Christine Lagarde stellte sich unlängst in Frankfurt den Fragen deutscher Studenten. Im Gegensatz zum Internet, wo ihr „Hass“ entgegenschlage, war das ein Format nach ihrem Geschmack. Im Scheinwerferlicht
Scholien
Bürger an die Waffen?
In Westeuropa verstört viele der Gedanke einer Bewaffnung von Bürgern. Da bisher die staatlichen Organe in der Lage schienen, Sicherheit und Ordnung zu garantieren, scheint breitere Bewaffnung unnötig – und daher gefährlich. Denn das Waffentragen ohne Not gilt als verdächtige Präferenz, die man nur den Schlechtesten zutraut. All diese Annahmen sind falsch, haben aber gute Gründe.
Der Gedanke einer Miliz, also von Bürgerverbänden zur Abwehr äußerer Bedrohungen, ist allenfalls noch in eine „Wehrpflicht“ umgeformt. Dabei handelt es sich um einen Dienstzwang, der dem ursprünglichen Milizprinzip widerspricht. Im alten Griechenland war der gemeinsame Entscheid der Bürger über Krieg und Frieden Grundlage ihrer „Demokratie“, wer hingegen auf Anweisung von oben Dienst zu leisten hatte, galt als Staatssklave – das glatte Gegenteil eines Bürgers.
Durch die Entwicklung moderner Waffen, die im Gegensatz zu Trireme und Phalanx vermeintlich nicht mehr durch freiwillige Beiträge zu produzieren und durch gleiches Zutun zu steuern seien, sondern militärisch-industrielle Konzentration erfordern, ersetzte die Berufsarmee das Milizprinzip. Ist diese Berufsgruppe unter Aufsicht eines Staatsapparats, dem die Bürger vertrauen und von dem für sie keinerlei Gefahr ausgeht, so wird hier ein vernünftiger Spezialisierungsschritt angenommen.
Das hohe Vertrauen in die Institutionen ist gewiss Symptom oft günstiger Charakterzüge und kultureller Errungenschaften. Gerade in Deutschland allein dem Staat zu vertrauen, überrascht jedoch aus historischer Perspektive. Die Entwaffnung der Juden in Nazi-Deutschland wurde immerhin systematisch vor ihrer Vernichtung betrieben. Der Staat, der sich innerhalb kurzer Zeit vom Beschützer zum Todfeind gewandelt hatte, nutzte dabei das in der Weimarer Republik aufgebaute Waffenregister.
Hier zeigt sich, dass das „Nie wieder“ in Teilen auch immer Verdrängen ist. Die große Ablehnung gegenüber Waffen in Bürgerhand ist auch ein Nichtwahrhabenwollen. Bürgerbewaffnung bei Waffenkonzentration in Behördenhänden ist immerhin Symptom einer Hochvertrauenskultur, die eine weitere Verbreitung bürgerlicher Zweifel an den Institutionen kaum überleben würde. Damit ist die Bürgerentwaffnung leider Teil der kulturellen Identität. Eine umgekehrte Identität, die amerikanische Waffenkultur, verstört da natürlich. Die US-Begeisterung für Waffenmessen ist eine Subkultur, die von kommerziellen Interessen angetrieben wird. Doch das Bild des souveränen Pioniers ist ursprünglich europäisch. Es handelt sich um eine bürgerliche Ritterlichkeit, die weit „demokratischer“ ist als die bis heute feudale Limitierung der Jagd in Europa. Im amerikanischen Süden ist das Misstrauen gegenüber dem Zentralstaat noch stärker ausgeprägt, was die Herausbildung höheren Institutionenvertrauens hemmt.
Die kulturelle Dürftigkeit mitsamt sozialer Entwurzelung mag erklären, warum sich Amokläufe zuerst in Amerika häuften. Höhere Bewaffnung könnte dabei teilweise ein Symptom derselben Probleme sein. Kurzfristiger Materialismus im Zuge der Schieflagen der Dollarproduktion nährt Narzissmus, der wiederum Zuflucht in Statusgütern suchen lässt. Die klaffende Lücke zwischen Aufmerksamkeitsgier und geringer Anerkennung könnte ihre Kompensation durchaus gelegentlich im Aufmunitionieren finden. Doch Waffen sind hier eben weniger Ursache als Symptom.
Regulierung bietet manche Schwelle für den Waffenerwerb – aber nur für die Dümmeren und die Affekttäter. Diese würden ihre Taten auch mit Küchenmessern durchführen. Die größte Gefahr geht stets von den Plantätern aus, denen ihr Leben wenig gilt. Verbote können sie, auch bei schärfster Sanktion, kaum abhalten. Wer zu einem Vorsatzmord fähig ist, wird das auch zu fast jedem anderen Verbrechen sein – etwa Waffenerwerb durch Diebstahl oder Täuschung.
Das ist eine der Massentäuschungen, die typisch für Hochvertrauenskulturen sind: die utopische Vorstellung der allmächtigen Regulierung, die davon ausgeht, dass alle Bürger gleich regulierbar seien wie man selbst. In Wirklichkeit ist jede Regulierung bloß Hemmung der regulierbaren Bürger. Das ist einer der Gründe für die Tendenz von Hochvertrauenskulturen zur Verknöcherung.
Die Entwaffnung der regulierbaren Bürger bedeutet eine wachsende Schieflage zu ihren Ungunsten, wenn die Zahl der unregulierbaren Bürger wächst. Dann kann innerhalb der bislang sichersten Räume ein plötzliches Sicherheitsvakuum entstehen. Erleben mussten die entstehende Hilflosigkeit eben erst die israelischen Siedler, die im Vertrauen auf die vermeintlich wehrfähigste westliche Armee unbewaffnet in fußläufiger Distanz zu Hundertausenden Menschen leben, die ihren Tod wünschen oder begrüßen. Damit ist immerhin jede Diskussion um weitere Bürgerentwaffnung in Israel beendet.
In Europa zwingt die neue Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus und andere Terrorarten, die sich in Reaktion auf den Vertrauensverlust zusammenbrauen, zu einer Neueinschätzung der Lage. Der Gedanke, beim Besuch eines Weihnachtsmarkts eine Waffe mitzuführen, kommt bislang eher potenziellen Terroristen als braven Staatsbürgern. Empirisch ist aber relativ eindeutig, dass Waffen in Bürgerhand durchaus der Verbrechensabwehr dienen. Amokläufe und Anschläge finden fast immer in waffenfreien Zonen statt.
Schon das Einbruchsverhalten ändert sich in Abhängigkeit von der Bürgerbewaffnung: Bei höherer Waffendichte finden Einbrüche fast immer bei Abwesenheit der Eigentümer statt, sonst ist den Einbrechern die Anwesenheit der Eigentümer eher egal – bei potenzieller Gewalt gegen Letztere.
Noch ist die Selbstbewaffnung der Bürger ein bizarrer Gedanke für Außenseiter und damit zu Recht verdächtig. Bei kollabierendem Institutionenvertrauen wird aber Verdrängung alleine kein goldenes Zeitalter der Sicherheit durch totale Harmlosigkeit zurückbringen. Gerade die Harmlosigkeit der Bürger führt letztlich zu Schusswaffen: In der Ohnmacht vermögen nur diese wieder ein Kräftegleichgewicht herzustellen. Sie waren und sind eben Werkzeuge für die Schwächsten.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.
Weltbilder und Wirklichkeit
Der Neokortex ist der modernste Bereich unseres Großhirns und dient höheren kognitiven Funktionen. Er arbeitet stetig daran, Modelle der Welt zu schaffen und diese mit Sinneseindrücken zu vergleichen. Interessanterweise unterscheidet sich dieser Aspekt menschlicher Intelligenz nicht grundlegend von den „token predictors“ der künstlichen Intelligenz. Unsere Vorhersagen sind jedoch nicht vollständig durch vorherige Elemente vorbestimmt. Alternative Vorhersagepfade und außerrationale Elemente wie Emotionen, Intuitionen und Zufälligkeiten können stets in die Quere kommen.
Hier liegt eine menschliche Stärke, die uns von den eigenen Modellen emanzipieren hilft. Ihr Preis ist eine unvermeidliche Schwäche: Der nicht rationale Teil kann auch zum Festhalten an Modellen führen, die der Realität widersprechen. Unrealistische Modelle führen zu Erwartungen, die früher oder später durch Erfahrungen enttäuscht werden können – aber nicht müssen. Schließlich ist unsere Umwelt so komplex, dass Handlungen, Ergebnisse und Wahrnehmungen dieser Ergebnisse nicht immer direkt miteinander zusammenhängen.
Die grundlegendsten Modelle bezeichnen wir als Weltbilder. Sie ermöglichen es uns, auch jenseits der direkten Wahrnehmung geistige Eindrücke und Vorhersagen zu nutzen. Oft ist das, was wir nicht direkt wahrnehmen, viel wichtiger für unser Überleben. Die kognitive Trennung der Geistesinhalte von der Realität birgt jedoch die Gefahr, dass die Modelle ihre Ausrichtung an der Realität verlieren und stattdessen andere Funktionen übernehmen.
Eine wichtige Funktion ist die Ausbildung gemeinsamer Identitäten. Dabei versucht unser Neokortex das sozial erwünschte nächste Element einer Kette von sprachlichen oder geistigen Inhalten vorherzusehen, um damit das Einpassen in gemeinsame Weltbilder zu überprüfen. Die soziale Anerkennung der passenden Assoziationen belohnt Lernprozesse, die Vertrauen schaffen und die Grundlage für Kooperation bilden. Das Bilden solcher Weltbilder ähnelt dem gemeinsamen Musizieren, wobei der richtige Ton getroffen werden muss, um sich harmonisch einzufügen.
Wenn die soziale Integration scheitert, können alternative Weltbilder eine Zuflucht bieten. Sie machen es erträglich, nicht immer Mitläufer zu sein. Sie bieten aber auch Entschuldigungen für eigenes Versagen, indem sie die Welt narzisstisch zurechtdeuten. In Persönlichkeitsstörungen nabeln sich Weltbilder oft von der realen und der sozialen Welt ab. Innere Schuldgefühle und kognitive Dissonanzen werden durch Schuldprojektionen zugedeckt. Das geht bis zum Hass auf die Welt: Macht kaputt, was euch kaputtmacht!
Auch „libertäre“ Weltbilder können soziale und asoziale Nebenfunktionen haben. Die sozialen sind geteilte Identitäten, die wunderbare Freundschaften und Vertrauensstrukturen hervorbringen können. Die asozialen bestehen in der Empörung über äußere Umstände, was entlastet, weil wir auf diese Umstände kaum Einfluss haben und daher aus der Verantwortung entlassen sind. Besonders dankbare Ablenkung von inneren Schuldgefühlen bietet dabei die inkompetente und moralisch verlotterte Politikerkaste. Das Schimpfen auf die Politiker eint im Verdruss über die Lebensumstände. Es fällt leicht, weil es rational völlig gerechtfertigt ist. Emotional führt es aber in die Irre, weshalb populistische Parteien oft Sammelbecken der gesellschaftlichen Verlierer werden.
Schlechte Strukturen können zwar zum Scheitern der Besten und zum Erfolg der Schlechtesten führen. Überlagert und leider kaum unterscheidbar ist dies aber vom Scheitern durch das Festhalten an schädlichen Modellen und Identitäten sowie unkooperativen Charakterzügen. In einer komplexen Wirtschaft ist ohne Kooperation der Spielraum für Erfolg meist begrenzt, es sei denn, eine besondere Begabung trifft auf Glück und passt zufällig ohne eigenes Zutun in das wirtschaftliche Getriebe.
Die Weltbilder von „Außenseitern“ sammeln aus diesen Gründen überproportional viele Verlierer und schräge Charaktere, die entzückende Menschen sein können, aber doch die mangelnde Wirksamkeit der eigenen Weltbilder als selbsterfüllende Prophezeiung hervorbringen. Dann darf auch nichts gelingen, denn es könnte unter Druck setzen, sich wirklich der Welt zu stellen und das eigene Scheitern eingestehen zu müssen.
Die gute Nachricht ist: Einige geteilte Weltbilder stehen näher an der Realität als andere. Bestimmte Subkulturen drehen sich um kognitive oder praktische Aktivitäten, die über die Wiedergabe des Kanons einer Phantasiewelt hinausgehen. Solche Aktivitäten sind entweder direkt mit realitätsbezogenen Spielen verknüpft oder schätzen diese als lohnende Beschäftigungen. Oft haben solche Spiele mit Technologie zu tun, etwa bei den Subkulturen der Hacker oder Cypherpunks.
Beim „libertären“ Weltbild ist dieses realitätsnahe Spiel Unternehmertum. Der unternehmerische Erfolg ist in einem derart verzerrten Marktumfeld inmitten eines verzerrten Geldsystems zwar nicht per se ein Ausweis für Klugheit oder Charakter. Doch auch verzerrte Märkte bringen eine Disziplin in das Spiel, die über innere Spielregeln weit hinausgeht. Durch die Orientierung an der konkreten Umwelt tendiert Unternehmertum dazu, den Realitätssinn zu stärken und zu belohnen.
„Realismus“ dient jedoch oft nur als Deckmantel für die Anpassung an das aktuell Machbare. Viele sogenannte „Realisten“ sind eigentlich defätistische Mitläufer. Leider können auch irreführende, aber geteilte Weltbilder nützlich sein. Sie sind besonders hartnäckig, da sie vorübergehenden Erfolg ermöglichen, selbst in zum Scheitern verurteilten Systemen, deren Untergang oft erst weit in der Zukunft liegt.
Unternehmertum, das Tragen von Ungewissheit durch das Antizipieren oder Gestalten einer abweichenden Zukunft, fördert die wichtigste Form des Realismus: nicht bloß ein Gespür für das zu haben, was ist, sondern auch für das, was sein wird. Weltbilder, die Unternehmertum verteufeln, verlieren einen wichtigen Sinn – den für die Realität.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.
Führt KI in die Katastrophe?
Der chinesische Fluch erfüllt sich: Wir leben nicht nur in einer Zeit geopolitischer Umbrüche, sondern erleben auch die Anfänge einer technischen Umwälzung potenziell apokalyptischer Dimension.
Privatsphäre als Pflicht statt als Recht
Der Schutz der Privatsphäre gilt heute als Recht, das vom Gesetzgeber gewährt und privaten Unternehmen abgerungen werden muss. Diese Auffassung ist eine relativ junge, wurde in den USA populär gemacht,