Bill Gates und Warren Buffett haben es vorgemacht, Mark Zuckerberg, Richard Branson, Elon Musk und zahlreiche andere Milliardäre sind gefolgt und haben sich verpflichtet, einen großen Teil ihres Vermögens für philanthropische Zwecke zu stiften. Ist dies plötzlicher Einsicht geschuldet? Gar ein Eingeständnis, dass nur Umverteilung die Ungerechtigkeiten unserer Zeit lindern könnte? In ihrem Appell bezogen sich Gates und Buffet auf «Das Evangelium des Reichtums» von Andrew Carnegie. Darin hatte Carnegie gewarnt, dass die öffentliche Meinung über Vermögende das Urteil fällen würde: «Der Mann, der so reich stirbt, stirbt in Schande.»
Die Aufforderung zu geben ist jedoch wenig originell, sie durchzieht die Sonntagspredigten und wird von Spendenkeilern reichlich plakatiert. Oft sind solche Aufrufe nur ein Alibi für die eigene Gier zu nehmen. Denn das Geben und die Philanthropie werden, wie die Worte Carnegies, meist missverstanden – sogar durch die vermögenden Philanthropen von heute.
Die «philanthropía» tauchte das erste Mal in Aischylos’ Tragödie «Der gefesselte Prometheus» auf. Dieser erste Menschenfreund Prometheus war kein Zuteiler sicherer Geldbeträge. Er brachte den Menschen das Feuer als gefährliches Werkzeug und als Licht der Erkenntnis – also Kultur. Prometheus ist der Archetyp des Individualisten, Unternehmers und Querulanten. Er erhielt für sein Wagnis keine Anerkennung und scheiterte tragisch an höherer Gewalt. Auch der Philanthrop, den Carnegie beschrieb, ist ein Individualist, der unbequeme Entscheidungen zu treffen hat, kein Verteiler von Almosen, sondern ein Kulturunternehmer.
Das Geben wird meist missverstanden als Aufgeben des Privaten, als Verteilen, das der Gleichheit etwas Freiheit opfern soll. Genährt wird diese Interpretation durch die vermeintliche Übersetzung des lateinischen «privatus» als «geraubt». Tatsächlich ist eine Nebenbedeutung von «privare» «rauben», ebenso wie «befreien». Die «privatio» ist zugleich Befreiung und Mangel. Die eigentliche Bedeutung zeigt sich an «privus» – «eigen»: «Privare» bedeutet «aneignen» und «entziehen». Manchmal eignen sich Menschen Dinge zu Unrecht an. Doch nach dem antiken Verständnis ist das Private der Menschen heilig, gerade weil es Raub und öffentlicher Verschwendung entzogen ist. Dieses Entziehen des Privaten zeigt sich auch im älteren deutschen Begriff Sondereigentum, der die Absonderung des Besonderen und Individuellen und damit Vielfalt bezeichnet.
Geben ist keine Tugend der Gleichheit, sondern eine der Freiheit. Auch das verrät die Sprache: Die Freigebigkeit bezieht sich im Deutschen, im Griechischen – «eleutheriotés» – und im Lateinischen – «liberalitas» – direkt auf die Freiheit. Nur freiwilliges Geben kann tugendhaft sein, setzt also Privates voraus. Es geht bei dieser Tugend um das rechte Maß im Umgang mit materiellen Gütern, nämlich um Nachhaltigkeit: Sie ist eingegrenzt von den aristotelischen Polen Verschwendung und Geiz. Beide Untugenden sind Kennzeichen der Kurzfristigkeit; tugendhaftes Geben hingegen ist langfristiger Aufbau.
Die erstarkende philanthropische Gesinnung ist wohl teilweise eine Gegenreaktion auf die Kurzfristigkeit unserer Zeit. Warren Buffett kontrastiert in seinem Spendengelöbnis einerseits das Geben mit seinem privaten Konsum, der ihm in diesem Ausmaß keine Freude mehr bereiten könne. Andererseits kontrastiert er die scheinbar unverhältnismäßigen Verdienste seiner Spekulation mit den kargen Verdiensten von Soldaten und Lehrern. Diese Vermischung grundverschiedener Aspekte führt die meisten philanthropischen Vermögenden in die Irre. Der Kontrast zu Carnegie ist deutlich und sagt einiges über die aktuelle Wirtschaftslage aus.
Dass Freigebigkeit ein altruistischer Gegensatz zu egoistischen Entscheidungen sei, verkennt den Menschen. Der negativ assoziierte Egoismus im narzisstischen Zeitgeist ist schlicht rücksichtslose Kurzfristigkeit. Langfristiges Streben nach persönlichem Wohlergehen bringt stets eine Nächstenorientierung mit sich, wie schon Francis Hutcheson erkannte: «Die wahrste, dauerhafteste und lebendigste Freude, der glücklichste Lebensgenuss, besteht in der Zuneigung zu unseren Mitmenschen.» Die heute virulente Unkultur des Nehmens, die sich gerade hinter dem Missverständnis von Philanthropie verstecken kann, ist nichts als kurzfristiger Kapitalkonsum. Das Gegenteil davon ist nicht Konsum durch Fremde, sondern Investition. Während sich Carnegie noch Sorgen um die moralische Verschlechterung der Beschenkten machte, nämlich seiner Kinder und potenzieller Almosenempfänger, scheint es heutigen Philanthropen mehr darum zu gehen, «gerecht» zu erscheinen.
Allerdings kann auch Altruismus kurzfristig sein und damit zur Untugend verzerrt. Der kurzfristige Egoismus sucht die sofortige Befriedigung und macht langfristig unzufrieden. Der kurzfristige Altruismus sucht sofortige Anerkennung und definiert sich damit nach den momentanen Zwecken und Wünschen der Masse. Heutige Probleme sind Folgen vergangenen Versagens; wer etwas langfristig verbessern möchte, muss künftige Probleme antizipieren – eine Unternehmeraufgabe. Doch wer die Zukunft gestalten will, bleibt in der Gegenwart oft verkannt, belächelt, gar verhasst.
Im schlimmsten Fall kann auch das Geben aus kurzfristigem Altruismus Kapitalkonsum sein, nämlich vorgezogener Konsum aktueller Anerkennung statt langfristige Investition in kulturelles oder soziales Kapital. Wie schon Bernard Mandeville erkannte, gibt es kaum ein besseres Alibi für Laster als vorgeschobenen Altruismus: «Der Allerschlechteste sogar für’s Gemeinwohl tätig war», dichtete er in der Bienenfabel.
Wenn schon die Vermögenden ihr Vermögen nur noch als Konsumvorrat ansehen, als angehäufte Mittel, die aufzubrauchen sind, dann überrascht es nicht, dass ihnen Neid entgegenschlägt. Die breite Masse ist heute zu Konsumenten aufgestiegen. Der Wohlstandsaufbau, der das immense materielle Konsumniveau ermöglicht, wird selten gewürdigt. Viel augenfälliger sind die Unterschiede im Konsumniveau. Sie sind entgegen der landläufigen Meinung nicht größer, sondern geringer geworden. Die Folge dieser Annäherung ist paradoxerweise wachsender Neid. Wie Helmut Schoeck erkannte, ist Neid eine Erscheinung der sozialen Nähe, wie sich schon am Geschwisterneid zeigt. Je weniger bedeutsam die Unterschiede, desto drastischer erscheinen sie.
Die letzte Philanthropiewelle öffentlicher Gelöbnisse könnte Reaktion auf diesen Neid sein. Neid verstärkt allerdings Kapitalkonsum, er drängt zur Entscheidungsabnahme und begünstigt die Verantwortungsverwässerung. Damit droht er die Kurzfristigkeit der Zeit, gegen die die Philanthropie eigentlich antritt, noch zu verstärken.
Neid ist kein neues Laster, es ist eines der ältesten. Andrew Carnegie wusste noch, dass es Grundlage des Wohlstandsaufbaus war, gegen den Neid anzukämpfen und ihn nicht zu nähren. Sein Plädoyer für das nachhaltige Stiften triefte nicht von schlechtem Gewissen, sondern war unternehmerisch und individualistisch. Dass die heute Vermögendsten dem schlechten Gewissen so leicht nachgeben, könnte durchaus ein Hinweis darauf sein, dass es teilweise berechtigt ist. Womöglich ist die linke Kritik nicht so falsch, dass öffentliche Selbstenteignungsappelle Trostpflaster und Ablenkungen sind, um systemische Ungerechtigkeit und Missverhältnisse zu überdecken. Die Schwerreichen unserer Zeit dürften spüren, dass ihr Vermögen immer weniger durch unternehmerisches Wagnis gedeckt ist und immer mehr bloßes Symptom der Vermögenswertinflation durch die Verzerrung des Geldwesens ist.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.