Filterblasen entzweien die Menschen – so ein häufiger Vorwurf gegen die digitalen Medien. Womöglich ist dieser Vorwurf so falsch wie jener, dass die Globalisierung Armut schaffe. Der wahre Kern in beiden Fällen: Globalisierung macht Armut sichtbarer durch den globalen Vergleich und die Potenzgesetze der Skalierung. Filterblasen machen Entzweiung sichtbarer, weil sie auch Effekten der Selbstverstärkung unterliegen und eben doch nicht völlig abgeschlossen, sondern durch Empörungskanäle an andere Filterblasen angeschlossen sind.
Armut ist der Normalzustand der Menschheit. Ungewöhnlich ist der Wohlstand im Sinne einer dauerhaften Sättigung unserer physiologischen Grundbedürfnisse. Zu einem globalen Phänomen wurde Wohlstand durch exponentielle Entwicklung, die im Nachhinein wie ein kurzes Wunder wirkt. Solche Entwicklungen führen zu Potenzgesetzen der Größenverteilung. Das bedeutet: große Abstände zwischen Größen unterschiedlicher Dynamik. Der Hebel der Wohlstandsschaffung wird umso größer, je stärker und weiter die Arbeits- und Wissensteilung ist.
Das Ausmaß dieser kollaborativen Teilung könnte man die „katallaktische Dichte“ nennen. Doppelte katallaktische Dichte führt nicht bloß zu doppeltem Wohlstand: Die Wohlstandsverteilung auf verschiedene Orte, Zeiten, Menschen, Unternehmen, Staaten folgt Potenzgesetzen. Daher bedeutet die Dynamik einer Wohlstandsexplosion stets steigende Ungleichheit.
Diese Ungleichheit ist allerdings jene im irrelevanten Sinne der vorübergehenden – statisch betrachteten – materiellen Ergebnisse. Gleichzeitig nimmt die viel bedeutendere Ungleichheit ab: die Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, den eigenen sozialen Status und die eigenen Lebensverhältnisse zu verändern – was ungleiche Verhältnisse zementiert.
Armut fällt dann auf, wenn sie nicht mehr unabwendbares Schicksal ist, sondern Wohlstand möglich und erreichbar scheint. Je reicher eine Gesellschaft, desto mehr fällt die Armut ins Auge – so wie manche Puritaner überall Sünde sehen. Entzweiung ist leider – parallel zur Armut – menschlicher Normalzustand. Wir sind soziale Tiere, und unser Hirn ist wohl vor allem Kollaborationsorgan. Doch der soziale Fokus der Kollaboration war die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte die kleine Sippe. Ihr Zusammenhalt und ihr Zusammenwirken waren oft gegen andere Sippen gerichtet. Organisierte Gewalt ist so alt wie der Mensch. Die Kleinheit der Sippen beschränkte bloß den angerichteten Schaden.
Leider ist die katallaktische Dichte von feindlichen Sippen viel zu gering, um jemals die Schwelle der Wohlstandsentwicklung zu überwinden. Das menschliche Leben war daher eine ständige Wiederkehr von Elend und Schmerz, auch für die erfolgreichen Plünderer, die anderen ihr Brot und Leben raubten – denn mehr gab es kaum zu rauben.
Das Stammesdenken ist uns eingeprägt. Wir bedürfen der Anerkennung und des Zugehörigkeitsgefühls. Darum sind wir auf der Suche nach unserem Stamm. Moderne Gesellschaften erschweren diese Suche durch die Ungewissheit eines großen Angebots: Weil es so viele und so leichte Anschlussmöglichkeiten gibt, überwiegen oft die Zweifel an Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Wahrhaftigkeit der wählbaren „Stämme“. Diese Zweifel sind selbsterfüllende Prophezeiungen. Stabile Gemeinschaftsbeziehungen sind selten. Selbstgewählte Gemeinschaften können auch selbst wieder abgewählt werden.
So wächst in der modernen Gesellschaft die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Zum Glück kann sie überdeckt werden durch losere und größere Identitätsbezüge, durch Konsummöglichkeiten, durch katallaktische und freundschaftliche Verbindungen. Doch dann schwelt die Sehnsucht unerfüllt im Untergrund. Oft wird sie angezapft: im günstigen Fall mit Erzählungen, die Angebote und Verbindungen für uns aufwerten. Im ungünstigen Fall aber wird diese Sehnsucht politisch missbraucht.
Nicht jede Politik der Identität und Gemeinschaft ist schlecht – aber fast jede. Eben weil wir modern sind, weil die katallaktische Dichte so hoch ist, neigen wir dazu, Gemeinschaft und Identität zu überdehnen. Doch Gemeinschaft skaliert schlecht. Die moderne Welt und insbesondere die digitale Welt machen negative Skaleneffekte des Stammesdenkens sichtbar und fühlbar, was wiederum das Unwohlsein mit Moderne und digitaler Verbundenheit erhöht.
Einerseits können wir als moderne Cyborgs, ergänzt um unsere technischen Organe, noch mehr das Verhalten anderer Menschen beobachten und beurteilen, und noch mehr Tratsch darüber vernehmen. Andererseits erhöht die Dynamik einer katallaktischen Gesellschaft notwendig die Ungewissheit im Sinne der Möglichkeit von richtigen und falschen Urteilen und Entscheidungen.
An dieser Ungewissheit zerbrechen unsere modernen Stammesbeziehungen, die stets nur Stammesersatz sind. Jede Möglichkeit von Urteil und Entscheidung ist eine Gefahr des Fehlurteils und der Fehlentscheidung und damit eine Gelegenheit zur Spaltung. Das Stammesdenken ist also nicht sozial und einend, sondern – ist einmal die katallaktische Dynamik aus der Büchse der Pandora – die Bürde ewiger Entzweiung.
Nicht nur Sozialisten und Kollektivisten neigen zu Stammesdenken. Kollektive Organisation kann als Utopie gewiss Gemeinschaftsbezug bieten. Der praktische Utopieaufbau ist dabei notwendig spaltend. Aber auch ganz andere Identitätsbezüge sind denkbar: Gewissheiten, von denen man möglichst viele Menschen überzeugen möchte, um mit ihnen endlich den sündenfreien Stamm zu finden.
Dieser missionarische Drang ist Ausfluss unseres Stammesdenkens – das Unwohlsein unter Entfremdeten mit fremden Gedanken und fremden Urteilen. Dann wollen wir Geistesverwandtschaft durch Bekehrung erzeugen. Erfolgt das ohne Gewalt, so ist der Einsatz edel. Leider ist er meist vergebliche Sisyphusarbeit und damit unproduktiv: Das Weitergeben von Gewissheiten kann in einer dynamischen Welt niemals gegen die Ungewissheit ankommen. Nur der Mut zur Spaltung kann die Bürde der Entzweiung produktiv auflösen: im katallaktischen Miteinander widersprüchlicher Trade-offs.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei