Auch ökonomische Theorien unterliegen Modetrends. Unmittelbar nach der Weltfinanzkrise 2007 rückte kurz die „Austrian School“ ins Rampenlicht. Bis dahin fast völlig verdrängt und vergessen, traf das freche „I told you so“ ihrer wenigen Vertreter auf anfängliche Ungewissheit und Orientierungslosigkeit. Das währte nicht lange. „Everything it takes“ erwies sich der Unkenrufe zum Trotz als funktionell, und der große Schulden- oder Währungs-Reset blieb aus. Die Austrians erschienen als stehengebliebene Uhr, die zweimal am Tag die richtige Uhrzeit zeigt. Exponentiell wachsende Geldschöpfung führte zu keiner Hyperinflation. Als ab 2011 dann Dollar und Euro sogar massiv gegenüber Gold stiegen, schien auch der praktische Wert der Österreichischen Schule wieder negativ.
Und das bereitete den nächsten ökonomischen Modetrend vor. Allzu schrilles Übertreiben führt in der Mode oft zu Gegenreaktionen. Aktuell ist der heißeste Trend die „Modern Monetary Theory“ (MMT) – nach Anzahl der Konferenzen, Podcasts, Papers sowie der überlaufenden Akademiker, Politiker und Investoren eine wahre Erfolgsgeschichte der Ökonomik. Ihre Adepten haben eine einfache Erklärung dafür: Während die Austrian School erwiesenermaßen falsch gelegen habe in ihrer Beschreibung der Realität, liege die MMT richtig. Auch und gerade für Praktiker wird Realismus immer mehr Wert haben als Ideologie. Austrians mögen die bekannteren Vertreter der MMT korrekt als Gegenideologen ansehen, doch das erklärt keineswegs deren Siegeszug.
Wir haben es mit einer merkwürdigen Wendung der Geschichte zu. Die MMT ist nicht neu, sondern eine Aktualisierung des Chartalismus. Dieser beruht auf der „Staatlichen Theorie des Geldes“ von Georg Friedrich Knapp und gilt als das glatte Gegenteil der Austrian-Geldtheorie von Carl Menger, die von Ludwig von Mises vollendet wurde. Letztere beschreibt das spontane Entdecken von Tauschmitteln, der Chartalismus die gesetzliche Festsetzung von Zahlungsmitteln.
Ursprünglich fügte sich der Chartalismus in eine normative Vorstellung, die besonders im deutschen Raum sehr populär war: dass staatliche Vereinheitlichung ein anzustrebendes Ideal wäre. Menger und Mises betonten hingegen einen wertneutralen Zugang zur Ökonomik. Sie wollten Dynamiken beschreiben und Begriffe klären, nicht Wunschvorstellungen entwerfen. Mises sah den normativen Chartalismus als Absolutismus, der „das Recht der Könige, die Münze nach Gutdünken zu verschlechtern, philosophisch und positiv zu begründen“ trachtete. Mit der Moderne einer immer stärker international verbundenen bürgerlichen und kommerziellen Gesellschaft hatte das deskriptiv immer weniger zu tun.
Im Gegensatz Chartalismus versus Wiener Schule (Austrians) schien Staatsutopie auf nüchtern-wissenschaftliche Beschreibung der Realität zu treffen. Der heutige Gegensatz MMT versus Austrian School aber wird von immer mehr Praktikern genau umgekehrt gedeutet. Was ist geschehen?
Wenn wir die Unterscheidung zwischen deskriptiver und normativer (oder präskriptiver) Perspektive berücksichtigen, haben wir eigentlich vier Felder zu betrachten. Dabei schließen sich nur die normativen Felder gegenseitig aus. In der deskriptiven Perspektive sind Knapp versus Menger und Mises nicht so unversöhnlich, wie es scheinen mag. Knapp beschrieb sehr wohl den Tauschmittelaspekt des Geldes, und Mises bot immerhin die Grundlage einer Theorie des Zeichengeldes. Sowohl Menger als auch Mises wandten die theoretischen Begriffe und Zusammenhänge stets auf ihre Gegenwart an und hatten das Ziel, diese besser zu verstehen – nicht bloß eine bessere Zukunft zu entwerfen und schon gar nicht zu einer besseren Vergangenheit zurückzukehren.
Erst mit dem Ende Europas im Wahnsinn des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Perspektive. Das blutige Ende der Moderne war geprägt von Totalitarismus, der sich gleichzeitig gegen Katallaktik und Katallaxie richtete – gegen die Erkenntnis und gegen friedliche und freiwillige Tauschbeziehungen. So verschwamm die Trennung zwischen deskriptiver Katallaktik und präskriptiver Katallaxie.
In den USA überlebte die Austrian School nur in einer normativen Reaktion gegen totalitäre Moderne und Postmoderne, Mises‘ Leitspruch folgend im standhaften Widerstehen gegenüber technokratischer Anmaßung und erkenntnisfeindlichem Nihilismus. Dabei trat leider der Anspruch auf wertneutrales Verstehen der Gegenwart etwas in den Hintergrund, aber immerhin überlebten damit wesentliche Anknüpfungspunkte, um nach der Sackgasse postmoderner Identitätspolitik wieder zur Vernunft zurückzufinden.
Der Neochartalismus der MMT scheint deshalb die Realität besser zu beschreiben, weil die Realität normativen Interessen sukzessive angeglichen wurde. Was einst wirre Utopie war, ist nun scheinbar alternativloser Status quo. Nüchterne interdisziplinäre Erkenntnis der alten Wiener Schule würde heute im Deskriptiven erstaunliche Ähnlichkeiten mit der MMT aufweisen – und dabei zynisch klingen. Der Tonfall des alten Wiens, die Gegenwart nüchtern zu beschreiben, ohne sie als „alternativlos“ allzu ernst zu nehmen, ist schwer zu treffen. Letztlich war er auch ein schlechtes Omen.
Erst der normative Chartalismus macht den Zynismus gefährlich: als Durchblick technokratischer Superhirne, welche die Welt endlich der sauberen Konsistenz ihrer Modelle angleichen wollen. Auf intellektueller Ebene fühlt sich das wie Befreiung von Heuchelei an. Endlich dazu stehen, was Geldpolitik heute ist und kann! Konsequent zu Ende führen! Auf politischer Ebene werden solche Ansätze stets von Zynikern und ihrem notwendigen Gegenpol – den Naiven – geteilt. Die Zyniker mit ihrem Durchblick greifen irgendwann zur Lüge und Täuschung, denn die ganze Wahrheit ist dann doch der Masse nicht zumutbar, während die Naiven darauf hoffen, dass endlich nur die „Richtigen“ an die Hebel der Macht gelangen.
Die normative Austrian School als Sehnsucht nach einer anderen Welt ist da sympathischer – wenn man sie nicht mit der deskriptiven Tradition verwechselt, der sie entstammt.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei