Unternehmer benötigen „Kundschaft“. Dieses Wort bezeichnete ursprünglich den Ruf eines Unternehmens und damit seinen immateriellen Unternehmenswert. Daher sind Unternehmer eher auf Öffentlichkeit als auf Privatsphäre bedacht. Umgekehrt ist das allenfalls in jenen Fällen der erzwungenen Contrepreneurship in sozialistischen Regimen, wo das Unternehmertum im Untergrund versteckt ist. Das beschränkt die Kundschaft auf vermittelte Vertrauensbeziehungen.
In dieser Kolumne wurde der Auftrieb von Contrepreneurship im geldsozialistischen Kreditismus unserer Tage beschrieben. Insbesondere im Finanzbereich ist der Bedarf an wertschöpfenden Alternativen „peer-to-peer“ anstelle von Kartell-zu-Untertan groß. Die Digitalisierung hat auch hier einen Paradigmenwechsel eingeläutet. Einerseits ist Öffentlichkeit und Privatsphäre kein Widerspruch mehr: Digitale Produkte können ein breites Publikum erreichen, ohne die Produzenten der Öffentlichkeit preiszugeben. Andererseits hat der technische Wettlauf zwischen Privatsphäre und staatlicher Kontrolle eine überraschende Wendung genommen: Die in Konkurrenz von Staaten entwickelten praktischen Implementierungen von Kryptographie kamen den Individuen zugute. Trotz aktueller Überwachungstechnologie, die die dystopischen Vorstellungen der Science-Fiction teilweise noch übertrifft, ist der Kampf noch nicht entschieden. Verschlüsselte Kommunikation, die die einstigen Möglichkeiten von Geheimdiensten übertrifft, steht heute kostenlos jedermann zur Verfügung.
Apps wie „Signal“, „Threema“ und „Telegram“ haben eine mittlerweile so breite Nutzerbasis, dass die wichtigste Lücke praktischer Anonymität enger wird: dass die Nutzung von Verschlüsselung so enttarnend ist, den Nutzer ins Fadenkreuz der Überwacher zu schieben. Lange litt Verschlüsselung wie PGP darunter, dass der kleine Zusatzaufwand die Nutzerbasis zu gering machte. Heute wird Verschlüsselung immer mehr zum Standard. Auch anonyme Email-Dienste wie das Schweizer „Protonmail“ erlauben einfache Nutzung.
Verschlüsselung, die noch nicht Standard ist und Zusatzaufwand erfordert, wirkt auch in anderer Hinsicht selektiv: Nicht nur die Nutzer machen sich verdächtig, sondern Verdächtige werden angezogen. Die größten Renditen sind in den Feldern mit der geringsten Konkurrenz zu machen. Reduziert wird die Konkurrenz durch staatliche Verfolgung, weshalb ein großer Teil der anonymen Contrepreneurship leider illegale Güter betrifft, allen voran Drogen. Aber auch moralische Fragwürdigkeit mindert die Konkurrenz, denn nur ein Bodensatz verkommener Unternehmer ordnet alles kurzfristiger Rendite unter – und nur die Schlechtesten müssen außerhalb der legalen Strukturen ihr Auskommen finden, denn kurzfristiger Nepp ist das Paradegeschäftsmodell im legalen Geldsozialismus. Aufgrund der Negativselektion sind Lösungen wie etwa „Tor“ Sammelplätze für Gauner.
Überwachungsstaaten gehen mit der Herausforderung der Verschlüsselung bislang auf zwei Arten um: Erstens besteht Druck auf die Anbieter dieser Lösungen, Nutzerdaten gegen Anforderung herauszugeben oder gleich eine „Backdoor“ einzubauen – einen Zugang für die Überwacher. Zum Glück geht die Tendenz in Richtung multipolarer Ordnung, so dass amerikanische, chinesische und russische Überwachungsanstrengungen sich zum Teil kompensieren: Chinesen können amerikanische Lösungen (mit VPN) verwenden und Amerikaner russische.
VPN (Virtual Private Network), die Maskierung der Internetnutzer hinter anderen Domains, ist heute auch kostenlos oder zu niedrigen Kosten überall verfügbar. Leider ist die Bandbreitenfluktuation groß und führt neben dem Zusatzaufwand des Vorschaltens des VPN dazu, dass es nur von einer Minderheit verwendet wird. Selbst dort, wo der Bedarf eigentlich groß wäre, wie in China, wählen die Menschen aus Bequemlichkeit eher die lokalen, vollüberwachten sozialen Netzwerke. Das ist keineswegs irrational, sondern eben eine Folge der Netzwerkeffekte. Am weitesten verbreitet ist VPN-Nutzung wohl im Iran, weshalb der dortige Überwachungsstaat dann gleich den gesamten Internetzugang abzudrehen versucht, wenn Protestkommunikation aufkommt.
Die zweite Reaktion von Überwachungsstaaten auf Verschlüsselung sind „key disclosure laws“, gesetzliche Erzwingungen des Herausrückens von Schlüsseln oder Passwörtern. Zum Glück verhindern in vielen Ländern, darunter auch Deutschland und Österreich, noch gesetzliche Normen des Aussageverweigerungsrechts diesen Weg.
Ein Höhenflug digitaler Contrepreneurship setzte ein, als die Vermählung von Kryptographie und digitalen Guthaben schließlich das Unmögliche möglich gemacht hat: praktisch anonyme Zahlungen. „Praktisch“ ist dabei zu betonen, denn die meistakzeptierten Kryptowährungen sind nur pseudonym – und die Anonymitäts-Coins wie Monero zeigen natürlich den negativen Selektionseffekt: Besonders beliebt sind diese bei Malware-Erpressern und den Geldwäschern des nordkoreanischen Regimes.
Die praktische Anonymität reicht allerdings schon ziemlich weit. Das zeigen paradoxerweise gerade die größten Fälle aufgedeckter Anonymität, die Contrepreneure ins Gefängnis gebracht haben: Ross Ulbricht, Betreiber von Silk Road, und der weniger bekannte, aber noch spektakulärere Paul Calder Le Roux. Beide sind nicht überführt worden, weil ihre Gesetzesverstöße so viel Staatsgewalt gegen sich aufgebracht hätten, dass ihre technischen Schutzmechanismen geknackt wurden. Ganz im Gegenteil dokumentieren beide Fälle die Schieflage zwischen staatlicher Inkompetenz und Schlampigkeit auf der einen Seite und technischer Kompetenz und unternehmerischer Motivation auf der anderen Seite. Beide fühlten sich aufgrund dieser Schieflage jedoch so sicher, dass sie zur Hybris neigten und sich nicht mehr an moralische und rechtliche Grundsätze gebunden sahen. Es sind „Breaking Bad“-Geschichten des Abschlitterns über das Drogengeschäft in eine Welt der Gier und des Misstrauens, in der Konflikte nur durch Gewalt gelöst werden können – eine Folge von staatlichem Interventionismus.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei