Die wachsende Frustration über das Bildungssystem verstärkt die wiederkehrende Kritik an vermeintlich veralteten Lehrmethoden. Der Frontalvortrag sei überholt. Studien bestätigen die mangelnde Wirksamkeit des Berieselns von Jugendlichen durch Lehrpersonal. Einst schrieb man mangelnden Lernerfolg dem Schüler und Studenten als persönliches Versagen zu. Der nächste Schritt war, diese Verantwortung dem Lehrer zuzuschreiben. Die Lehrer seien didaktisch nicht ausreichend geschult, und fachlich gebe es freilich stets Verbesserungsbedarf. Oder reicht das Problem tiefer, ist es methodisch oder gar systemisch? Im Folgenden sollen die Erklärungs- und Verbesserungsvorschläge für das konstatierte Versagen der Wissensübertragung kritisch geprüft werden.
Da man nur Sachverhalte gut erklären kann, die man selbst gut verstanden hat, wäre es naheliegend, zunächst die fachliche Qualifikation von Lehrern zu betrachten. Der Gedanke steht hinter dem Druck zur Akademisierung der Lehrerschaft. In der Tat können fachlich herausragende Menschen mit großer Leidenschaft für ihren Fachbereich einzelne Schüler viel eher begeistern, als jene, die Wissen aus Lehrbüchern durchpauken. Doch diese Einzelmomente fachlicher Begeisterung sind leider rar. Auf den Anteil an behaltenem Wissen des Durchschnittsschülers haben sie kaum Auswirkung. Ganz im Gegenteil sind die fachlich besonders qualifizierten Lehrer nicht immer didaktisch besonders qualifiziert, neigen zu Strenge und Ungeduld mit dem typisch-desinteressierten Schüler. Eine einflussreiche Studie aus 1985 schockierte mit dem Ergebnis, dass fachliche Qualifikation überhaupt nicht mit den Lernergebnissen korreliert. Darin wiesen die Physiker Halloun und Hestenes nach, dass der typische Frontalvortrag, selbst von den fachlich besten, gar preisgekrönten Physikern, bei Collegestudenten kaum zu dokumentierbaren Lernfortschritten führt.
Die zweite These, die sich daraufhin anbot, besteht in der Vermutung eines didaktischen Versagens der Methodik. Zwei Ansätze folgen hierauf: Interaktion und Gestaltung der Inhalte. Studien (zum Beispiel von Richard Hake oder Scott Freeman) zeigten, dass Interaktion zu wesentlich höheren Lernfortschritten führt. Wenn die Schüler bzw. Studenten sich Wissen gemeinsam und diskursiv aneignen, so behalten sie mehr davon. Diese Einsicht steht hinter dem Druck zur Gruppenarbeit. Das alte Gymnasium kannte diese überhaupt nicht. Heute ist die Gruppenarbeit Standard an Schulen und Universitäten. Doch hat sich der Wissenstransfer verbessert? Nichts deutet darauf hin. Das Problem der Interaktion sind stets die Interagierenden. Gruppenarbeit bedeutet in der Praxis oft nur verlangsamte Einzelarbeit. Manchmal, insbesondere im Studienfach Physik, funktioniert die Interaktionsdidaktik. Je homogener und interessierter die Gruppe, desto größer der Lernfortschritt. Doch Schüler und Studenten werden durch die Massenbeschulung und Massenakademisierung immer heterogener, während das Durchschnittsinteresse erfolgreich ausgetrieben wird. Demotivierte Schüler lasten dann den wenigen Strebern die Gruppenarbeit auf, sofern diese zu notenrelevanten Ergebnissen führen muss. Wirken sich die Ergebnisse nicht auf die Benotung aus, so verkommt die Gruppenarbeit zur Ausrede für Lehrer und Schüler, weniger produktiv zu sein. Interaktion ist nur dann wissensrelevant, wenn sie sokratisch erfolgt: Wenn sich echtes Interesse mit nötiger Kompetenz verbindet.
So bleibt der zweite Ansatz übrig: Könnte der mangelnde Wissensdurchsatz an falscher didaktischer Gestaltung liegen? In der Tat ist es beim Vortrag schwierig, die Aufmerksamkeit der Zuhörer durchgehend zu halten. Womöglich verstärkt sich diese Problematik durch die sinkenden Konzentrationsspannen junger Menschen aufgrund medialer Überreizung. Wenn das gesprochene Wort an der Tafel so wenig Aufmerksamkeit zu halten vermag, könnten dann nicht moderne didaktische Hilfsmittel hier dienlich sein? Dieser Gedanke steht hinter dem Druck zur Digitalisierung. Oft ist die Rede von der neuen Gattung des MOOC – Massive Open Online Course. Dabei handelt es sich um digital übertragene Lehreinheiten. Diese können schlichte Vorträge sein, aber der Kreativität bei der Gestaltung sind kaum Grenzen gesetzt. Es handelt sich um Videos oder Foliensätze, die Animationen erlauben. Krankt die Schule und Universität also bloß daran, dass sie vielleicht seit der Tafel nicht allzu viel technische Entwicklung erfahren hat?
Heutige Vorlesungssäle, insbesondere jene, die Staat, Banken oder Konzerne finanzieren, sind oft mit modernster Technik angefüllt. Günstiger und auch für den Heimgebrauch möglich wird die digitale Gestaltung freilich durch das Internet, wo es keine Säle mehr braucht, sondern die Schüler vor ihrem Schirm zuhause sitzen. Professorin Barbara Oakley hat diesen Weg gewählt und beglückwünscht sich in einem Artikel zu ihrem großen Erfolg: Sie hat den Kurs „Lernen lernen“* erstellt und hält ihn für einen der „weltweit populärsten MOOCs”, der bereits Leben verändert habe. Sie selbst habe für die Entwicklung dieses weltbesten Kurses nur $5.000 aufwenden müssen. Das erscheint schon hoch für eine Reihe von Videos, Texten und Multiple-Choice-Tests*. Doch sie begründet plausibel, warum es diesen Aufwand braucht und worin er bestehen sollte:
Von der hohen Geschwindigkeit bei Grand Theft Auto bis zum Geld, das in einem Trockner herumfliegt bei Breaking Bad, ist Bewegung ein wichtiger Aspekt, um tief in das Unterbewusstsein der Zuseher einzudringen und ihre Aufmerksamkeit zu halten. […] Durch den Einsatz von farbbasierter Bildfreistellung (“blue screen”) kann ich plötzlich von einer Seite des Bildschirms zur anderen tauchen. […] In der Tat ist einer der Tricks, den vergangene Größen der Wissenschaft verwendeten, die Vorstellung, sich direkt in die Sache zu transportieren, die sie zu verstehen versuchen. Einstein ist berühmt für seine Vorstellung, selbst einen Lichtstrahl zu verfolgen, was ihm bei der Formulierung der Relativitätstheorie half. Eine Technik, die oft beim persönlichen Vortrag verwendet wird, ist neben einem PowerPoint-Foliensatz zu stehen. Bei Imitation dieses Zugangs im Videoformat sehen wir oft einen kleinen sprechenden Kopf in der Bildschirmecke (was im Grunde, wegen des eingeschränkten Bewegungsspielraums, einem Standbild entspricht), während das Hauptbild […] auf dem übrigen Bildschirm vergrößert und diskutiert wird. Doch dieser Ansatz der „zwei Bilder” vergrößert in Wirklichkeit die kognitive Belastung des Lernenden. Mit zwei getrennten Bildern auf dem Schirm muss man zwei verschiedene Dinge zugleich verarbeiten. Die farbbasierte Bildfreistellung erlaubt einer Professorin hingegen, scheinbar um eine digital auf ihre Größe vergrößerte griechische Vase zu wandern. […] Diese filmische Verbindung von Professor und diskutiertem Objekt in einem Bild verringert die kognitive Belastung und konzentriert die Aufmerksamkeit der Studenten auf wichtige Details – sogar, wenn diese Details im wirklichen Leben sehr klein sind. All dies hat eine große Wirkung dabei, es für Studenten einfacher zu machen, Schlüsselideen zu verstehen.
Das Engagement und die Leidenschaft der Professorin sind in ihrem Kurs offensichtlich. Doch sie erliegt einigen Irrtümern, insbesondere dem großen Irrtum der fachlichen Neutralität didaktischer Methoden. Die Form bestimmt letztlich mehr über den Inhalt als den meisten bewusst ist. Ihre Videos erinnern an Kindersendungen. Die didaktischen Methoden sind also eigentlich uralt. Warum haben sie sich nicht an den höheren Schulen durchgesetzt?
Weil sie die letzten Assoziationen zwischen Hochschule und hohem Prestige zerstören würden. Selbst wenn die übliche Vorlesung wirkungslos sein sollte, so stellt sie doch eine etablierte Form dar. Formen kommunizieren etwas. An den Universitäten sollen die Formen nicht „Kindergarten” kommunizieren. Womöglich würde der durchschnittliche Student bei einer Kindersendung inhaltlich mehr mitnehmen als bei einer Vorlesung. Doch das sollte eher zu Frage führen, was der durchschnittliche Student an der Universitäten eigentlich macht und erwartet.
Die Konzentration auf die Form, also die Gestaltung der Inhalte, führt zur Auswahl von Inhalten. Ein unbewusster Prozess der Verdrängung des schwerer Darstellbaren durch das leichter Darstellbare setzt ein. Didaktisch engagierte Gestalter sind stets auf der Suche nach Bildern. Ihr Denken wird dadurch bildhaft. Das ist bei der Diskussion einer griechischen Vase womöglich durchaus wünschenswert und hilfreich. Bei der Diskussion geistiger und komplexer Phänomene allerdings oft abträglich bis gefährlich. Einfache Bilder üben eine verhängnisvolle Wirkung aus. In der Ökonomik regieren die Kurven, weil sie darstellbar sind. Sie helfen kaum beim Verständnis und führen zu zahlreichen Missverständnissen. Schaubilder setzen bildliche Inhalte voraus. Doch gilt das auch für schemenhaftere, abstrakte Tafelbilder, die gar auf Sprache beruhen?
Ich halte auch die Nutzung der Tafel, die moderne Technik gerade mühsam im Digitalen nachbildet, für einen Trade-off – einen Kompromiss, der nicht immer zugunsten des Inhaltes ausgeht. Die besten Tafelbilder, die ich kenne, sind jene des großen Rudolf Steiner. Hier traf abstrakt-geistiges auf künstlerisches Talent in beispielhaftem Maße. Doch bei aller Bedeutung und Genialität Steiners überwiegt bei mir doch der Eindruck, dass diese Tafelbilder als Abbild seines Denkens diesem eben auch als Stempel dienten. Das Abbild greift eben in beide Richtungen. Seine Tafelbilder sind zugleich Abbild und Vorbild seines Denkens, das bis ins Groteske schematisch ist, Analogien überdehnt und sich in die schwammige Esoterik verläuft, die zugleich hoch abstrakt, hoch schematisch und höchst bildhaft ist – das Denken wird damit zum abgehobenen Gesamtkunstwerk, anstatt die Realität zu beschreiben und verständlich zu machen. Realität, insbesondere im Menschlichen und Gesellschaftlichen, ist voll von Widersprüchen, Unschärfen und krummen Vorgeschichten des Denkens. Sie lässt sich nicht in die Taxonomien und Schemen einfacher Tafelbilder fassen. Hält die Tafel bloß wichtige Begriffe und manche Kausalbeziehung fest, so hilft sie zweifellos dem Zuhörer, doch bedeutet dies freilich eine kognitive Belastung für den Vortragenden. Darum ist es nur bei oft in ähnlicher Form wiederholten Vorträgen sinnvoll, Gedanken an das Tafelbild zu verschwenden – sonst sollte die gesamte Konzentration des Vortragenden dem Inhalt und seinem Publikum dienen, nicht der Form.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.