Freiheit schreibt sich jedes politische Lager auf die Fahnen; Revolutionen und Kriege werden in ihrem Namen ausgefochten. Sie ist allgegenwärtig in Politikerreden, Parteiprogrammen, Verfassungen und Streitschriften. In Europa herrsche die historisch und global höchste je erreichte Freiheit vor – so sehen viele das edelste Erbe des Subkontinents. Ganz falsch kann das nicht sein, doch ein Begriff, der so viel Zuspruch und so wenig Widerspruch erfährt, mahnt zu Vorsicht. Ein Erbe ist schnell verschleudert, wenn es denjenigen zufällt, die es weder verstehen noch verdienen.
Freiheit kann man nämlich ganz gewaltig missverstehen: als kostenlosen Anspruch, den jedermann voraussetzungslos einlösen kann, wenn er ihn nur wütend genug einfordert. Realistischer ist es, Freiheit als eine Bürde aufzufassen: als das individuelle Schultern der existenziellen Ungewissheit, in die der Mensch geworfen ist. Die Freiheit, eigenen Zielen zu folgen, ist zugleich die Bürde, falsche Mittel wählen zu können und dafür die Konsequenzen zu tragen. Ein Leben in Freiheit ist notwendigerweise ein Leben in Eigenverantwortung.
Freiheit ist in dieser Hinsicht eine Disziplin, die Übung erfordert. Johann Wolfgang von Goethe hatte es so formuliert: «Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.» Noch härter ist die Formulierung von Friedrich Nietzsche: «Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann.»
Individuelle Freiheit setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Eigenverantwortung voraus und ist daher an die Erreichung einer gewissen Reife gebunden. Die Freiheit ohne Verantwortung hingegen ist eine Scheinfreiheit, die die alten Römer «licentia» nannten – im Gegensatz zur echten «libertas». «Licentia» bedeutet Kindisches: Ich kann tun und lassen, was ich will! «Libertas» bedeutet: Ich erfülle meine freiwillig eingegangene Pflicht. Diese Eigenverantwortung gestanden die Römer nur dem «pater familias» zu.
Kurzfristigkeit und Unsicherheit
Doch allein dadurch, alle zu Freien zu erklären, verschwindet die Sklavenmentalität leider nicht. Es war der österreichische Psychologe Viktor Frankl, der vor der Einseitigkeit der falschen Freiheit warnte. Deshalb missfiel ihm, dem Freund der persönlichen Freiheit und Gegner des Totalitarismus, jedes einseitige Preisen der Freiheit als «Grundrecht», das bedingungslos jedem zustehe. Er rief die Vereinigten Staaten dringlich dazu auf, analog zur Freiheitsstatue an der Ostküste doch eine Verantwortungsstatue an der Westküste zu errichten, um eine Schieflage zu vermeiden. Ist einer der Flügel lahm, bleibt der Freiheitstraum am Boden.
Eigenverantwortung bedeutet, selbst die Konsequenzen nicht nur der eigenen Verpflichtungen und Versprechen zu tragen, sondern auch der eigenen Fehler und Irrtümer. Sonst verkommt der Menschheitstraum zur Kindheitsfantasie der «sturmfreien» Bude, ohne Aufsicht, aber im Alles-inklusive-Paket elterlicher Ernährungs- und Reinigungskräfte. Eigenverantwortung kann nicht bloss bedeuten, Vater Staat in die Arme zu laufen, nachdem man dem leiblichen entwachsen ist.
Die missverstandene Freiheit gerät dann schnell unter Druck, wenn die geübte Verantwortungslosigkeit zur Verantwortungsunfähigkeit wird. Besonders zwei Entwicklungen nähren heute Forderungen, den Individuen immer mehr Freiheiten zu entziehen. Einerseits fallen als Folge steigender Kurzfristigkeit Fettleibigkeit, Süchte, Narzissmus auf. Andererseits wächst das Unsicherheitsgefühl, obwohl noch nie so viele Menschen in Frieden und Sicherheit lebten wie heute. Der Sicherheit sollen Privatsphäre und Bargeld geopfert werden, der Gesundheit Wahlfreiheit und Lust.
Die Kurzfristigkeit, auf der einen Seite, ist selbst Folge von Verantwortungslosigkeit: der konsequenten Abschirmung von Menschen vor den Konsequenzen ihres Handelns. Nicholas Nassim Taleb spricht davon, dass immer weniger Menschen «skin in the game» haben – dass sie leben, verwalten, entscheiden, regieren, ohne ihre eigene Haut zu riskieren. Weitere Entmündigung kann die Situation nur verschlimmern. Wenn sich Menschen über andere zu Erziehungsberechtigten aufschwingen, ohne für falsche Ratschläge, irrige Weisungen und übertriebene Verbote geradestehen zu müssen, wächst sowohl bei den Erziehern als auch den Erzogenen die Infantilität.
Das Unsicherheitsgefühl, auf der anderen Seite, wird genährt durch den Schock, dass abseits des Krieges, an den Zentren friedlicher Kooperation, inmitten der grössten Vertrauenskulturen, plötzlich Massaker hereinbrechen können. Die modernen Massaker, die Amokfahrten, das wahllose Abstechen, die Schulschiessereien, treffen die bürgerliche Kultur ins Herz. Sie sind sowohl Symptom als auch Beschleuniger des gesellschaftlichen Vertrauensverlusts. Wer dem Nächsten nicht mehr trauen kann, wird zur friedlichen Kooperation unfähig. Die Alternative zur Kooperation ist allerdings noch mehr Gewalt – das Überwachen, Beschränken, Ausschalten des Nächsten, der nur mehr im furchteinflössenden Sinne nah ist, nämlich zu nah.
Wir sind es gewohnt, unter grossen Massen von Fremden zu leben. Dieses Nebeneinander ist von Vertrauen und friedlicher Kooperation geprägt. Das ist allerdings keineswegs selbstverständlich, vielmehr ein modernes Wunder. Das besonders dicht besiedelte Westeuropa war Vorläufer dieser freien Kooperation in grossem Stil. Etwas weniger frei, dafür umso dichter wurde schon früher in Fernost kooperiert. In der Geschichte hatte es davor nur Zwangskooperation im grossen Verband oder eben das Miteinander in der kleinen Sippe oder Horde gegeben. Mit der Verdichtung in den urbanen Kooperationszentren ging eine Verbürgerlichung der Menschen einher. Während der Adel noch länger Waffen trug, Duelle focht und Fehdehandschuhe um sich warf, trug der Bürger Werkzeug, flocht Verträge und mehrte Wohlstand. Dafür wurde er viel geschmäht.
Infantilisierung nimmt zu
Wo der Bürger kooperiert, benötigt er im Inneren keine Gewalt und kann in Freiheit leben. Doch diese bürgerliche Kooperation entwickelte sich hinter Stadtmauern. Vorbild der bürgerlichen Selbstverwaltung ist die Miliz. Letztere ist auch der Ursprung der Demokratie in diesem meist positiven, aber sehr beschränkten Sinne. Die modernen Illusionen der totalen Demokratie, der totalen Gleichheit und der voraussetzungslosen Freiheit untergraben die Bürgerdisziplin und erweisen sich als völlig unfähig und ohnmächtig angesichts des Vertrauensverlusts und der blutigen Entbürgerlichung. Bürger kommen ohne Herrscher, ohne Zwangsjacken, ohne innere Gewalt aus, weil sie zur Verantwortung fähig sind, für ihre Freiheit gemeinsam Opfer bringen, die Form wahren und die Grenze respektieren.
Die totalitäre Gleichheitsdoktrin kann nur allen oder niemandem Freiheit gewähren. Da sich nicht jeder der Disziplin der Freiheit würdig erweist, bleibt nur der Weg, allen die Freiheit zu nehmen. Vermeintlich zum Schutz der Freiheit wächst in der freiesten aller möglichen Welten wieder die Entmündigung. Der Bürger wird aber nicht dadurch sicherer, dass man ihm das Küchenmesser abnimmt. Er wird zum Kind.
Wenn sich selbsternannte Erziehungsberechtigte schon davon verabschieden, alle Menschen als freiheitsfähig anzusehen, dann sollten sie zumindest so gnädig sein, es Einzelnen zu erlauben, sich des Bürgertums wieder würdig zu erweisen. Dürfte man sich das Recht auf spitze Messer, schnelle Autos, eigene Risiken und all die anderen Zeichen der Erwachsenenreife zumindest verdienen? Dürfte man volle Haftung vorziehen und auf Bail-outs, Schutzgesetze und die staatliche Übernahme von Bürgschaften verzichten? Dann wäre die neue Entmündigung zumindest nicht so hoffnungslos.
Zuerst erschienen in Finanz & Wirtschaft