Im Zuge der Bologna-Reform sind die Entscheidungsschwierigkeiten und Lücken in den Bildungslaufbahnen gewachsen: Schulabgänger fühlen sich durch die internationale Auswahl bei wachsenden Zweifeln am Herkömmlichen und dem Druck zu Zusatzqualifikationen bei Bildungs- und Karriereentscheidungen massiv überfordert, nach dem Bachelor-Abschluss nehmen die Wartezeiten und Zweifel vor Anschluss des Master-Programms zu, und nach dem Master sieht sich die „Generation Praktikum” erst recht zweifelnd und verzweifelnd. Daher steigt die Nachfrage nach sinnorientierten Freiwilligendiensten. Junge Menschen reagieren damit auf schwindende Einstiegsmöglichkeiten am Arbeitsmarkt und schwindende Möglichkeiten sinnorientiert-selbständiger Wertschöpfung.
In Großbritannien entstand die Tradition der Gap Years, bei denen Jugendliche oft ein Jahr in der Dritten Welt in Hilfsprojekten verbringen. Diese Idee setzt sich nun auch in den USA durch und gewinnt auch in Europa immer mehr Anhänger. Ist ein solches Sinn-Jahr nicht eine hervorragende Ergänzung zum Universitätstrott? Leider fällt eine Gesellschaft, die sich nach Sinn sehnt, allzu leicht auf Unsinn herein, auf wohlklingende Täuschungen. Gap Years und Freiwilligendienste können tatsächlich einmalige Erfahrungen sein, mit größerer Wichtigkeit für die Persönlichkeitsbildung als alle Zertifikate zusammen. Meist jedoch handelt es sich um teure Täuschungen, nämlich illusionäre Abenteuerurlaube. Ergänzungsprogramme dieser Art treten ja gerade unter der Prämisse an, jungen Menschen einen unbequemen Erkenntnisweg zu öffnen, der aus der Parallelwelt hinausführt, welche die von der Realität abgeschotteten schulischen Institutionen vermitteln. Oft verstärken solche Erfahrungen aber die Realitätsferne, anstatt sie zu verringern.
So wie das Universitätsstudium trotz (nicht wegen) der Institution eine wichtige Episode der Persönlichkeitsentwicklung sein kann, gilt das auch für Auslandsaufenthalte: Viele Jugendliche sind dabei erstmals fern der elterlichen Obsorge, müssen sich das erste Mal wirklich selbst durchschlagen, sich um ihre Unterkunft und Verpflegung kümmern und ihre Wäsche waschen. Je ferner der Kulturkreis, desto größer solche alltags-praktischen Herausforderungen. Dennoch wäre es dazu nicht nötig, an das andere Ende der Welt zu jetten – rein psychologisch fühlen sich die Eltern aber in diesem Fall freilich ferner an und die Verantwortung größer.
Die Hilfsausflüge von Kindern aus gutem Hause in ferne Weltgegenden sehen sich allerdings wachsendem Spott ausgesetzt. Die Erinnerungsfotos solcher Aufenthalte verdichteten sich in der Wahrnehmung durch das Mitteilungsbedürfnis dieser Jugendlichen in den „sozialen” Medien. Dabei ist das immer feinere Sensorium für politische Unkorrektheiten angesprungen: Eben noch Fotos vom Shaken und Chillen in der Timeline, und dann ein Selfie inmitten von kleinen Schwarzen. Direkt mit dem Jet von der coolen Party zum coolen Entwicklungshilfeprojekt. Ist das Rassismus? Kolonialismus? Die coolen Kinder verspottet freilich niemand. Die Uncoolen aber sahen ihren coolen Freiwilligendienst bald bissigem Spott ausgesetzt. So wie das Selfie mit den coolen Kids auf der Party fake wirkt, so wirkt auch das Selfie mit den coolen, unterernährten und barfüßigen, kleinen Stimmungsbomben in Afrika ungut.
Das Sensorium für Rassismus und Kolonialismus schlägt heute vielleicht allzu leicht aus, auch wenn gar keine böse Intention besteht, doch hier deutet es doch auf Widersprüche, die es in sich haben. Wie sinnvoll ist es, dass Jugendliche, die auf einer Party schon mal das Monatseinkommen von Menschen in unterentwickelten Ländern versaufen, dann zur Gewissensberuhigung Sinn durch Hilfsprojekte in ebendiesen Ländern suchen? Diese polemische Gegenüberstellung von Geldwerten meine ich allerdings ganz anders als gewohnt: Meist wird eine abstrakte Schuld aus solchen Beispielen abgeleitet. Tatsächlich geht es hier um Realitätsunterschiede, die mit Schuld relativ wenig zu tun haben. Es ist nicht sinnlos und dumm, Menschen am anderen Ende der Welt helfen zu wollen, obwohl oder weil man in ganz anderen Vermögensverhältnissen aufgewachsen ist. Die wesentlichere Frage ist: Kann man diesen Menschen als Jugendlicher aus gutem Haus auf dem Entwicklungshilfetrip überhaupt helfen? Eine gewisse Überheblichkeit scheint da schon implizit zu sein, ideologische Beobachter würden sie vielleicht „kolonialistisch” schimpfen, das trifft aber glatt daneben. Mit Rassismus und Kolonialismus hat die Sache nämlich gar nichts zu tun. Nur mit der Kluft zwischen Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung, die hinter den Neurosen der Generation Y steckt. Wenn diese Kluft nicht adressiert wird, wächst sie im Zuge eines solchen Gap Years noch, was die Neurose verstärkt, anstatt sie abzubauen.
Diese Neurosen sind anerzogen und angelernt. Einerseits neigen Eltern mit Sinnproblemen zu Projektionen, bei denen dem Kind zu viel Aufmerksamkeit zuteilwird. Dabei entstehen Prinzen und Prinzessinnen, denen die Eltern den Eindruck vermitteln, sie könnten alles, was sie wollten. Das führt später gleichzeitig zu Selbstüberschätzung und Entscheidungsüberforderung. Andererseits werden diese Neurosen in den Schulen verstärkt, in denen egalitäre Illusionen, massive Realitätsferne von Institution und Lehrkörper sowie wohlmeinende Kumpelhaftigkeit der Persönlichkeitsentwicklung nicht genügend Reibeflächen bieten.
Wenn ich europäische Jugendliche mit solchen, die ich im Nahen Osten, in Südostasien, in Lateinamerika und in Afrika kennengelernt habe, vergleiche, bemerke ich sehr deutlich jene unheilvolle Kombination von Selbstüberschätzung und Lähmung. Jugendliche in unterentwickelten Regionen wissen, dass ihnen eben nicht alles offen steht, darum haben sie aber auch mehr Leistungsbereitschaft und ein realistischeres Selbstbild, das mit mehr Demut einhergeht. Aus der reichen Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen aus aller Welt kann ich mir das Lachen nicht verkneifen, wenn westliche Jugendliche in unterentwickelte Länder reisen, um den Jugendlichen dort „zu helfen” oder gar „etwas beizubringen”. Was es in unterentwickelten Ländern braucht, ist die Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen. Das lernen die neugierigen und blitzgescheiten Kinder dort von klein auf. Irgendwann sterben dann allenfalls die Neugier und der Ehrgeiz, wenn die kleinen Versuche, aus nichts etwas zu machen, durch Krieg oder Plünderung immer wieder hintertrieben werden. Hört die Zerstörung und Plünderung einmal auf, ist die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung beeindruckend. Mit Geldmangel, Wissensmangel oder gar Intelligenzmangel hat das Ausbleiben dieser Dynamik relativ wenig zu tun.
Westliche Jugendliche wissen vor allem, wie man aus viel weniger macht. Aus nichts etwas machen müssen sie kaum jemals. Wenn man etwas will, braucht man nur Geld dafür. Die Gap Years sind in erster Linie Konsum. So wie die Erasmus-Semester während des Studiums. Zu diesen absurden Entwicklungshilfetrips gehören Abenteuerurlaube in Kuba, bei denen „antikapitalistische” Jugendliche aus dem Westen bei der Ernte im Agrarkollektiv „helfen”, Südseeatmosphäre mit einem kräftigen Schuss Rum genießen und dank der mitzubringenden Dollars auf keine Annehmlichkeiten verzichten müssen. Die Wertschöpfung bei der Erntearbeit ohne Erfahrung, mit kaum Sprachkenntnissen und bei wenigen Stunden physischer Leistungsfähigkeit im ungewohnten Klima steht in keiner Relation zum Reise-, Verpflegungs-, Unterkunfts- und Unterhaltungsaufwand.
Kuba ist hier nur ein Beispiel, das selbe Bild bietet sich bei Freiwilligendiensten in Afrika oder Lateinamerika. Unlängst wies mich ein Praktikant auf das Angebot hin, als WU-Student einen Freiwilligendienst in Südafrika zu machen. Unterkunft und Verpflegung in den Slums sind relativ günstig, nur die Reisekosten schlagen etwas zu Buche. Diese Studenten sollen dann vor Ort südafrikanische Kleinunternehmer beraten und ihnen betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse vermitteln. Das klingt nach einer guten Idee, ich musste aber sogleich lachen. Ich hatte viel sowohl mit WU-Studenten als auch südafrikanischen Kleinunternehmern in den dortigen Slums zu tun. Unter den ersteren gibt es zweifellos ganz brillante junge Leute, die intelligent und ehrgeizig sind. Unter den letzteren gibt es zweifellos viele Bildungsmängel. Und doch sehe ich kaum Überlappungen zwischen der WU-Betriebswirtschaftslehre und der Realität der südafrikanischen Schattenwirtschaft. Der Gedanke, dass ein durchschnittlicher WU-Student einem durchschnittlichen südafrikanischen Unternehmer irgendetwas von Wert vermitteln könnte, scheint mir völlig realitätsfremd. Hier geht es darum, mit viel etwas zu machen (meist weniger), also Budgets zu verwalten, Geldströme zu erfassen, Ausgabeposten zu argumentieren. Dort geht es eben darum, mit nichts etwas zu machen (nämlich mehr), also praktische Lebenskunst, Wendigkeit, Auskommen mit wenig bis nichts. Was bringt es, einen Geschäftsplan mit mehr Tabellen auszustatten, wenn die Bilanzsumme nahe null ist?
Eigentlich müsste der afrikanische, asiatische, lateinamerikanische Jugendliche in den Westen kommen, um dort Entwicklungshilfe zu leisten. Bei uns wird Kapital konsumiert, dort wird Kapital aufgebaut, sobald es nicht mehr politisch zerstört und geplündert wird. Kapitalkonsum kann nach viel Wissen, Kultiviertheit, Weltläufigkeit aussehen. Konsum ist auch an sich nichts Schlechtes. Man sollte ihn aber nicht für ein Entwicklungsmodell halten.
Sich ein Jahr Zeit zu nehmen vor einer Studien- und Berufswahl ist eine gute Idee. Doch mehr Zeit an sich verbessert nur sehr selten eine Entscheidung. Das wissen erfolgreiche Unternehmer, die rasch und damit oft intuitiv entscheiden. Zeit für Persönlichkeitsentwicklung ist sinnvoll, doch das ganze Leben ist diese Zeit – die Lernphase ist nie zu Ende. Da Schulen aber keine idealen Orte der Persönlichkeitsentwicklung sind und die Studienentscheidungen viel zu ernst genommen werden, fühlen sich viele junge Menschen überfordert – diese sind die besten. Diejenigen, die sich nicht überfordert fühlen, sind oft Mitläufer. Ein Gap Year zur Persönlichkeitsentwicklung muss viele Kontexte bieten und Perspektiven, muss viele Potentiale und Talente prüfen und muss vor allem an die Realität heranführen. Nicht unbedingt die Realität der Zeit, denn die ist schon passé, sondern die Realität der Welt, die über künftige Entwicklungen entscheidet. Die meisten Gap Years und Freiwilligendienste führen aber noch weiter von der Realität weg, sie verstärken die Illusion, dass für Sinn schon gute Intentionen ausreichen.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.