Ein Irrweg
Eine der vermeintlich liberalen Grundlagen der Europäischen Union ist Wettbewerbspolitik: Durch Sanktionen, Erleichterungen, Ausschreibungen und andere Beschränkungen nationaler Politik sollen Konsumenten in den Genuss stärkeren europäischen Wettbewerbs kommen, der Preise senken und Qualität erhöhen soll.
Ökonomisch am meisten ausgearbeitet hat diesen Aspekt der Wirtschaftspolitik die ordoliberale Tradition, an die sich auch der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek immer weiter angenähert hatte. Hayeks Vortrag „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ wurde besonders stark rezipiert und begründete die Wichtigkeit des Wettbewerbs für Marktwirtschaft und Wohlstand.
Sein Vortrag, 1969 in den Freiburger Studien veröffentlicht, entwickelte Gedanken weiter, die er 1945 in seinem wohl berühmtesten Aufsatz „The Use of Knowledge in Society“ (deutsch: „Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft“) formulierte. Hayeks Augenmerk gilt der effektiven Nutzung von Wissen, das kein Einzelner vollständig besitzt, weil es weit verteilt ist. Wirtschaft wird damit als Wissensproblem verstanden – leider könnte das dazu verleiten, auch die Wirtschaftspolitik als Wissensproblem zu verstehen.
Hayek nimmt korrekt an, dass Politikern Wissen fehlt. Doch das hindert diese selten an großen Plänen. Mit ihren Apparaten an Beratern, ihren Expertenstäben und der Verfügung über wuchernde Institutionen der Bildung, Wissenschaft und Forschung scheint jeder Wissensmangel leicht überwindbar zu sein. Kommt noch der Zugang zu „big data“ der Statistik und Überwachung hinzu sowie das „deep learning“ moderner Algorithmen, könnten sich Politiker letztlich sogar von Wissensproblemen hayekscher Art völlig unbeeindruckt zeigen. Dann droht die „scientific public policy“, vor der schon Murray Rothbard warnte, die Legitimierung von Politik durch Ansprüche von Wissenschaft und Allwissenheit: „The science is settled“ und „wissenschaftlicher Konsens“!
Die Problematik des Ansatzes von der Wettbewerbspolitik zur effizienten Nutzung bereits vorhandenen Wissens zeigt sich in den Beispielen Hayeks. Er verweist etwa auf sportliche Wettbewerbe: Wenn wir bereits wüssten, wer mit genau welcher Zeit ins Ziel kommen wird, würden wir uns eine solche Veranstaltung sparen. Der Lauf wäre sinnlos und wir würden ihn auch nicht als Wettbewerb bezeichnen.
Wäre dann die freieste Marktwirtschaft eine solche, in der wir am wenigsten über die Bewerber wissen und die Zahl der Bewerber am größten ist? Ist die beste Wirtschaftspolitik jene, die die Zahl konkurrierender Unternehmen maximiert und für möglichst gleiche Startbedingungen sorgt? Was, wenn einzelne Unternehmen erfolgreich an der Weltspitze stehen? Sollte der Staat dann zwei Konkurrenten mit Finanzmitteln so hochspritzen, dass sie in derselben Gewichtsklasse in den Ring steigen können?
Der letzte Schluss scheint absurd, und Hayek hätte ihn keinesfalls gezogen. Die chinesische Industriepolitik folgt aber durchaus gelegentlich diesem Prinzip, und auch in Europa scheint die Wettbewerbspolitik diese Alternative zur Wettbewerbsvergrößerung durch Zerschlagung nahezulegen.
Das Grundproblem liegt im falschen Verständnis von marktwirtschaftlichem Wettbewerb. Bei einem Wettlauf geht es um den Wettbewerb, ein festgesetztes und letztlich willkürliches Ergebnis zu erzielen. Der Veranstalter kann den schnellsten, langsamsten, schönsten, ausdauerndsten oder in seinen sexuellen Präferenzen originellsten Läufer küren. Die spezifische Methode, parallel möglichst viele gegeneinander antreten zu lassen, ist kaum relevant im Vergleich zur Festsetzung des Ergebnisses. Marktwirtschaft bezeichnet weniger die Methode als das Resultat: Die Entscheidung über das jeweils relevante Ergebnis liegt beim Konsumenten, also bei jedermann. Marktwirtschaft ist Konsumentensouveränität, nicht Wettkampf.
Für das Ergebnis, das dem einzelnen Konsumenten wichtig ist, gibt es weltweit oft nur einen „Läufer“, der völlig außer Wettbewerb läuft – abgesehen vom einzig relevanten Wettbewerb um die freiwillige Gunst dieses Konsumenten. Nicht einmal die Sportanalogie trägt in Wirklichkeit. Wir sehen uns Wettkämpfe nicht als Erkenntnisweg an, weil wir hauptsächlich Interesse an den konkreten Bestleistungen haben, sondern weil die Bewerber für die Zuschauer in der Regel nicht beliebig sind, sondern sie diesen aus identitären oder anderen persönlichen Gründen verbunden sind.
In China wird Wettbewerb in festgelegten Branchen und Technologien maximiert, indem die Kreditschöpfung durch politische Anordnung in größerem Maße neuen Industriebewerbern zugutekommt als in den USA und Europa, wo die Kreditschöpfung überwiegend Immobilieneignern und schon bewährten Großbetrieben zufließt. Nach der wettbewerbspolitischen Betrachtung müssten wir zu dem Schluss kommen, dass China bereits in höherem Maße eine Marktwirtschaft sei als unsere Volkswirtschaften.
Die Perspektive der Konsumentensouveränität zeigt ein umgekehrtes Bild. Zwar schließt sich auch hier die Lücke, aber leider in die falsche Richtung. Noch verfügen europäische Konsumenten über mehr Gewicht bei den Entscheidungen über die Produktionsstruktur. Deren Souveränität sinkt aber dramatisch. Schon machen Politiker, die ohne Berater völlig unwissend wären, für einen „Green New Deal“ hoch dotierte Zielvorgaben. Die Zahl und Ausgangsposition der Unternehmer, die sich nach dem Wettlauf um die neuen Gelder dann beim Galadinner der „Preisverleihung“ feiern lassen, ist für den Status als Marktwirtschaft völlig irrelevant.
Viel wichtiger als die Nutzung des vorhandenen Wissens ist die Ungewissheit. Wichtiger als die Frage, was heute die beste Technik nach willkürlichem Maßstab sei, ist jene, ob eine einzelne unternehmerische Entscheidung heute einem konkreten Menschen in der Zukunft mehr Nutzen oder mehr Schaden stiften wird. Das dazu nötige Wissen ist nicht bloß verstreut, sondern noch gar nicht existent. Auch die größten Kredite für die höchsten Gehälter der heute „Wissenden“ werden keine Gewissheit schaffen, egal, wie groß der Wettbewerb ist.
Zuerst erschienen auf eigentümlich frei