Katastrophen und die Interventionsgier der Politik
Eine plötzliche Katastrophe setzt eine große Zahl von Menschen einer unsichtbaren Gefahr aus. Die grundsätzliche Wirkungsweise dieser Gefahr hin zu schweren Erkrankungen und Todesfällen ist relativ eindeutig und unumstritten. Leider ist völlig unklar, wen und wie viele es erwischen wird. Die Unsichtbarkeit der Bedrohung erhöht den Schrecken bei den Betroffenen.
Die Katastrophe ist keine bloße Naturkatastrophe, sondern katastrophales Wirken der Natur, das an den betroffenen Orten durch menschliches Verhalten ermöglicht, angestoßen, verstärkt oder entfesselt wurde. Die betroffenen Menschen sind völlig unschuldig und fühlen sich weitgehend hilflos. Sie richten all ihre Aufmerksamkeit und Hoffnungen auf die Repräsentanten ihrer Institutionen, die über große Mittel und Gewalt verfügen können.
Da die individuelle Wirkung der Katastrophe nicht vorhersehbar ist, lastet jene auf allen Schultern – als Risiko. Nach Ulrich Beck ist hier Risiko als soziologischer Begriff gemeint, als Wahrnehmung einer Bedrohung, die eine Schuldkomponente hat, da menschliches Handeln oder Unterlassen in einen kausalen Zusammenhang mit der Existenz und Wirkung dieser Bedrohung gestellt wird.
Gibt es in dieser Situation eine Alternative zur politischen Intervention? Bis auf wenige Ausnahmen, die meisten davon kaltherzige Psychopathen, ist die Zustimmung überwältigend groß, dass die Bedrohung, sofern das menschenmöglich ist, abgewendet werden muss. Experten lokalisieren die Bedrohungszone, und so scheint es der einfachste Weg zu sein, die Bedrohten schleunigst aus dieser Zone zu evakuieren. Dadurch, so die Experten auf der Grundlage von Messungen, kann die Katastrophe zwar nicht ungeschehen gemacht, aber die direkte Bedrohung sofort reduziert werden. Die Evakuierung muss so schnell wie möglich erfolgen, da mit Dauer der Bedrohung die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen und Todesfällen steigt.
Im Rückblick scheint sich der Schrecken der Bedrohungslage zu bestätigen. In der betroffenen Region erleiden 103 Kinder eine Erkrankung, die für die unsichtbare Bedrohung typisch ist. Weltweit kommt es zu einschneidenden Maßnahmen unter dem Eindruck, dass die Katastrophe erst durch menschliche Schuld so bedrohlich wurde.
Bei der geschilderten Katastrophe handelt es sich natürlich um die Radioaktivitätsfreisetzung nach Beben und Tsunami im japanischen Fukushima 2011. Sie bietet ein sehr anschauliches Beispiel für die geringe politische Relevanz evidenzbasierter Betrachtungen der Realität und die Unausweichlichkeit von Interventionsspiralen im Spätetatismus.
Eine kühle Betrachtung, mit Distanz und Verspätung, relativiert die Opfer als statistisch insignifikant. Erdbeben und Flutwellen führten unmittelbar zum Tod von mehr als 22.000 Menschen. Die 103 Fälle von Schilddrüsenkrebs sind nicht dagegen aufzurechnen, sondern in Vergleich zu setzen mit der Grundhäufigkeit in nicht betroffenen Regionen. Der leichte Unterschied schwindet gänzlich, wenn man einen Screening-Effekt berücksichtigt: Gezielte Untersuchungen nach bestimmten Erkrankungen lassen stets erhöhte Fallzahlen finden. Schilddrüsenkrebs ist die am besten therapierbare Form von Krebs, bei Früherkennung überleben nahezu alle Patienten.
Doch ist nicht jeder Erkrankte oder Verstorbene einer zu viel, wenn auch nur die Möglichkeit einer kausalen Beziehung zu menschlichem Handeln oder Unterlassen gezogen wird? Psychosoziologisch scheint das so zu sein. Die Unduldsamkeit gegenüber vermeidbaren menschlichen Opfern ist eine nachvollziehbare und meist sinnvolle Intuition.
Je komplexer die Zusammenhänge, je weniger kumuliertes Wissen in freiwilliger Interaktion, je mehr politische Intervention auf Druck wahrgenommener Effekte erster Ordnung, desto gefährlicher wird die Asymmetrie zwischen verhinderten sichtbaren Opfern und in Kauf genommenen unsichtbaren Opfern.
Selbst in Japan, einem Staat mit höchster Organisationsfähigkeit und einer Gesellschaft mit höchster Disziplin, überraschen die unsichtbaren Folgen einer Intervention, die auf den ersten Blick harmlos, alternativlos, mehrheitlich gewünscht und nachvollziehbar erscheint. Im Zuge der Evakuierung erhöhte sich die Sterblichkeit alter Menschen um das Dreifache, die psychischen Erkrankungen unter allen um das Fünffache.
Es kann im Rückblick eigentlich überhaupt kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die schützenden Interventionen wesentlich mehr Lebensjahre gekostet als gerettet haben. Die Antwort scheint naheliegend, die Entscheider in die Verantwortung zu nehmen – womöglich wegen fahrlässiger Tötung.
Leider ist die Angelegenheit wesentlich komplizierter. Die Welt ohne Intervention ist ja ebenso unsichtbar. In einer solchen hätte es ebenfalls eine Katastrophe gegeben. Wie hätten die bedrohten Menschen reagiert, wenn anstelle politischen Handelns nur politisches Unterlassen wahrnehmbar gewesen wäre? Hätte die Gefahr gleich noch bedrohlicher gewirkt? Wären die Todesraten und Stresssymptome ebenfalls angestiegen, weil sich die Menschen von ihren Hirten verlassen, verraten, schutzlos ausgeliefert gefühlt hätten? Weil Ohnmacht und Wut zu ungeordneter Flucht und gar Randalen geführt hätten? Wären die langfristigen gesellschaftlichen Folgen schlimmer gewesen, weil politische Konflikte zu einer größeren Spaltung geführt hätten?
Die Antwort auf diese Fragen hängt ab von der Denk- und Lebensweise der betrachteten Menschen. Interventionen führen auch deshalb in endlose Spiralen immer neuer Interventionen, weil sie abhängig machen. Die Interventionsgier der Politik, getrieben vom Geltungsdrang außerhalb der Politik geltungsloser Menschen, trifft dann auf wachsende Interventionsabhängigkeit. Letztere könnten wir als Etatismus bezeichnen, als die Denk- und Lebensweise, die zur selbsterfüllenden Prophezeiung einer Alternativlosigkeit wird.
Dass Menschen im Alltag auf Bedrohungen mit einfachen Daumenregeln reagieren, bei denen Verantwortungszuschreibung eine der größten Rollen spielt, liegt in der Natur des Menschen. Dass diese Intuitionen politisch und medial in Interventionsgier und Sündenbocksuche umgemünzt werden, ist jedoch keinesfalls alternativlos.
Zuerst erschienen auf eigentümlich frei