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Rahim Taghizadegan- Unternehmertum als Contrepreneurship (ef-Zukunftskonferenz 2019, Teil 12)

Rahim Taghizadegan am 15. Feber 2019

Rahim Taghizadegan: Zukunft des Unternehmertums – Contrepreneurship und Digitalisierung ef-Konferenz 2019 – Postsozialismus

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Filed Under: Unternehmertum, Vortrag

Freiheit bedeutet Verantwortung

Rahim Taghizadegan am 14. Feber 2019

Freiheit schreibt sich jedes politische Lager auf die Fahnen; Revolutionen und Kriege werden in ihrem Namen ausgefochten. Sie ist allgegenwärtig in Politikerreden, Parteiprogrammen, Verfassungen und Streitschriften. In Europa herrsche die historisch und global höchste je erreichte Freiheit vor – so sehen viele das edelste Erbe des Subkontinents. Ganz falsch kann das nicht sein, doch ein Begriff, der so viel Zuspruch und so wenig Widerspruch erfährt, mahnt zu Vorsicht. Ein Erbe ist schnell verschleudert, wenn es denjenigen zufällt, die es weder verstehen noch verdienen.

Freiheit kann man nämlich ganz gewaltig missverstehen: als kostenlosen Anspruch, den jedermann voraussetzungslos einlösen kann, wenn er ihn nur wütend genug einfordert. Realistischer ist es, Freiheit als eine Bürde aufzufassen: als das individuelle Schultern der existenziellen Ungewissheit, in die der Mensch geworfen ist. Die Freiheit, eigenen Zielen zu folgen, ist zugleich die Bürde, falsche Mittel wählen zu können und dafür die Konsequenzen zu tragen. Ein Leben in Freiheit ist notwendigerweise ein Leben in Eigenverantwortung.

Freiheit ist in dieser Hinsicht eine Disziplin, die Übung erfordert. Johann Wolfgang von Goethe hatte es so formuliert: «Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.» Noch härter ist die Formulierung von Friedrich Nietzsche: «Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann.»

Individuelle Freiheit setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Eigenverantwortung voraus und ist daher an die Erreichung einer gewissen Reife gebunden. Die Freiheit ohne Verantwortung hingegen ist eine Scheinfreiheit, die die alten Römer «licentia» nannten – im Gegensatz zur echten «libertas». «Licentia» bedeutet Kindisches: Ich kann tun und lassen, was ich will! «Libertas» bedeutet: Ich erfülle meine freiwillig eingegangene Pflicht. Diese Eigenverantwortung gestanden die Römer nur dem «pater familias» zu.

Kurzfristigkeit und Unsicherheit

Doch allein dadurch, alle zu Freien zu erklären, verschwindet die Sklavenmentalität leider nicht. Es war der österreichische Psychologe Viktor Frankl, der vor der Einseitigkeit der falschen Freiheit warnte. Deshalb missfiel ihm, dem Freund der persönlichen Freiheit und Gegner des Totalitarismus, jedes einseitige Preisen der Freiheit als «Grundrecht», das bedingungslos jedem zustehe. Er rief die Vereinigten Staaten dringlich dazu auf, analog zur Freiheitsstatue an der Ostküste doch eine Verantwortungsstatue an der Westküste zu errichten, um eine Schieflage zu vermeiden. Ist einer der Flügel lahm, bleibt der Freiheitstraum am Boden.

Eigenverantwortung bedeutet, selbst die Konsequenzen nicht nur der eigenen Verpflichtungen und Versprechen zu tragen, sondern auch der eigenen Fehler und Irrtümer. Sonst verkommt der Menschheitstraum zur Kindheitsfantasie der «sturmfreien» Bude, ohne Aufsicht, aber im Alles-inklusive-Paket elterlicher Ernährungs- und Reinigungskräfte. Eigenverantwortung kann nicht bloss bedeuten, Vater Staat in die Arme zu laufen, nachdem man dem leiblichen entwachsen ist.

Die missverstandene Freiheit gerät dann schnell unter Druck, wenn die geübte Verantwortungslosigkeit zur Verantwortungsunfähigkeit wird. Besonders zwei Entwicklungen nähren heute Forderungen, den Individuen immer mehr Freiheiten zu entziehen. Einerseits fallen als Folge steigender Kurzfristigkeit Fettleibigkeit, Süchte, Narzissmus auf. Andererseits wächst das Unsicherheitsgefühl, obwohl noch nie so viele Menschen in Frieden und Sicherheit lebten wie heute. Der Sicherheit sollen Privatsphäre und Bargeld geopfert werden, der Gesundheit Wahlfreiheit und Lust.

Die Kurzfristigkeit, auf der einen Seite, ist selbst Folge von Verantwortungslosigkeit: der konsequenten Abschirmung von Menschen vor den Konsequenzen ihres Handelns. Nicholas Nassim Taleb spricht davon, dass immer weniger Menschen «skin in the game» haben – dass sie leben, verwalten, entscheiden, regieren, ohne ihre eigene Haut zu riskieren. Weitere Entmündigung kann die Situation nur verschlimmern. Wenn sich Menschen über andere zu Erziehungsberechtigten aufschwingen, ohne für falsche Ratschläge, irrige Weisungen und übertriebene Verbote geradestehen zu müssen, wächst sowohl bei den Erziehern als auch den Erzogenen die Infantilität.

Das Unsicherheitsgefühl, auf der anderen Seite, wird genährt durch den Schock, dass abseits des Krieges, an den Zentren friedlicher Kooperation, inmitten der grössten Vertrauenskulturen, plötzlich Massaker hereinbrechen können. Die modernen Massaker, die Amokfahrten, das wahllose Abstechen, die Schulschiessereien, treffen die bürgerliche Kultur ins Herz. Sie sind sowohl Symptom als auch Beschleuniger des gesellschaftlichen Vertrauensverlusts. Wer dem Nächsten nicht mehr trauen kann, wird zur friedlichen Kooperation unfähig. Die Alternative zur Kooperation ist allerdings noch mehr Gewalt – das Überwachen, Beschränken, Ausschalten des Nächsten, der nur mehr im furchteinflössenden Sinne nah ist, nämlich zu nah.

Wir sind es gewohnt, unter grossen Massen von Fremden zu leben. Dieses Nebeneinander ist von Vertrauen und friedlicher Kooperation geprägt. Das ist allerdings keineswegs selbstverständlich, vielmehr ein modernes Wunder. Das besonders dicht besiedelte Westeuropa war Vorläufer dieser freien Kooperation in grossem Stil. Etwas weniger frei, dafür umso dichter wurde schon früher in Fernost kooperiert. In der Geschichte hatte es davor nur Zwangskooperation im grossen Verband oder eben das Miteinander in der kleinen Sippe oder Horde gegeben. Mit der Verdichtung in den urbanen Kooperationszentren ging eine Verbürgerlichung der Menschen einher. Während der Adel noch länger Waffen trug, Duelle focht und Fehdehandschuhe um sich warf, trug der Bürger Werkzeug, flocht Verträge und mehrte Wohlstand. Dafür wurde er viel geschmäht.

Infantilisierung nimmt zu

Wo der Bürger kooperiert, benötigt er im Inneren keine Gewalt und kann in Freiheit leben. Doch diese bürgerliche Kooperation entwickelte sich hinter Stadtmauern. Vorbild der bürgerlichen Selbstverwaltung ist die Miliz. Letztere ist auch der Ursprung der Demokratie in diesem meist positiven, aber sehr beschränkten Sinne. Die modernen Illusionen der totalen Demokratie, der totalen Gleichheit und der voraussetzungslosen Freiheit untergraben die Bürgerdisziplin und erweisen sich als völlig unfähig und ohnmächtig angesichts des Vertrauensverlusts und der blutigen Entbürgerlichung. Bürger kommen ohne Herrscher, ohne Zwangsjacken, ohne innere Gewalt aus, weil sie zur Verantwortung fähig sind, für ihre Freiheit gemeinsam Opfer bringen, die Form wahren und die Grenze respektieren.

Die totalitäre Gleichheitsdoktrin kann nur allen oder niemandem Freiheit gewähren. Da sich nicht jeder der Disziplin der Freiheit würdig erweist, bleibt nur der Weg, allen die Freiheit zu nehmen. Vermeintlich zum Schutz der Freiheit wächst in der freiesten aller möglichen Welten wieder die Entmündigung. Der Bürger wird aber nicht dadurch sicherer, dass man ihm das Küchenmesser abnimmt. Er wird zum Kind.

Wenn sich selbsternannte Erziehungsberechtigte schon davon verabschieden, alle Menschen als freiheitsfähig anzusehen, dann sollten sie zumindest so gnädig sein, es Einzelnen zu erlauben, sich des Bürgertums wieder würdig zu erweisen. Dürfte man sich das Recht auf spitze Messer, schnelle Autos, eigene Risiken und all die anderen Zeichen der Erwachsenenreife zumindest verdienen? Dürfte man volle Haftung vorziehen und auf Bail-outs, Schutzgesetze und die staatliche Übernahme von Bürgschaften verzichten? Dann wäre die neue Entmündigung zumindest nicht so hoffnungslos.

Zuerst erschienen in Finanz & Wirtschaft

Filed Under: Lebensphilosophie, Scholien

Nahrung

Rahim Taghizadegan am 12. Dezember 2018

Der moderne Gesundheits- und Körperkult rückt die Ernährung ins Bewusstsein. Immer neue Diäten wetteifern um Anhänger. Studien widersprechen sich, Ernährungspyramiden kippen. Zugleich wird Ernährung zum Ausdruck eines Lebensstils und von Ideologie. Fleischfressende Paläo-Anhänger stoßen auf den Widerstand fanatischer Veganer. Sind Jagd und Fleischwirtschaft ein moralisches Dilemma? Wie sieht die Zukunft der Ernährung aus – künstlich? Fast food vs. functional food? Ist die Überfettung ein Problem? Was dagegen tun? Wem kann man noch glauben?



Unser Salon erweckt eine alte Wiener Tradition zu neuem Leben: Wie im Wien der Jahrhundertwende widmen wir uns gesellschaftlichen, philosophischen und wirtschaftlichen Themen ohne Denkverbote, politische Abhängigkeiten und Ideologien, Sonderinteressen und Schablonen. Dieser Salon soll ein erfrischender Gegenentwurf zum vorherrschenden Diskurs sein. Wir besinnen uns dabei auf das Beste der Wiener Salontradition. Ein spannender und tiefgehender Input, meist im Dialog, bringt Ihren Geist auf Hochtouren, worauf dann eine intensive Diskussion in intimer Atmosphäre folgt.

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Filed Under: Lebensphilosophie, Salon

Ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile? Über die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen

Rahim Taghizadegan am 13. November 2018

Der methodologische Individualismus der Wiener Schule der Ökonomik ist leicht misszuverstehen und fügt sich dann in einen der falschen Gegensätze unserer Zeit: das Soziale gegen das Individuum. Tatsächlich ging es Carl Menger darum, soziale Phänomene als emergente Ordnungen zu verstehen. Damit war er einer der Pioniere des Studiums komplexer Systeme. Die Implikationen dieses Ansatzes werden erst heute langsam verständlich.

Der erste Irrtum ist, den methodologischen Individualismus für einen normativen zu halten: für die moralische Höherstellung des Einzelnen und des Vereinzelten gegenüber den Beziehungen und der Gesellschaft. Manchmal ist diese Werthaltung als Gegengewicht zu all den überfrachteten Gemeinwohlphrasen nötig. Bernard de Mandeville hatte bereits in seiner „Bienenfabel" erkannt: Der Allerschlechteste sogar für das Gemeinwohl tätig war! Damit meinte er, dass Intentionen, Phrasen und Ergebnisse selten zusammenpassen. Am meisten Gemeinwohlgeschwurbel ist von Zynikern und Naiven zu erwarten, solchen, die ihre schlechten Intentionen maskieren, und solchen, deren Handeln kaum jemals gute Ergebnisse zeigt, weil es der Realität widerspricht. Doch abgesehen von der allgegenwärtigen Pseudomoral des „virtue signaling", der falschen Tugendsignale, ist die freiwillige Kooperation und Beziehung von Menschen höher zu bewerten als die Autarkie, denn letztere würde das menschliche Potenzial auf tiefstem Niveau verkümmern lassen. Bei aller Wertneutralität findet sich eher diese Werthaltung bei den meisten Vertretern der Wiener Schule; sogar Ludwig von Mises appelliert normativ überwiegend zugunsten des Erhalts des sozialen Kontextes der arbeitsteiligen Gesellschaft und nicht zugunsten des gesellschaftsfeindlichen Einzelgängers.

Der zweite Irrtum ist, die Robinson-Crusoe-Ökonomie, die aus didaktischen Gründen am Anfang vieler ökonomischer Darstellungen steht, für eine Blaupause der Gesellschaft zu halten. Sie ist der Anfangspunkt, eben das „In-dividuum" – das unteilbare Element der ökonomischen Analyse. Der methodologische Individualismus konzentriert sich auf die Interaktionen zwischen Individuen. Die Wahrnehmung dieser kleinteiligeren Elemente einer Gesellschaft führt zum Erkennen von Vielfalt und Komplexität. Die historizistischen Kritiker der Wiener Schule erlagen diesen Irrtümern. Sie hielten den methodologischen Individualismus für einen Atomismus, der simplifiziert. Tatsächlich handelt es sich um eine organische Betrachtungsweise: Das Individuum ist eben nicht totes, homogenes Atom, sondern lebendiger Organismus, der eine Vielzahl unterschiedlicher Beziehungen zu anderen Organismen eingehen kann. Wirklich atomistisch sind der Kollektivismus der Historischen Schule und des Sozialismus. Anthropologen hatten in der Sowjetunion mit Erstaunen einen „homo sovieticus" entdeckt – der Inbegriff des atomisierten Einzelnen ohne soziale Bindung. Ein ähnlich unsozialer Typus findet sich in China nach der maoistischen Kulturrevolution. Nicht nur politisch zerstört der Kollektivismus die Gesellschaft. Auch methodologisch führt er zu atomistischen Ergebnissen. Erst die moderne Physik machte das verständlich.

Bis heute hält sich der Trugschluss, Gesellschaften müssten als große Aggregate statistisch betrachtet werden, um ihrer Komplexität Rechnung zu tragen. Nur die Totale, die makroskopische, makroökonomische und weltpolitische Betrachtung könne die Irrtümer individualistischer Betrachtung auflösen. Diese Perspektive entspricht einer naiven Umlegung der frühen Erkenntnisse der Thermodynamik auf die Gesellschaft, ohne ihre jüngeren Erkenntnisse erkannt und verstanden zu haben.

Bei sehr simplen Systemen, die aus gleichartigen Teilchen aufgebaut sind, mittelt sich in der Tat die mikroskopische Ebene statistisch aus, so dass das System über makroskopische Größen wie Druck und Temperatur hinreichend gut beschrieben werden kann. Solche simplen Systeme nennt man „ergodisch". Ergodizität bedeutet, dass ein Teilchen im Laufe der Zeit den gesamten Raum durchschreiten kann (genauer: den gesamten Phasenraum möglicher Zustände) oder eine Stelle des Raums im Laufe der Zeit von jedem Teilchen passiert wird. Es ist also irrelevant, ob man ein Teilchen die ganze Zeit beobachtet oder den gesamten Raum eine kurze Zeit: man kann vom Einzelnen auf das Ganze extrapolieren. Kollektive Phänomene dieser atomistischen Art sind weniger komplex als das Einzelelement.

Menschliche Gesellschaften sind nicht ergodisch. Ihr Komplexitätsgrad liegt noch über den komplexen nicht ergodischen Systemen der Naturwissenschaft, wie etwa turbulenten Strömungen. Komplexität entsteht durch die Unabhängigkeit und Vielfalt der konstituierenden Elemente eines Systems. Friedrich August von Hayek hatte das in seiner wegweisenden „Theorie komplexer Systeme" bereits erkannt, als das naturwissenschaftliche Verständnis dieser Strukturen noch in den Kinderschuhen stand, und dabei die Einsichten von Carl Menger vertieft.

Individuen bringen dank ihrer Beziehungs- und Kooperationsfähigkeit Gemeinschaften und Gesellschaften hervor. Diese Fähigkeit ist zentral, doch Komplexität gebiert sie erst durch die Möglichkeit, sich der Kooperation zu enthalten und die Beziehung abzubrechen. Die Kollektivisten wünschen sich das kohärente Ziehen an einem Strang. Solche künstlich organisierten Gesellschaften sind jedoch atomistisch und fragil, da ihre Komplexität niedriger wird als die des Einzelnen: Die Masse ist dümmer als der Einzelne. Die „Weisheit der Masse" tritt nur dann auf, wenn sie emergentes Phänomen der Weisheiten, Irrtümer, Heuristiken und Versuche der Einzelnen ist.

Nur die Perspektive auf die vielfältigen und unterschiedlichen Beziehungen zwischen einzelnen Menschen erkennt das wahrhaft Soziale. So überrascht es nicht, dass Menger und Mises ihre Disziplin lieber „Soziologie" genannt hätten. Leider wurde der Begriff von asozialen Kollektivisten gekapert, die mit Statistiken und Fragebögen die atomistischen Teilchen herausfangen, von denen sie auf ihre ideologischen Wunschbilder extrapolieren können.

Filed Under: Austrian School, Scholien

Das große Übel der Politik der kleineren Übel

Rahim Taghizadegan am 7. November 2018

Erdoğans Wahlsieg trotz dramatischer Wirtschaftslage und Geldentwertung mag erstaunen. Ist es die Sehnsucht der Türken nach einem Führer? „Reis" – Führer – hieß schon der letztes Jahr erschienene Propagandafilm zu den Anfängen der Karriere Erdoğans. Doch diese Karriere ist weniger Führungserfolg als ein Lehrstück über die ernüchternden Wendungen der Politik. Erdoğan ist kein Fossil osmanischer Vergangenheit, sondern hat dem modernen Westen mehr zu verdanken, als ihm lieb ist.

Die moderne Türkei entstand als bewusster Bruch mit dem Osmanischen Reich. Mustafa Kemal, als „Atatürk" zum Vater seiner kindlichen Untertanen erklärt, war über den wirtschaftlichen und technischen Rückstand der Türken erbost. Schuld daran, so seine Analyse, sei der Islam gewesen. Es gebe zwar viele Kulturen, aber nur eine Zivilisation: die europäisch-christliche! Diese imitierte Kemal auch äußerlich, indem er Fez und Kopftuch aus dem Straßenbild verbannte. Seine Aussagen über den Islam würden im heutigen Deutschland als Hetze gerichtlich verurteilt werden.

Leider imitierte Kemal, wie viele andere, den Westen zu einer Zeit, als die Basis des höheren Wohlstands und der höheren Innovationskraft in der Tiefe unsichtbaren kulturellen Kapitals unter den oberflächlichen Anhäufungen modernen Unsinns versunken war. Kemal kopierte Parteienherrschaft, Populismus, Laizismus, Interventionismus, Etatismus und Nationalismus als sechs Säulen seines Kemalismus. Das Resultat war eine militaristische Bürokratie, welche die Menschen durch hysterische Nationalpropaganda und Schulzwang gefügig hielt.

Durch Zentralisierung, Geldschöpfung und totalitäre Modernisierung wuchs der Gegensatz zwischen Stadt und Land. So ließen sich überzählige Männer aus dem hintersten Anatolien gerne in Deutschland und Österreich als „Gastarbeiter" anwerben. Sie blieben als Zuwanderer, denn zunächst waren die Gehälter gut und später die Sozialleistungen. Doch der Kulturschock war allzu groß. Immerhin waren sie Modernisierungsflüchtlinge. Da die Zuwanderer fast ausschließlich aus der Unterschicht kamen, konnten sie als Ausländer nach dem Niedergang der osmanischen Identität nicht Kraft im aufgeblähten modernen Türkentum finden. Sie fühlten sich in Deutschland und Österreich als Verlierer.

Paradoxerweise entdeckten die Zuwanderer als Reaktion auf das Identitätsvakuum, besonders in der zweiten und dritten Generation, den Islam. Die westlichen Zuwanderer wurden so mit ihrem relativen Wohlstand zu einer wesentlichen Basis der Reislamisierung der Türkei. Auch heute erfährt Erdoğan in Deutschland und Österreich bei Türken mehr Zustimmung als daheim, die Deutschtürken sind seine Kernwählerschicht.

Anfangs war Erdoğan, was viele inzwischen vergessen haben, allerdings auch Hoffnungsträger liberaler und unternehmerischer Kräfte in der Türkei. Die Herrschaft der Kemalisten, die zum Militärputsch griffen, sobald die Wahlergebnisse nicht gefielen, war drückend. Als einzige mehrheitsfähige Alternative kamen konservative Kräfte infrage, die in der Türkei freilich islamisch sind. Erdoğan gab sich als moderater Reformer, der mehr Freiheit bringen würde. Neben der wachsenden Unterschicht vertrauten ihm auch städtische Gewerbetreibende und gebildete Frauen.

Ein wichtiger symbolpolitischer Sieg hatte die Ablösung der Kemalisten begleitet – und es war ausgerechnet ein Sieg im Namen der Freiheit. Zum Studium in die Städte zugewanderte junge Frauen stießen sich am strengen Kopftuchverbot. Wahrscheinlich ohnehin schon unter Druck ihrer traditionellen Familien, wollten sie nicht als Flittchen angesehen werden und hätten gerne den modernen „Look" vermieden. Die Triebfeder ihres Begehrs war keine eigentlich religiöse. Ein offener Brief fand viel Zustimmung und viele Unterschriften. Darin forderten gebildete junge Türkinnen, die Karriere machen wollten, die Freiheit von staatlichen Kleidungsvorschriften. Das Kopftuchverbot sei einfach nicht mehr zeitgemäß.

Türkische Unternehmer hofften auf Befreiung von der nepotistischen Bürokratie, die planwirtschaftlich agierte. Erdoğan verkaufte sich als Kandidat der Öffnung der Türkei. Nach seinem ersten Wahlsieg stiegen die türkischen Börsenkurse dramatisch an. Er senkte die Inflation, verhandelte mit der EU und den Kurden. Der aggressive türkische Nationalismus wurde scheinbar gegen einen offenen und moderaten Islam getauscht. Die meisten Unternehmer hätten damit ganz gut leben können. Die aus dem Boden schießenden Moscheen störten nicht und bedeuteten neue Bauaufträge. Der politische Realismus hatte gesiegt, eine mehrheitsfähige Alternative zum Kemalismus war gefunden.

Der Islam als neue Basis nationaler Einheit schien auch ein Ende des Kurdenkonflikts zu erlauben, immerhin sind die meisten Kurden sunnitische Muslime. Erdoğan gewährte die Nutzung der kurdischen Sprache, sogar zwangsweise turkifizierte Ortsnamen wurden durch die älteren kurdischen ersetzt.

Warum dann der plötzliche Kurswandel? Der Türkei blieb die Aufnahme in die EU verwehrt. Der türkische Boom führte durch die globale Kreditblase zu weiterer Verzerrung. Der virulente Nationalismus schwand nicht, sondern suchte bloß ein neues Gefäß. Jeder Zentralstaat erfordert Einheit. Erdoğan hatte zwar dem Panturkismus abgeschworen, fand aber eine neue einende Erzählung im Neoosmanismus. Die in ihn gesetzten Hoffnungen, die breite Mehrheitszustimmung, die Größe der Türkei und der kreditgetriebene Wirtschaftsboom waren ihm zu Kopf gestiegen. Das ist das typische Muster des Etatismus: Jede positive Entwicklung wird dem Staat zugeschrieben, jede negative dessen Feinden. Als die Blase zu platzen begann, der Traum vom Befreier an der Macht, vom steuernden Wirtschaftsförderer, begann die Suche nach den Feinden. Am Ende bleibt der Staat das Gewaltmonopol, das sich durch ein Sinn- und Identitätsmonopol legitimieren muss.

Die Verfolgung Andersdenkender und die Erhebung über das Recht sind eher konsequente Entwicklung als überraschender Wandel. Das ist der Preis der Realpolitik, die auf Mehrheiten schielt, anstatt die kleinste Minderheit zu achten: das Individuum.

Filed Under: Geopolitik, Scholien

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