Seit Anbeginn des Wohlfahrtsstaates warnen Ökonomen vor Finanzierungsproblemen und einer Verschuldungsspirale. Warum konnten diese Argumente bislang nicht überzeugen? Für die meisten Menschen ist der Wohlfahrtsstaat eine anthropologische und moralische Notwendigkeit, daher beeindrucken ökonomische Argumente kaum. Der Mensch kommt als das lebensunfähigste Tier auf die Welt und erfährt von klein auf Abhängigkeit und Fürsorgeverantwortung. Als soziale Wesen empfinden wir instinktiv, dass es gelegentlich nötig ist, als Individuen materiell zurückzustecken, um das Überleben der Gruppe zu gewährleisten. Unser Hirn ist, wie schon Friedrich A. von Hayek erkannte, denkbar schlecht auf das Leben außerhalb einer engen Sippengemeinschaft ausgelegt. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Antwortversuch auf dieses unbewusst empfundene Dilemma in modernen, anonymen Gesellschaften. Hegel brachte diesen Zwiespalt am besten auf den Punkt, als er die Kernaufgabe des modernen Staates und damit des Wohlfahrtsstaates darin erkannte, eine Synthese zwischen Liebe und Freiheit zu bilden: das heißt, die Fürsorglichkeit der Sippe zu erfahren, ohne den Beschränkungen der Sippe ausgeliefert zu sein. So kommt es, dass der Wohlfahrtsstaat schon früh auch liberal begründet wurde: als Mindestmaß institutionalisierter Fürsorge, die erst die anonyme Freiheit einer großen Gesellschaft erlaube.
Es sind im Wesentlichen drei anthropologische Prämissen, die den Wohlfahrtsstaat als notwendiges Projekt erscheinen lassen, das grundsätzlich jeden Preis wert sein müsse – und damit über der Ökonomie stehe. Am Anfang steht die These, dass eine plötzliche Häufung von Not freiwillige Strukturen, die eher dezentral und gemeinschaftlich sind, überfordere. In der Neuzeit nehmen solche Häufungen durch die wachsende Tragweite politischer und ökonomischer Wechselfälle zu. An der Geburtsstunde des Wohlfahrtsstaates steht vielfach die politische Aufhebung der Klöster, der bis dahin größten Nothilfestrukturen jenseits der engen Sippenkontexte. Natürlich lässt sich hier einwenden, dass da wohl der Staat die Bedürftigkeit vielfach erst geschaffen hatte, mit der er seine spätere Fürsorge legitimierte. Doch das wird die wenigsten Menschen überzeugen: Das moralische Gebot, Menschen in Not in größtmöglichem Maße – und daher eben auch systematisch von Staats wegen – zu helfen, wird durch die gegensätzliche Bewertung politischer Ursachen nicht aufhoben.
Gemeinhin wird die exponentielle Erhöhung der Sozialausgaben als Indiz der sich rapide verschlechternden sozialen Lage vieler Menschen interpretiert. Von dieser Korrelation ausgehend läge es aber auch nahe, auf eine paradoxe Kausalität zu schließen. Könnte es sein, dass der Wohlfahrtsstaat selbst Bedürftigkeit produziert? Eine ökonomische Anreizanalyse motiviert dies, wie eine Anekdote aus Vietnam verdeutlicht: Um einer Rattenplage Herr zu werden, bot die Regierung Prämien für die Schwänze toter Ratten. Damit stieg aber der Wert von Ratten, die daraufhin von den Rattenfängern zwar ihres Schwanzes entledigt, aber tunlichst nicht an der Vermehrung gehindert, geschweige denn getötet wurden. Die Zahl der Ratten wuchs dadurch noch weiter an.
Ist es zynisch davon auszugehen, dass als Folge bedarfsabhängiger Förderung die Bedürftigkeit gezielt erhöht wird? Krankt die Ökonomie schlicht an einem negativen, allzu pessimistischen Menschenbild? Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein einseitig negatives Bild vom Menschen, sondern um ein realistisches: Der Mensch war schon immer von Natur aus darauf angewiesen, ein Opportunist zu sein. An Kraft oder Schnelligkeit können wir es mit den Tieren nicht aufnehmen. Der Mensch ist, wie sich an Naturvölkern noch zeigt, ein beobachtender, wartender und verfolgender Jäger, der den kleinsten Vorteil zu seinen Gunsten ausnutzen muss. Eine plausible These zur evolutionären Entwicklung unseres Gehirns geht noch weiter: Unser Intellekt könnte direkt an der Notwendigkeit gewachsen sein, Tiere und unsere Mitmenschen zu überlisten. Da unser Überleben darauf beruhte, kann man dies dem Menschen schwerlich anlasten.
So ist es naheliegend, dass bedarfsabhängige Sozialleistungen die Pauperisierung nicht mindern, sondern verstärken. Unter Pauperisierung versteht man nicht unmittelbar Verarmung, sondern die Überhandnahme eines Bettlerdaseins, welches vom Wohlstandsniveau gänzlich unabhängig und eher psychologischer Natur ist: hohe Zeitpräferenz, geringe Sparneigung, geringe Eigenverantwortung. Ayn Rand schilderte diese psychologische Dynamik besonders klar anhand der Umstellung der Entlohnung in einem fiktiven Unternehmen, nach der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen bezahlt werden sollte:
«Wissen Sie, was dieser Plan bewirkte und was er den Leuten antat? Versuchen Sie einmal, in einen Kessel Wasser zu schütten, aus dem ein Rohr das Wasser schneller abfließen lässt, als Sie es hineingießen können, und mit jedem Kübel Wasser wird das Rohr weiter, und je härter Sie arbeiten, desto mehr verlangt man von Ihnen […]. Es bedurfte einer einzigen Versammlung, um zu erkennen, dass wir zu Bettlern geworden waren – erbärmlichen, heulenden, winselnden Bettlern, jeder einzelne von uns, weil keiner seine Bezahlung als seinen rechtmäßigen Verdienst ansehen konnte, weil keiner Rechte oder Einkommen hatte, nicht ihm gehörte seine Arbeit, sondern der „Familie“, und die „Familie” schuldete ihm nichts dafür, und der einzige Anspruch, den er an sie stellen konnte, waren seine „Bedürfnisse”.»
Neben der Politik scheint in der Neuzeit auch die Ökonomie selbst die Häufung von Not zu verstärken. Es hat sich das Phänomen eines Konjunkturzyklus bemerkbar gemacht, das eine plötzliche, zyklische Häufung von Firmenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit mit sich bringt. Allerdings ist die Rezession eine Phase der Bereinigung und Aufdeckung nicht nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen; das eigentliche Unheil ist die Blasenwirtschaft, die davor Ressourcen verschwendet und gerade die Ärmsten in ein inflationäres Hamsterrad zwingt. Der Versuch einer bloßen Linderung der Rezessionsfolgen kann also die Korrektur künstlich hinausschieben und damit die Grundlage späterer, noch größerer Bedürftigkeit schaffen. Tatsächlich sind es eher die zentralistischen Fürsorgesysteme, die im Konjunkturzyklus an ihre Grenzen stoßen. Die These, dass die freiwilligen Strukturen mit der zyklischen Häufung von Not nicht fertig würden, trägt auch historisch nicht. Mangels fester Rechtsansprüche und dank persönlicher Beziehungen waren die friendly societies oder Gewerkvereine wesentlich flexibler. Sie verschwanden nicht, weil sie überfordert waren, sondern wurden im Moment ihrer größten Leistungsfähigkeit zwangsweise dem Staat einverleibt.
Die zweite anthropologische Prämisse des Wohlfahrtsstaates ist, dass nur dieser den Teufelskreislauf durchbrechen könne, dass arme und ungebildete Eltern wiederum arme und ungebildete Kinder haben – was auf alle Zeiten eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Klassen schaffe. Viele Liberale wurden im Namen einer Chancengleichheit zu Fürsprechern einer begrenzten Wohlfahrt. Nassau Senior etwa schrieb 1861:
«Wir können auf eine Zeit hoffen, in der der Arbeiterschaft die Bildung ihrer Kinder selbst anvertraut werden kann; doch kein protestantisches Land glaubt, dass diese Zeit schon angebrochen ist, und ich sehe keine Hoffnung, bis nicht Generation nach Generation besser ausgebildet wurde.»
Diese Perspektive überschätzt allerdings sowohl institutionalisierte Bildung als auch die Wirkung des Elternhauses. Zwillingsstudien zeigen, dass maximal zehn Prozent der Variation der Charaktereigenschaften und Lebenswege von Kindern durch das Elternhaus erklärt werden können. Diese beschränkte Prägung ist aber vermutlich wesentlich paradoxer und indirekter als die meisten glauben. Das reichste Prozent der USA begann im Schnitt mit 15 Jahren zu arbeiten – eine wichtigere Fördermaßnahme als Schule und elterliche Zuwendung? Wenn man den Lerneifer, Fleiß und die Leistungsbereitschaft von jungen Asiaten als Vergleich heranzieht, mag man in unseren Breiten eher Wohlstandsverwahrlosung denn materiellen Mangel im Elternhaus als Entwicklungshemmnis ansehen. Sollte der Wohlfahrtsstaat also, anstatt Kindergeld auszuzahlen, Verarmungsprämien bei der Geburt eines Kindes abziehen, um es vor einer gefährlich sorglosen Existenz zu bewahren?
Hinter der Logik des Wohlfahrtsstaates steckt im Kern ein Behaviorismus, wie ihn etwa John B. Watson formulierte:
«Gebt mir ein Dutzend gesunde, gut gebaute Kinder und meine eigene, spezifizierte Welt, um sie darin großzuziehen, und ich garantiere, dass ich irgendeines aufs Geratewohl herausnehme und es so erziehe, dass es irgendein beliebiger Spezialist wird, zu dem ich es erwählen könnte – Arzt, Jurist, Künstler, Kaufmann, ja sogar Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Talente, Neigungen, Absichten, Fähigkeiten und Herkunft seiner Vorfahren.»
Der Behaviorismus bildet in seiner auf das Materielle reduzierten Form auch die dritte anthropologische Prämisse des Wohlfahrtsstaates: nämlich, dass die Menschen durch ein schlechtes Umfeld schlechter würden und daher nur die möglichst schnelle materielle Verbesserung der Lebensverhältnisse kriminelles und asoziales Verhalten unterbinden kann. Den Grundgedanken dahinter formulierte Rousseau: der Mensch sei von Natur aus gut und nur durch die Verhältnisse korrumpiert.
Doch der materielle Aspekt ist hierbei der unwesentlichste. Das erkannte schon die sozialistische Sozialforscherin Marie Jahoda, die die Verhältnisse von Arbeitslosen untersuchte: Viel schwerwiegender als materieller Mangel wären das Fehlen einer Zeitstruktur, von sozialen Kontakten und einer gemeinsamen Aufgabe, die Identität stiften kann. Deshalb greifen alle realisierten Menschenverbesserungsversuche im Zuge einer Umfeldgestaltung tief in den Lebensalltag ein: ob die reducciones der Jesuiten, Klöster im Allgemeinen oder Resozialisierungsprogramme in Eingeborenenreservaten (siehe etwa die bezeichnende australische Devise der *„tough love“* nach schweren sozialen Problemen in davor rein wohlfahrtsstaatlich-materiell versorgten Siedlungen). In größerem Maßstab bleibt da von der Freiheit nichts übrig. So erstaunt es nicht, dass Totalitäre oft behavioristische Losungen bemühten: Mao meinte, auf leeren Blättern würden die schönsten Gedichte geschrieben, und die roten Khmer postulierten, nur Neugeborene seien unbefleckt. Die Folge ist im schlimmsten Fall Massenmord oder – unter „freiheitlicheren” Verhältnissen – ein indirekter Massenselbstmord. Tiere, die nicht artgerecht gehalten werden, hören auf, sich zu vermehren. Ähnlich scheint es beim Menschen zu sein: Versorgte Reservate neigen zu demographischen Schieflagen. Demnach könnte die demographische Falle weniger ein Zeichen von Wohlstand sein, wie gemeinhin angenommen, sondern eines der Pauperisierung – der Entmenschlichung des Menschen im Zuge einer „Stallfütterung”, wie es Wilhelm Röpke scharf ausdrückte.
Der Wohlfahrtsstaat ist im Gegensatz zu den sozialistischen Experimenten mit millionenfacher Todesfolge eine „permissive” Spielart des Behaviorismus, die sich selbst Freiheitlichkeit bescheinigt. Die Reduktion auf anonym-materielle Interventionen ist zwar für die Versorgten angenehmer, doch ihre Wirksamkeit muss bezweifelt werden. Strenger Paternalismus, der auf der These beruht, dass Politiker für ihre Untertanen bessere Entscheidungen treffen können als diese für sich, könnte immerhin theoretisch eine tatsächliche Verbesserung der Menschen in solchen Erwachsenenerziehungsanstalten erlauben (was praktisch unwahrscheinlich und selten den Freiheitsverlust wert ist). Permissiver Paternalismus hingegen wirkt anthropologisch notwendigerweise auf eine Verschlechterung der Menschen hin: Ein Beispiel dafür wäre, ein quängelndes Kind stets mit einem Bonbon abzuspeisen – was das Kind darauf konditioniert, nur durch die Anmeldung eines niederen Bedürfnisses Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erlangen. Der Hauptleidtragende einer solchen vermeintlich freiheitskompatiblen Abspeisung ist offensichtlich das Kind.
Demnach liegt die These nahe, dass die Hauptleidtragenden des Wohlfahrtsstaates dessen Klienten sind: die Unterschicht. Die Nutznießer sind gewisse Teile der Oberschicht, die die breite Bevölkerung mit Stillhalteprämien abspeisen können. Ohne Wohlfahrtsstaat wäre etwa die Bereicherung von wenigen im Zuge der inflationären Blasenwirtschaft der letzten Jahrzehnte politisch kaum tragbar gewesen. Doch die Logik der Stillhalteprämien hat einen wiederum anthropologischen Haken: Die zuteilende Klasse erwartet sich die Zuneigung ihrer Klienten, tatsächlich erntet sie langfristig Hass. Wie im Fall der permissiv-paternalistischen Fehlerziehung können die Zuteilungsempfänger ihr Selbstwertgefühl nur durch Herabsetzung der Zuteiler aufrechterhalten, was den wachsenden Hass der Unterschicht gegen den „therapeutischen” Staat erklärt, der bislang am sichtbarsten in französischen Vorstädten ausbrach. Wie bei allen Substituten muss bei Stillhalteprämien laufend die Dosis erhöht werden, da Gewöhnungseffekte eintreten. Allein aufgrund dieser anthropologisch-psychologischen Dynamiken ist der Wohlfahrtsstaat ein schwerer Angriff auf die Menschenwürde und nicht bloß eine ökonomische und politische, sondern vor allem eine anthropologische und moralische Katastrophe. Diesen in Frage zu stellen ist demnach nicht ein Ausfluss unsolidarischen Geizes, sondern die notwendige Folge einer Mitmenschlichkeit, die sich nicht an theoretischen oder ideologischen Modellmenschen orientiert, sondern auf einem realistischen Verständnis der menschlichen Natur beruht.
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag am Symposion „Mehr sozial, weniger Staat: Der europäische Wohlfahrtsstaat als Auslaufmodell?” des Schweizer Monats. Eine gekürzte Fassung erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.