Ist es zynisch davon auszugehen, dass als Folge bedarfsabhängiger Förderung die Bedürftigkeit gezielt erhöht wird? Krankt die Ökonomie schlicht an einem negativen, allzu pessimistischen Menschenbild? Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein einseitig negatives Bild vom Menschen, sondern um ein realistisches: Der Mensch war schon immer von Natur aus darauf angewiesen, ein Opportunist zu sein. An Kraft oder Schnelligkeit können wir es mit den Tieren nicht aufnehmen. Der Mensch ist, wie sich an Naturvölkern noch zeigt, ein beobachtender, wartender und verfolgender Jäger, der den kleinsten Vorteil zu seinen Gunsten ausnutzen muss. Eine plausible These zur evolutionären Entwicklung unseres Gehirns geht noch weiter: Unser Intellekt könnte direkt an der Notwendigkeit gewachsen sein, Tiere und unsere Mitmenschen zu überlisten. Da unser Überleben darauf beruhte, kann man dies dem Menschen schwerlich anlasten.

So ist es naheliegend, dass bedarfsabhängige Sozialleistungen die Pauperisierung nicht mindern, sondern verstärken. Unter Pauperisierung versteht man nicht unmittelbar Verarmung, sondern die Überhandnahme eines Bettlerdaseins, welches vom Wohlstandsniveau gänzlich unabhängig und eher psychologischer Natur ist: hohe Zeitpräferenz, geringe Sparneigung, geringe Eigenverantwortung. Ayn Rand schilderte diese psychologische Dynamik besonders klar anhand der Umstellung der Entlohnung in einem fiktiven Unternehmen, nach der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen bezahlt werden sollte:

«Wissen Sie, was dieser Plan bewirkte und was er den Leuten antat? Versuchen Sie einmal, in einen Kessel Wasser zu schütten, aus dem ein Rohr das Wasser schneller abfließen lässt, als Sie es hineingießen können, und mit jedem Kübel Wasser wird das Rohr weiter, und je härter Sie arbeiten, desto mehr verlangt man von Ihnen […]. Es bedurfte einer einzigen Versammlung, um zu erkennen, dass wir zu Bettlern geworden waren – erbärmlichen, heulenden, winselnden Bettlern, jeder einzelne von uns, weil keiner seine Bezahlung als seinen rechtmäßigen Verdienst ansehen konnte, weil keiner Rechte oder Einkommen hatte, nicht ihm gehörte seine Arbeit, sondern der „Familie“, und die „Familie” schuldete ihm nichts dafür, und der einzige Anspruch, den er an sie stellen konnte, waren seine „Bedürfnisse“.»

Neben der Politik scheint in der Neuzeit auch die Ökonomie selbst die Häufung von Not zu verstärken. Es hat sich das Phänomen eines Konjunkturzyklus bemerkbar gemacht, das eine plötzliche, zyklische Häufung von Firmenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit mit sich bringt. Allerdings ist die Rezession eine Phase der Bereinigung und Aufdeckung nicht nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen; das eigentliche Unheil ist die Blasenwirtschaft, die davor Ressourcen verschwendet und gerade die Ärmsten in ein inflationäres Hamsterrad zwingt. Der Versuch einer bloßen Linderung der Rezessionsfolgen kann also die Korrektur künstlich hinausschieben und damit die Grundlage späterer, noch größerer Bedürftigkeit schaffen. Tatsächlich sind es eher die zentralistischen Fürsorgesysteme, die im Konjunkturzyklus an ihre Grenzen stoßen. Die These, dass die freiwilligen Strukturen mit der zyklischen Häufung von Not nicht fertig würden, trägt auch historisch nicht. Mangels fester Rechtsansprüche und dank persönlicher Beziehungen waren die friendly societies oder Gewerkvereine wesentlich flexibler. Sie verschwanden nicht, weil sie überfordert waren, sondern wurden im Moment ihrer größten Leistungsfähigkeit zwangsweise dem Staat einverleibt.

Die zweite anthropologische Prämisse des Wohlfahrtsstaates ist, dass nur dieser den Teufelskreislauf durchbrechen könne, dass arme und ungebildete Eltern wiederum arme und ungebildete Kinder haben – was auf alle Zeiten eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Klassen schaffe. Viele Liberale wurden im Namen einer Chancengleichheit zu Fürsprechern einer begrenzten Wohlfahrt. Nassau Senior etwa schrieb 1861:

«Wir können auf eine Zeit hoffen, in der der Arbeiterschaft die Bildung ihrer Kinder selbst anvertraut werden kann; doch kein protestantisches Land glaubt, dass diese Zeit schon angebrochen ist, und ich sehe keine Hoffnung, bis nicht Generation nach Generation besser ausgebildet wurde.»

Diese Perspektive überschätzt allerdings sowohl institutionalisierte Bildung als auch die Wirkung des Elternhauses. Zwillingsstudien zeigen, dass maximal zehn Prozent der Variation der Charaktereigenschaften und Lebenswege von Kindern durch das Elternhaus erklärt werden können. Diese beschränkte Prägung ist aber vermutlich wesentlich paradoxer und indirekter als die meisten glauben. Das reichste Prozent der USA begann im Schnitt mit 15 Jahren zu arbeiten – eine wichtigere Fördermaßnahme als Schule und elterliche Zuwendung? Wenn man den Lerneifer, Fleiß und die Leistungsbereitschaft von jungen Asiaten als Vergleich heranzieht, mag man in unseren Breiten eher Wohlstandsverwahrlosung denn materiellen Mangel im Elternhaus als Entwicklungshemmnis ansehen. Sollte der Wohlfahrtsstaat also, anstatt Kindergeld auszuzahlen, Verarmungsprämien bei der Geburt eines Kindes abziehen, um es vor einer gefährlich sorglosen Existenz zu bewahren?

Hinter der Logik des Wohlfahrtsstaates steckt im Kern ein Behaviorismus, wie ihn etwa John B. Watson formulierte:

«Gebt mir ein Dutzend gesunde, gut gebaute Kinder und meine eigene, spezifizierte Welt, um sie darin großzuziehen, und ich garantiere, dass ich irgendeines aufs Geratewohl herausnehme und es so erziehe, dass es irgendein beliebiger Spezialist wird, zu dem ich es erwählen könnte – Arzt, Jurist, Künstler, Kaufmann, ja sogar Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Talente, Neigungen, Absichten, Fähigkeiten und Herkunft seiner Vorfahren.»

Der Behaviorismus bildet in seiner auf das Materielle reduzierten Form auch die dritte anthropologische Prämisse des Wohlfahrtsstaates: nämlich, dass die Menschen durch ein schlechtes Umfeld schlechter würden und daher nur die möglichst schnelle materielle Verbesserung der Lebensverhältnisse kriminelles und asoziales Verhalten unterbinden kann. Den Grundgedanken dahinter formulierte Rousseau: der Mensch sei von Natur aus gut und nur durch die Verhältnisse korrumpiert.

Doch der materielle Aspekt ist hierbei der unwesentlichste. Das erkannte schon die sozialistische Sozialforscherin Marie Jahoda, die die Verhältnisse von Arbeitslosen untersuchte: Viel schwerwiegender als materieller Mangel wären das Fehlen einer Zeitstruktur, von sozialen Kontakten und einer gemeinsamen Aufgabe, die Identität stiften kann. Deshalb greifen alle realisierten Menschenverbesserungsversuche im Zuge einer Umfeldgestaltung tief in den Lebensalltag ein: ob die reducciones der Jesuiten, Klöster im Allgemeinen oder Resozialisierungsprogramme in Eingeborenenreservaten (siehe etwa die bezeichnende australische Devise der *„tough love“* nach schweren sozialen Problemen in davor rein wohlfahrtsstaatlich-materiell versorgten Siedlungen). In größerem Maßstab bleibt da von der Freiheit nichts übrig. So erstaunt es nicht, dass Totalitäre oft behavioristische Losungen bemühten: Mao meinte, auf leeren Blättern würden die schönsten Gedichte geschrieben, und die roten Khmer postulierten, nur Neugeborene seien unbefleckt. Die Folge ist im schlimmsten Fall Massenmord oder – unter „freiheitlicheren” Verhältnissen – ein indirekter Massenselbstmord. Tiere, die nicht artgerecht gehalten werden, hören auf, sich zu vermehren. Ähnlich scheint es beim Menschen zu sein: Versorgte Reservate neigen zu demographischen Schieflagen. Demnach könnte die demographische Falle weniger ein Zeichen von Wohlstand sein, wie gemeinhin angenommen, sondern eines der Pauperisierung – der Entmenschlichung des Menschen im Zuge einer „Stallfütterung“, wie es Wilhelm Röpke scharf ausdrückte.

Der Wohlfahrtsstaat ist im Gegensatz zu den sozialistischen Experimenten mit millionenfacher Todesfolge eine „permissive“ Spielart des Behaviorismus, die sich selbst Freiheitlichkeit bescheinigt. Die Reduktion auf anonym-materielle Interventionen ist zwar für die Versorgten angenehmer, doch ihre Wirksamkeit muss bezweifelt werden. Strenger Paternalismus, der auf der These beruht, dass Politiker für ihre Untertanen bessere Entscheidungen treffen können als diese für sich, könnte immerhin theoretisch eine tatsächliche Verbesserung der Menschen in solchen Erwachsenenerziehungsanstalten erlauben (was praktisch unwahrscheinlich und selten den Freiheitsverlust wert ist). Permissiver Paternalismus hingegen wirkt anthropologisch notwendigerweise auf eine Verschlechterung der Menschen hin: Ein Beispiel dafür wäre, ein quängelndes Kind stets mit einem Bonbon abzuspeisen – was das Kind darauf konditioniert, nur durch die Anmeldung eines niederen Bedürfnisses Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen. Der Hauptleidtragende einer solchen vermeintlich freiheitskompatiblen Abspeisung ist offensichtlich das Kind.

Demnach liegt die These nahe, dass die Hauptleidtragenden des Wohlfahrtsstaates dessen Klienten sind: die Unterschicht. Die Nutznießer sind gewisse Teile der Oberschicht, die die breite Bevölkerung mit Stillhalteprämien abspeisen können. Ohne Wohlfahrtsstaat wäre etwa die Bereicherung von wenigen im Zuge der inflationären Blasenwirtschaft der letzten Jahrzehnte politisch kaum tragbar gewesen. Doch die Logik der Stillhalteprämien hat einen wiederum anthropologischen Haken: Die zuteilende Klasse erwartet sich die Zuneigung ihrer Klienten, tatsächlich erntet sie langfristig Hass. Wie im Fall der permissiv-paternalistischen Fehlerziehung können die Zuteilungsempfänger ihr Selbstwertgefühl nur durch Herabsetzung der Zuteiler aufrechterhalten, was den wachsenden Hass der Unterschicht gegen den „therapeutischen“ Staat erklärt, der bislang am sichtbarsten in französischen Vorstädten ausbrach. Wie bei allen Substituten muss bei Stillhalteprämien laufend die Dosis erhöht werden, da Gewöhnungseffekte eintreten. Allein aufgrund dieser anthropologisch-psychologischen Dynamiken ist der Wohlfahrtsstaat ein schwerer Angriff auf die Menschenwürde und nicht bloß eine ökonomische und politische, sondern vor allem eine anthropologische und moralische Katastrophe. Diesen in Frage zu stellen ist demnach nicht ein Ausfluss unsolidarischen Geizes, sondern die notwendige Folge einer Mitmenschlichkeit, die sich nicht an theoretischen oder ideologischen Modellmenschen orientiert, sondern auf einem realistischen Verständnis der menschlichen Natur beruht.

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag am Symposion „Mehr sozial, weniger Staat: Der europäische Wohlfahrtsstaat als Auslaufmodell?“ des Schweizer Monats. Eine gekürzte Fassung erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft“.

Filed Under: Geopolitik, Lebensphilosophie, Scholien

Geschichte der Geldordnung

Rahim Taghizadegan am 16. September 2015

Im Stift Seitenstetten trafen sich Engagierte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, die sich der Reform des Geldsystems verschrieben haben. Mir gedachte man die – freilich unmögliche – Aufgabe zu, eine kurze Einführung in die Geldgeschichte zu geben. Geldgeschichten lassen sich viele in Kürze und Würze erzählen, doch hat dies stets den Preis einer gewissen Einseitigkeit. Es ist der verhängnisvolle Irrtum des Historismus, dass die historischen Fakten schon von selbst zu uns sprechen und klare Einsichten und Empfehlungen vermitteln. Tatsächlich ist angesichts der enormen Fülle von historischen Anekdoten über menschliches Tauschen (immerhin eine extrem grundlegende Verhaltensweise) stets eine Auswahl von Nöten, die je nach den angestrebten Schlussfolgerungen erfolgt. So hat jeder der unzähligen Pamphletisten und Redner zur Geldreform, trotz gegensätzlichster Analysen und Reformvorschlägen eine – seine – plausible Geldgeschichte zu erzählen. Und die Geschichte menschlichen Tauschens bietet für jede, auch noch so krude Vorstellung eine geeignete Anekdote, denn Menschen, Kulturen und Kontexte sind – bei allen Ähnlichkeiten – von beeindruckender Vielfalt.

Geschichte ist stets eine Projektionsfläche für Ideologien. Fakten bedürfen der Interpretation, und diese kann nur auf der Grundlage bestehender Prämissen, Theorien oder Ideologien erfolgen. In der Geldgeschichte lassen sich drei wesentliche ideologische Blickwinkel unterscheiden. Neutraler gesprochen handelt es sich um unterschiedliche Perspektiven, für deren jede etwas spricht. Keine dieser Perspektiven ist für sich genommen wahr, doch alle enthalten richtige und wichtige Gedanken. Die Spannung zwischen diesen Perspektiven entspricht Grundspannungen in der menschlichen Existenz, die sich nicht einfach durch Kompromisse oder Ignorieren der jeweils anderen Perspektiven auflösen lassen, sondern sehr differenziertes Maßhalten erfordern. Diese drei Blickwinkel möchte ich die kommunitaristische, die bürgerliche und die etatistische Perspektive nennen. Die Geldphänomene selbst lassen sich ebenso grob in drei Gruppen aufteilen: Sachgeld, Kreditgeld und Zeichengeld. Diese Phänomenklassen sind nicht streng abtrennbar, sondern gehen zum Teil fließend ineinander über. Sie werden von den verschiedenen Perspektiven unterschiedlich gewichtet und bewertet.

Die kommunitaristische Perspektive benenne ich nach der philosophischen Richtung des Kommunitarismus. Dabei handelt es sich schlicht um ein neues Etikett für eine alte Sehnsucht. Instinktiv sehnt sich der Mensch nach der Sippe, nach der kleinen und geschlossenen Gemeinschaft, an die wir evolutionär angepasst sind. Dies ist ein Teil der menschlichen Natur, und nur ganz wenige Menschen – die nicht unbedingt die besten sind – bedürfen nicht der Nähe und Anerkennung durch einen engeren Kreis von Mitmenschen. Diese Perspektive, die den Menschen als Gemeinschaftswesen sieht, ist auch die urchristliche. Mit dieser Perspektive verbunden ist eine spezifische Interpretation der Geldgeschichte, die Geld eher kritisch betrachtet und vor allem vor einer zu starken Geldorientierung warnt. Die Geschichte bietet für diese Perspektive am meisten Material, da Menschen über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte in engen Sippenverbänden lebten.

Innerhalb der Sippe erübrigt sich in aller Regel die Nutzung von Geld. Nimmt der Geldverkehr zu, so ist dies stets ein Symptom der Auflösung von Gemeinschaften. Diese beruhen nämlich auf Homogenität und Vertrauen. Menschen, die ähnlichen Tätigkeiten nachgehen, tauschen allenfalls Überschüsse. Einen anonymen Wertträger brauchen sie dazu nicht, denn sie wissen, dass Überschüsse an unterschiedlichen Orten und Zeiten auftreten und sich – bei entsprechender Vertrauensgrundlage – auch schlicht gegenrechnen lassen. Ein Rechnen im engeren Sinne ist allerdings gar nicht nötig: Was soll ein Subsistenzbauer schon mit Überschüssen anfangen, als sie anderen zur Verarbeitung zu überlassen? Die kommunitaristische Perspektive auf das Geld sieht also zu Recht eher Phänomene der Schenkökonomie oder allenfalls ein freies Anschreiben einseitiger Tauschakte, die über längere Zeiträume auf Gegenseitigkeit beruhen. Somit erscheint Geld als bloßes Zeichensystem, als Dokumentation und Würdigung eines zwischenmenschlichen Energieflusses. Das Zeichengeld könnte sich allenfalls bei wachsenden Unterschieden zu einem sanften Kreditgeld weiterentwickeln, bei dem ein gewisser sozialer Druck einen Ausgleich der Tauschakte fördert. Hier aber warnt und bricht schon die kommunitaristische Perspektive: Sobald ein Kreditgeld Härte durch institutionelle Ahndung gewänne, wäre schon die Gemeinschaft bedroht. Darum gefällt dieser Perspektive auch das Konzept von Sabbatjahren so gut bzw. jedes historische Ventil, das der Entschuldung dient und damit ungleiche, gesellschaftliche Beziehungen wieder zu gleichen, gemeinschaftlichen Beziehungen macht.

Fast alle Gemeinschaften, die länger überdauern, haben einen sakralen Kern. Anders formuliert: Kaum eine nicht-religiöse Kommune überlebt länger als eine Generation. So erkennt diese Perspektive auf das Geld auch bald sakrale Ursprünge des Phänomens. In der Tat ist eine wesentliche Form des Gütertausches, des Sparens und der Gütererfassung auf das Opfer gerichtet. Alte Werteinheiten verraten zum Teil diesen Ursprung im Opfer: Im antiken Griechenland wurde der Dreifuß, ein Opferaltar, als Werteinheit bemüht und gar auf viele Münzen geprägt. Der Obolus, der Deutschsprachigen immer noch geläufig ist, hat ebenfalls griechischen Ursprung (und ist über die Römer in der lateinischen Form erhalten): Die Grundbedeutung ist Spieß; gemeint waren offenbar Fleischspieße als alte Maßeinheit für Fleischopfer. In der gläubigen Gemeinschaft wird das Opfer immer mehr zu einem Bekenntnis. Durch sozialen Druck erfolgt das Opfer dann nicht mehr vor Gott, sondern vor der Gemeinschaft. Um Trittbrettfahrer zu vermeiden, wird das Opfer gemeinschaftlich anerkannt und erfasst und deshalb letztlich möglichst geltungswirksam erbracht. Aus der kommunitaristischen Perspektive ist Geld also primär eine Erfassungseinheit und Anerkennungsinstrument für Dienst an der Gemeinschaft. Dabei wird eher der Aufwand als das Ergebnis bewertet, wie etwa die Teilhabe an Ritualen. Im engeren Bereich des Wirtschaftens drängt sich daher die Arbeitswertlehre auf. Ergebnisbewertung hat stets eine antiegalitäre Härte (so als wäre der Schwächere weniger „wert“ als der Starke) und bedroht den Sippenzusammenhalt durch Konkurrenz und Differenzierung. Anhand der Dynamik des Opferns wird aber auch deutlich, dass Gemeinschaften zu einem Götzen neigen: Das Opfer wird nicht mehr Gott erbracht, sondern dem „Wir“. Der Götze der kommunitaristischen Perspektive ist das Kollektiv.

In der kommunitaristischen Perspektive ist Geld primär Zeichengeld: Es ist ein Zeichen der Anerkennung und Würdigung für Beiträge. Dafür steht das Symbol auf Münzen, das weder Kopf noch Zahl ist: Es symbolisiert die Gemeinschaft bzw. den gemeinsamen religiösen Bezug. So war der Dreifuß, der sich auf vielen alten Münzen findet, eben Opferstelle und Opfermaß – ein Dreifuß bietet eine gewisse, beschränkte Fläche, um ein Opfer gewisser Größe deutlich sichtbar abzulegen. In säkularen Zeitaltern treten nationale, kulturelle und politische Symbole anstelle der religiösen; all diese Symbole signalisieren Zugehörigkeit zu einer – später meist fiktiven – Gemeinschaft.

Wenn unterschiedliche Sippengemeinschaften aufeinander treffen, bedeutet das meist Konflikt, insbesondere wenn sich die religiösen, nationalen oder ideologischen Symbole unterscheiden. Doch auch ein Gütertausch über Sippengrenzen ist manchmal möglich. Zunächst handelt es sich dabei um Besänftigungsgaben, die Einladungen zu Beziehungen darstellen, die entweder auf Unterordnung oder auf Gegenseitigkeit beruhen. Nur letztere sind eine langfristige Alternative zu Krieg. Unter Fremden beschränkt das Vertrauensproblem das Entwickeln einer solchen Gegenseitigkeit. Die Anzahl möglicher Tauschakte ist zunächst gering und der Tauschhandel stets vom Scheitern bedroht. Die Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit der angebotenen Güter wird wichtiger. Unter Fremden erweisen sich unterschiedliche Güter als unterschiedlich tauschbar. Bestimmte Güter sind leichter tauschbar als andere. In der Ökonomik spricht man bei dieser Eigenschaft von der Absatzfähigkeit. Vieh hat etwa unter Fremden eine höhere Absatzfähigkeit als Fleisch. Sehen wir uns das Tauschproblem näher an, um es zu verstehen:

Der fremde Hirte, Angehöriger einer Nomadensippe, kommt ins Tal und besucht die Siedlung einer sesshaften Sippe. Er könnte einen Vorrat Fleisch geschultert haben und hoffen, dafür im Tausch Gemüse zu erhalten. Der erste potentielle Tauschpartner traut dem Hirten überhaupt nicht, er verbarrikadiert sich, weil er ihn für einen gefährlichen Räuber hält (die Konflikte zwischen Nomaden und Sesshaften sind uralt). Der zweite verjagt ihn, weil er seine Anwesenheit für unglücksverheißend ansieht, immerhin beten die Nomaden groteske Naturgötter an und nicht den einzig wahren. Der dritte ekelt sich vor dem Fleisch, es riecht zwar noch gut, aber womöglich ist es schon verseucht, immerhin ging es durch die schmutzigen Hände der Nomaden. Der vierte wäre grundsätzlich offen, doch leider hat er selbst erst geschlachtet und genügend Fleisch für die Woche. Im nächsten Tal aber könnte es noch Fleischbedarf geben. Der Hirte könnte das Fleisch also in der prallen Sonne weiterschleppen oder er müsste auf den Tausch verzichten und es selbst konsumieren oder verschenken. Vieh hingegen ist absatzfähiger, da es sich selbst trägt. Gibt es in einem Tal gerade ein Überangebot, lässt sich das zu tauschende Vieh wesentlich leichter und ohne Qualitätseinbuße in das nächste Tal führen. Daher haben viele alte Werteinheiten für den Tausch über Sippengrenzen hinweg (insbesondere für das Brautgeld) einen Bezug zum Vieh. Die indische Währung Rupie leitet sich beispielsweise vom Wort für Viehherde ab. Vieh ist aber noch immer nicht das absatzfähigste Gut, da es nicht gleichartig genug ist. Viele vereinbarte Tauschakte enden letztlich im Konflikt, weil der zur Zahlung Verpflichtete oft das älteste und schwächste Vieh der Herde zahlt, wenn die Viehqualität nicht näher definiert ist, wodurch wieder die Flexibilität leiden und die Absatzfähigkeit weiter eingeschränkt würde. Als absatzfähigste Güter haben sich in der Geschichte Edelmetalle erwiesen, da sie völlig gleichartig, einer Qualitätsprüfung zugänglich, teilbar und transportierbar sind. Mangels Vertrauen unter Fremden ist das ursprüngliche Geld für solche Tauschakte nicht bloß Wertrepräsentant, sondern Wertträger.

Dafür steht die Zahl auf der Münze. Viele alte Münzbezeichnungen beziehen sich auf das Edelmetallgewicht. Die Zahl ist objektiv, anonym und messbar. Sie ist ebenso hart und kalt. Daher hat das Vorurteil, das Geld Beziehungen zerstört, eine reale Grundlage. Geld, das selbständiger Wertträger ist, benötigt keine Beziehung und emanzipiert sich von dieser. Ein wachsendes Ausmaß an Geldtransaktionen ist daher auch ein Symptom für das Verschwinden und den Zerfall von Gemeinschaften. Die kalte Kalkulierbarkeit gefährdet familiäre und freundschaftliche, religiöse und ideologische Beziehungen. Doch das Vorurteil über das Geld ist einseitig. Geld stiftet auch Beziehungen. Eben weil es anonym und kalt ist. Pecunia non olet, sagten die Römer, Geld stinkt nicht. Selbst wenn mir der Fremde wortwörtlich „stinkt“ (und natürlich schaffen unterschiedliche Nahrungsgewohnheiten auch unterschiedliche Gerüche), gar als unrein gilt (und dieses Konzept kennen fast alle Religionen), bleibt die kalte Münze mit der ursprünglich abwägbaren und dabei (eben auch im besten Sinne) berechenbaren Zahl frei von dieser Aversion. Edelmetalle sind edel, weil sie nicht auf die Umwelt reagieren und sich mit ihr mischen; Silber ist sogar antibakteriell. Geld stiftet Beziehungen, wo sonst keine wären, nämlich Beziehungen zwischen Fremden. Das missfällt dann insbesondere Politikern, die von der Erweckung von Gemeinschaftsillusionen in großen Gesellschaften leben. Heinrich Himmler brachte diesen beziehungsstiftenden und damit sippenmischenden Charakter des Geldes in seiner Posener Rede 1943 auf den Punkt:

Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude.

Gemeint sind natürlich all die kleinen Zahnärzte, Anwälte, Händler, Kulturschaffenden etc. etc., mit denen auch die größten Antisemiten dank des Geldes verkehrten. Doch Pecunia non olet wird aus der kommunitaristischen Perspektive immer auch als Nachteil des Geldes empfunden werden. Nicht nur Gerüche, sondern auch Blut bleibt auf dem Geld nicht kleben. Man sieht ihm die Herkunft nicht an. Schlimmste Verbrechen können es beschmutzt, schlimmste Frevel es entweiht haben.

Gerade weil Geld ein anonymer Vermittler ist, ist es auch ein so universelles Mittel. Unabhängig von den jeweiligen Grundhaltungen und Herkünften, dient es den unterschiedlichsten Zwecken und damit Menschen. Weil es ein so universelles Mittel ist, tritt es tendenziell aber auch anstelle der Ziele. Es wird – anders ausgedrückt – zum Selbstzweck. Menschen beginnen, Geld zu sammeln als Vorrat zur potentiellen Erreichung potentieller Ziele. Diese Wertaufladung des Geldes, die einer Herrschaft des Potentiellen und Künftigen über das Konkrete und Gegenwärtige gleichkommt, wird meist als Lauf um das „Goldene Kalb“ interpretiert. Der Götze der bürgerlichen Perspektive ist das Geld. In der Tat ist es schwer, Gott und dem Geld zugleich zu dienen. Doch Geld ist nicht der einzige Götze und gewiss nicht der verhängnisvollste. Der Götzenvorwurf kommt uns hier nur besonders leicht von den Lippen, weil wir als Herdentier so stark zum Neid neigen: Wir halten uns stets für ärmer und bedürftiger, als wir sind, und missgönnen anderen ein Mehr – die wir leicht als Götzendiener verurteilen können. Doch auch die negativ auf das Geld Fokussierten dienen diesem in ihren Gedanken, sie bewerten es über und schaffen sich einen Anti-Götzen. Wenige kommen ohne Götzen aus. Diese Asketen bewohnten historisch die Klöster, die im Innenleben auch kaum Geldtransaktionen nutzten – als kleine, reine, vertrauende Sippe Gottes.

Die dritte Perspektive auf das Geld ist die etatistische. Diese sieht die ungeheure Bedeutung, die Geld zur Organisation großer, kollektiver Vorhaben hat. Dabei geht es um das Steuern einer größeren Menschenzahl für einheitliche, vorgegebene Zwecke. Steuern ist die Grundfunktion des etatistischen Geldes, und Steuern sind die Grundlage eines solchen Geldsystems. Die Begriffsgleichheit ist kein Zufall. Der Zusammenhang zwischen Steuern, Geld und Organisation wird anhand eines Beispiels aus dem alten Rom deutlich: Das Grundproblem jedes Imperiums ist die durch globale Ausdehnung immer schwierigere Logistik. Die Versorgung von Truppen am anderen Ende der Welt ist schwierig. Große Militärkampagnen scheitern in der Regel an diesem Problem: Versorgungswege werden überdehnt, durch Guerillas unsicher und zu komplex. Irgendwann gehen an einer der zahlreichen Fronten Nahrungsmittel, Waffen und Moral aus – letztere, in Form von Anerkennung aus der fernen Heimat, ist ebenso zumindest teilweise ein Nachschubproblem. Das römische Imperium löste das Problem der Truppenversorgung auf geniale Weise mittels Geld: Im gesamten Reich galt eine Steuerpflicht, die in staatlichem Münzgelde zu leisten war. Gleichzeitig erhielten die Soldaten ihren Sold in diesem Geld. Jeder römische Untertan hatte also zur Leistung der Steuer Bedarf an Münzen, im unmittelbaren Hinterland der Front, also gerade erst unterjochtem Territorium, waren die ersten und einzigen Quellen dieser Münzen eben die Soldaten. Die Bevölkerung musste sich also, um die Steuerpflicht leisten zu können, den Soldaten andienen, indem sie ihnen Lebensmittel und was die Männer sonst begehrten, gegen den Sold bereitwillig zum Tausche brachten. Das Geldsystem wird auf diese Weise zum globalen Versorgungssystem und erlaubt Organisation in großem Stil.

Dafür steht der Kopf auf der Münze. Es ist der Kopf des Caesars, des Souveräns, dem man Steuern schuldet. In einer unpersönlichen Herrschaft hält der Souverän nicht mehr seinen Kopf hin, sondern versteckt sich hinter Symbolen. So kann sich ein etatistisches Geld leicht hinter einer kommunitaristischen Fassade verbergen. Der Ursprung des Geldes als Mittel der Organisation ist eine Schuld. Meist ist es die Steuerschuld, die dann als Urschuld legitimiert wird: als Ausdruck der Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Schulden sind fordernde Beziehungen, die Zwang bei Nichtbegleichung der Schuld legitimieren. Jede Form der Organisation, der Führung von größeren Menschengruppen wider ihre diversen Einzelinteressen erfordert Verpflichtungen dieser Art oder – wie man auf Englisch so schön sagt – „ Commitments“. Die Organisation von Menschen, die stets zum Opportunismus und damit zu gewisser Renitenz gegenüber kollektiven Zielen und Organisationsversuchen neigen, ist nur dann möglich, wenn der Zwang allein Sanktionsinstrument, nicht Grundlage ist. Ohne das Mitwirken der Mehrheit, die sich verpflichtet fühlt oder verpflichtet werden kann, ist Organisation kaum möglich. Dass Verpflichtung mehr ist als bloße Teilnahme, zeigt folgende scherzhafte Pointe über die jeweiligen Beiträge eines Huhns und eines Schweins zu Eiern und Schinken: Das Huhn ist beteiligt, das Schwein ist verpflichtet.

Die etatistische Perspektive stößt an zwei Seiten an ihre Grenzen, die jeweils im kommunitaristischen und bürgerlichen Blickwinkel liegen. Einerseits kann das Vertrauen kippen, weil sich die Zwecke der Organisationsaufgaben nicht mehr mit dem Herdenzweck vereinbaren lassen – sobald etwa die destruktive Gewalt von Kriegen das gemeinschaftsstiftende Moment überwiegt. Dann gerät die Steuerbasis und damit der Wert des etatistischen Geldes in Gefahr. Eine Gewaltspirale entsteht, die das Vertrauen weiter schwinden lässt, bis zum Bürgerkrieg. Die andere Grenze ist die der Wertschöpfung. Zentral kontrolliertes und geschöpftes Geld erlaubt die Bereicherung des Zentrums, die zunehmend Anreize zu Konsum und damit Kapitalverzehr setzt. In Zeiten stärker „organisierten“ Geldes geraten die Höfe der Herrschaft in Konsumspiralen. Die verheerendste Form staatlichen Konsums ist Krieg: Dabei konsumieren die Organisatoren Prestige und Machtgefühle und lassen die Gesellschaft die Rechnung dafür zahlen. Da Krieg absolut unökonomisch ist, reichen die Steuern niemals aus, um langanhaltende Kriege zu führen. Die Besteuerten weichen zunehmend aus: Der Staat greift dann auf immer drakonischere Steuerjagd, auf private Auslagerung der Steuereintreibung (etwa die publicani im alten Rom) und auf Inflationierung aus. Letztere ist eine der wenigen universellen Phänomene in der Geldgeschichte: Kaum ein etatistisches Geld erfuhr nicht drastische Verschlechterung. Solange noch ein Sachgeld zirkuliert, ist die Inflationierung jedoch beschränkt – Münzverrufungen sind aufwendig und teuer. Und auch bei einem Schuld- oder Zeichengeld führt Inflationierung zu einer Entwertung, die schließlich die Kriegsfinanzierung begrenzt. Kriege und Staatskonsum entwickeln daher stets einen Kreditbedarf, weil sie über die Möglichkeiten der Steuerfinanzierung und Inflationierung hinausgehen.

Dieser staatliche Kreditbedarf ist der Hintergrund einer Verschwörung zwischen der bürgerlichen und der etatistischen Perspektive, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert hatte. Dabei geht es um das Problem, wie man Bürger dazu bringt, ihre Ersparnisse für die Kriegsführung und anderen Staatskonsum zur Verfügung zu stellen. Ist das Grundvertrauen der kleinen Sippe nicht mehr gegeben, neigen Menschen dazu, eigene und familiäre Güter den kollektiven Organisationswünschen zu entziehen, was die Staatsfinanzierung und auch Kriegsfinanzierung massiv behindert. Eine große Innovation in der Staatsfinanzierung gelang in Großbritannien. Dort war durch die massive Religionsspaltung die kommunitaristische Perspektive besonders früh und in besonderem Ausmaß bedroht, was diese Perspektive gegenüber der bürgerlichen und etatistischen zunächst ins Hintertreffen geraten ließ. Die Bank of England entstand als großes Vorbild späterer Zentralbanken und vermählte auf innovative Weise bürgerliche und etatistische Perspektive. Diese Bank wurde als Aktiengesellschaft unter reger bürgerlicher Beteiligung gegründet. Gewinne erzielte sie aus einer bemerkenswerten Zinsdifferenz: Der Staat zahlte der Bank jährlich acht Prozent Zinsen, mit dieser Schuld als Deckungsgrundlage bot die Bank Bürgern für ihre Einlagen vier Prozent Zinsen. Die Zinsen dienen hierbei als Anreiz, Güter nicht selbst zu konsumieren, sondern für den Krieg aufzugeben. Bürger benötigen Anreize, denn die staatlichen Organisationswünsche sind ihnen nicht Selbstzweck, was Staatsmänner seit jeher bedauern. Im Zuge dieser Verschwörung bietet der Staat den Bürgern wirtschaftliche Partizipation, Wertsicherung der Schulden im Rahmen eines Goldstandards und verkauft sich zunehmend als „neutral“: Der ideale Staat der Bürger ist jener, der sich darauf konzentriert, Maßstab und Exekutor von Schulden zu sein. Damit war eine lukrative Kreditentfesselung ermöglicht, die freilich stets die Gefahr einer Verschuldungsspirale und wachsende Ungleichheit mit sich bringt.

Es dauerte nicht lange, bis im 20. Jahrhundert eine massive Gegenreaktion auf das bürgerlich-etatistische Zeitalter einsetzte. Da man sich auf der falschen Seite der Gewehrläufe befand, hatte die kommunitaristische Perspektive wenige Chancen, dem Profitieren, Organisieren und Marschieren kommunitaristische Freiräume abzuringen. Sie musste also auf die andere Seite der Gewehrläufe. Eine neue Verschwörung, diesmal zwischen kommunitaristischer und etatistischer Perspektive löste die alte ab. Zunehmend sah man das etatistische Geld der Steuerung als taugliches Mittel zur Inszenierung von Gemeinschaft. Inszenierte Gemeinschaft ist nämlich unglaublich teuer. Auch Krieg stiftet Gemeinschaft, und Gemeinschaft nährt Krieg, weil fast jedes „Wir“ die „anderen“ benötigt. Das 20. Jahrhundert ist das des „warfare/welfare-state“, des Nationalismus und Sozialismus, der großen Staatsaufgaben und -projekte. Dabei ließ sich die kommunitaristische Perspektive mit ihrer berechtigten Skepsis gegenüber Geld und Zinsen, gegenüber bürgerlicher Korrektheit und Kälte, leider kooptieren und verlor ihre Unschuld. Wer die antibürgerliche Geldkritik, mitsamt ihrer Zins- und Hortkritik, studiert, kann die braunen Flecken, die sich im 20. Jahrhundert darüber legten, nicht übersehen. Die Juden als typische Bürger, als bürgerliche Profiteure etatistischer Zwecke, von den Steuer- und Münzjuden des Mittelalters bis zu den privilegierten Großhändlern und Bankiers der Neuzeit, boten die ideale Blaupause für antisemitischen Hass und Wahn. Adolf Hitler selbst bezeichnete die Zinskritik eines Gottfried Feder als letzten nötigen Mosaikstein für sein Weltbild, das ihn erst ermutigt habe, eine neue politische Bewegung zu gründen (dabei plusterte er sich freilich etwas auf, in Wirklichkeit war er Parteimitglied Nummer 55).

Nach dem Untergang der radikaletatistischen Utopien mit pseudo-kommunitaristischer Fassade verblieb eine etatistische Geldordnung mit kooptierten, bürgerlichen Resten. Die Zinsen sind gering bis negativ, das Geld ein nahezu beliebig vermehrbares Zeichengeld, doch die Kreditaufblähung bläht auch Schuldverhältnisse und Profite auf. Die kommunitaristische Perspektive legt den Finger zu Recht auf die massiven Schieflagen des Systems, auch wenn die alte Zins- und Geldkritik etwas anachronistisch ist und den Verhältnissen nicht mehr gerecht wird. Dabei läuft diese Perspektive allerdings große Gefahr, sich wieder einer kommunitaristisch-etatistischen Gegenreaktion anzudienen. Man trifft sich dann bei Geldmengenausweitung, Negativzins, Bargeldverbot, finanzieller Repression und Reichsfluchtsteuer, um hinter der Fassade einer inszenierten Pseudo-Gemeinschaft die letzten bürgerlichen Reste zu opfern. Auch wenn es diese vielleicht nicht besser verdient haben, sind sie der falsche Feind: Nichts zerstört Gemeinschaft mehr als Gemeinschaftsinszenierung, nicht einmal Profitstreben und Konkurrenzdruck säen solche Feindschaft, denn das bürgerliche Wirtschaften verbindet zumindest Fremde, während die Gemeinschaftsinszenierung selbst Brüder entzweit.

Die Weltkriege wären ohne Kreditausweitung mit bürgerlicher Beteiligung und anschließender Gläubigerenteignung mit kommunitaristischer Beteiligung nicht möglich gewesen. Sukzessive sind dabei Schranken gefallen. Die einzig friedensfähige Geldordnung ist eine, die dem Krieg die Mittel entzieht. Die kommunitaristische wie die bürgerliche Perspektive auf das Geld stehen dabei gleichermaßen in der Pflicht. Wenn sie Alternativen zum derzeitigen Finanzsystem suchen, so müssen sie sich auf das Ausprobieren im Kleinen konzentrieren, denn nur dieses kann wahrhaft gemeinschaftlich bzw. zivilgesellschaftlich und unternehmerisch sein, auf das Bessermachen, auf Vorbilder und Angebote.

Im Folgenden werde ich auf die Reformvorschläge, insbesondere das Vollgeld, mit einem ganz persönlichen Blickwinkel auf die Geldreformer und ihr Engagement eingehen.


Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.

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Namensgebung

Rahim Taghizadegan am 12. September 2015

Auf der Suche nach einem Namen für unser neues Bildungsprogramm stellte ich fest, wie schwierig es mittlerweile ist, neue Marken zu entwickeln. Nur wenige gute Ideen sind noch unbesetzt, denn die weltweite Kreativität findet in der englischen Sprache doch einen nur relativ kleinen Acker vor. Englisch ist die neue Weltsprache, und wer ein internationales Publikum ansprechen möchte, kommt kaum daran vorbei. Seien wir dankbar, dass es immerhin noch eine bereits weitgehend geläufige, verwandte, indogermanische Sprache ist. Wer gründet schon ein Unternehmen oder schafft ein Produkt in der Gewissheit, niemals außerhalb des engen Heimmarkts reüssieren zu wollen? Das gilt allenfalls für sprachbezogene, also literarische und kulturelle Angebote, die Vertrautheit und Brillanz der Muttersprache voraussetzen. Für alle anderen Marken ist es wesentlich, korrekte Assoziationen durch englische Mutter- und Fremdsprachler zu erzielen, was nicht immer dieselbe Aufgabe ist. Eine korrekte Assoziation kann auch „leer“ sein, also die Abwesenheit jeder Assoziation, insbesondere einer negativen. In dem Fall ist die Marke durch einen erklärenden Untertitel oder den jeweiligen Marktauftritt mit Inhalt zu füllen.

Sind Namen nicht Schall und Rauch? Warum sollte der Name wichtig sein? Geht es nicht primär um den Inhalt? Tatsächlich nimmt die Bedeutung der Namensgebung immer mehr zu. Das liegt an der Informationsökonomik. Marketing ist für die Nicht-Kunden und die Nicht-Freunde da, jene die zu Noch-Nicht-Kunden werden sollen. Da die Aufmerksamkeitsspannen in Zeiten der Informationsinflation abnehmen, hat ein Unternehmen selten den Luxus, Noch-Nicht-Kunden lang und breit die Vorzüge seines Produkts zu erklären. Das Push-Marketing hat ausgedient, der Versuch, vorausgewählte Noch-Nicht-Kunden mit Werbung zu berieseln, bis sie es endlich kapiert haben, wie gut das Angebot ist. Junge Menschen, die in der Informationsinflation und mit digitalen Medien aufgewachsen sind, blenden mittlerweile Werbeleisten völlig aus, weshalb die Werbung in den Content muss – der dadurch natürlich ordentlich verhunzt wird. So gehört die Zukunft dem Pull- oder Permission-Marketing, der Hoffnung, dass die Kunden von alleine kommen, weil sie irgendwo in den Weiten der Information die Witterung irgendeiner molekularen Spur aufgenommen haben und womöglich selbst zu viralen Informationsschleudern werden. Diese molekularen Spuren, Informationsfetzen und Stille-Post-Rückstände passen freilich nur durch die allerkleinsten Fenster. Auf diese Ausdünnung der Informationskanäle muss sich also das Marketing einstellen und seine molekularen Duftmarken immer präziser am Code ihrer Noch-Nicht-Kunden ausrichten. Es geht darum, neue Kategorien zu besetzen, nach denen sich die Noch-Nicht-Kunden bereits sehnen, ohne für diese Sehnsüchte bereits plausible Antworten gefunden zu haben. Denn in den bereits besetzten Kategorien wird es durch laufende Konzentration immer enger.

Der Name ist die erste und kleinste Duftmarke. Danach kommt die sensorisch-visuelle Anmutung der Marke, dann Produkt-Verpackung und/oder Website bis hin zum Produkt selbst am Ende dieser engen Aufmerksamkeitsstraße. Daher kommt die Explosion von möglichst kurzen, irgendwie englischen Start-up-Namen. Alles Moleküle, die aufgeregt vor den kleinen Nasenlöchern tanzen, denen das Wettduften zunehmend stinkt. Aber wenn einen die Kunden nicht riechen können, dann hilft aller Weltschmerz nichts – der Produkterfolg ist ungewiss und wahrscheinlich ist man ewig zum Schicksal eines kleinen Handwerkers verurteilt: harte Arbeit, ein Kunde nach dem anderen, schön der Reihe nach, und niemals kommt die Erlösung der Skalierung, durch die man Regulierungs- und Steuerdruck ein wenig abhängen könnte. Das gelingt nämlich nur im seltenen Fall, in dem die Zahl der Kunden schneller wächst als die der Rechnungen, Bescheide und Formulare – und wie sollte das ohne Marketing gelingen?

So kommt man also nicht umhin, sich einen weltbewegenden Namen auszudenken. Die Kriterien dafür sind allerdings eng und machen die Namensfindung so schwer. Folgende Bedingungen muss ein geeigneter Name erfüllen:

  1. sowohl im internationalen Radebruch-Englisch als auch in den Sprachen der Unternehmensheimat keine negativen Assoziationen und peinlichen Missverständnisse auslösen
  2. noch frei zu sein – die riesige Fülle bereits geschützter Marken lässt sich für Europa etwa in der OHIM-Datenbank abfragen.
  3. über freie Internet-Domains zu verfügen – am einfachsten über domainsearch.com zu überprüfen. Heute kommt zusätzlich noch der Bedarf nach freien Kanälen in den sozialen Medien hinzu. Ein besonders hilfreiches Werkzeug, um solche zu finden, ist namevine.com.
  4. die richtige Kategorie im Kopf der Noch-Nicht-Kunden besetzen: also Vergleiche zu vermeiden, die man verlieren würde.
  5. etwas von USP (Unique Selling Proposition, wesentliches Verkaufsargument) und Kundennutzen transportieren – die am schwersten zu erfüllende Bedingung.

Gibt es solche Wunderwörter überhaupt? Es gibt sie, aber sie sind rar. Wer auf die erfolgreichen Marken unserer Zeit blickt, wird dabei ein wenig in die Irre geführt. Hat man den Erfolg einmal, ist der Name tatsächlich unwichtig. Der Name ist ein Instrument der Informationsökonomik, das heißt, es geht darum, die Informationskosten möglichst zu reduzieren. Es ist eben die Duftmarke, die den idealen Noch-Nicht-Kunden in einer knappen Sekunde die Nase ein wenig in Richtung unseres Produktes oder Unternehmens bewegen lässt. Der Name ist das erste „Molekül“, der erste Informationsfetzen, den der Noch-Nicht-Kunde sieht. Die meisten werden schon diese minimalste Existenzspur unseres Produkts oder Unternehmens niemals wittern. Aufmerksamkeit zu erzielen wird immer teurer. Darum müssen wir die minimale Aufmerksamkeit, die wir haben, optimal bewirtschaften.

Achtung: Das ist eine Dynamik, und Dynamiken überspannen meist an einem gewissen Moment. Dann stinkt es eben schon so, dass es zu den weniger intensiv Duftenden hinzieht. Die bemühte Hippness von Start-up-Namen, die aus dieser Informationsökonomik resultiert, wird schon langsam zum Spottsignal. Zahlreiche Start-up-Namensgeneratoren sind mehr Ironie als Hilfsmittel. Wirklich cool findet der Kunde nicht mehr die reine Hippness, sondern die hippe Wurschtigkeit, die oft Marketing mit konsumkritischer Pose verbinden kann. Das Anti-Marketing ist der nächste Hype im Marketing: bewusst stiller, schwieriger, rauer auftreten. Dann werden sogar deutsche Nachnamen wieder hipp. Das geht aber nur gut, wenn man die Aufmerksamkeit schon hat. Am besten wäre also ein Formwandler-Name: einer, der sich vom Anlock-ify zum Eigentlich-bin-ich-total-seriös-und-will-dir-gar-nichts-verkaufen verwandelt, sobald er mal die Aufmerksamkeit hat.

Marketing ist ein spannender und erschreckender Bereich. Für den unternehmerischen Philosophen ist er besonders fruchtbar, da sehr lehrreich. Exklusiv werde ich im Folgenden meinen persönlichen Lernprozess in Sachen Namenspsychologie schildern.


Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.

Filed Under: Scholien, Unternehmertum

Die Alpenphilosophie

Rahim Taghizadegan am 8. September 2015

Vor kurzem erschien ein sehr schönes Buch von uns, unter dem vielleicht überraschenden Titel „Die Alpenphilosophie„. Wir hatten dabei das Ziel, mit subtil-subversiver Philosophie (und reichlich ökonomischer Bodenständigkeit) das breitestmögliche Publikum zu erreichen. Es ist ein Buch, das Sie zugleich Großeltern und Enkelkindern schenken können, nicht nur Akademikern, sondern einfachen Menschen, die mitten im Leben stehen, für die wir in diesem Buch auch eine Lanze brechen.

Motiviert hat uns ein interessantes politisches Phänomen zu diesem Buch: Linke und Rechte sind ganz aus dem Häuschen. Trachten, Schunkelmusik und die Sehnsucht nach hausbackener Schlichtheit kehren zurück. In der Schweiz schwingen die Burschen mit neuer Begeisterung, in Österreich hält Andreas Gabalier die Zeitungsglossen am Glosen, und in München boomen die Trachtensupermärkte. Die Rechte freut sich über die Rückkehr von „Werten“, die Linke tobt über den versteckten „Faschismus”, der sich immer frecher an die Oberfläche traue.

Was, wenn es sich eigentlich gar nicht um ein politisches, sondern ein anti-politisches Phänomen handelt? Was erklärt den plötzlichen und rasanten Erfolg der Zeitschrift Servus, in deren Verlag auch unser Buch erscheint? Was läuft besser im Alpenraum? Verbirgt sich in versteckten Tälern noch Weisheit, die uns verloren gegangen ist? Gibt es in Politik, Ökonomik und Lebensphilosophie Ansätze, die Schweiz, Österreich, Süddeutschland und Liechtenstein verbinden und vom Rest Europas abheben? Wie viel ist trügerisches Idyll, Cliché, Touristennepp? Könnte in den Alpen ein Lebenskeim überdauern, der nach all der politischen und ökonomischen Zerstörung Hoffnung machen darf? Abseits von linker Verteufelung und rechter Verklärung, wollen wir eine ganz nüchterne Bestandsaufnahme der Geschichte, Denkweisen und Potentiale des Alpenraums versuchen.


Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.

Filed Under: Lebensphilosophie, Scholien

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