Bill Gates münzte in einem Artikel von 1996 eine Phrase aus dem Zeitschriftengewerbe auf das junge Internet um und prophezeite: Content is king – Inhalt ist Trumpf! Seine Prognose: „Ich erwarte, dass das meiste wirkliche Geld, das im Internet verdient werden wird, mit Content zu verdienen ist, so wie es beim Rundfunk war.” Diese Prognose kann man entweder als prophetisch oder als völlig an der Realität vorbei interpretieren, denn die tatsächliche Entwicklung zeigte zwar die Bedeutung von Inhalten, insbesondere Werbeinhalten, doch das große Geld machten und machen nicht Content-Produzenten, sondern die Content-Kanäle. Diese Kanalbetreiber profitieren vom Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Die Schwellen wurden immer niedriger, ein größeres Publikum zu erreichen – was natürlich für gewitzte Content-Produzenten auch ein großer Vorteil sein kann. Das Versprechen des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit ist aber werbewirksam verstärkt, es lässt sich nicht immer einlösen. Durch den intensiven Wettbewerb um Aufmerksamkeit stumpfen die Kanäle nach und nach ab. Die Dosis muss erhöht werden und führt zu weiterem Abstumpfen – ein Teufelskreislauf, dem man nur in immer neue Kanäle entkommen kann. Die Aufmerksamkeit des modernen Konsumenten ist schon nahezu völlig kanalisiert, allenfalls die Virtuelle Realität könnte noch eine umfassendere Bespielung ermöglichen.
Dieser Teufelskreislauf verschiebt nach und nach die Gewichtung zwischen Produktion und Marketing. Die geforderte Frequenz, die Dichte und die Sinnesansprache, um die Aufmerksamkeit zu halten, werden tendenziell höher. Damit saugt der Aufmerksamkeitsbedarf potentiell Ressourcen an sich. Die riesigen Möglichkeiten der Publikumsansprache können als Lockmittel zu einer falschen Allokation des Marketings führen. Kleine Betriebe beginnen dann, als Content-Produzenten tätig zu werden, um Aufmerksamkeit für ihre eigentlichen Produkte zu erlangen.
Natürlich lässt sich Marketing und Produktion nicht wirklich trennen – die Kundenansprache ist Teil der Produktion bzw. ein Produkt, von dem die Kunden nicht wissen, ist eben kein fertiges Produkt, sondern bestenfalls halbfertig. Doch diese ökonomisch irrige Trennung erweist sich als psychologisch sinnvolle Unterscheidung, um Fehlallokationen zu vermeiden. Ressourcen sind knapp, darum bedeutet ein höherer Marketingaufwand einen geringeren Aufwand für Produktion und Entwicklung. Natürlich gibt es – und da liegt die realistische Ökonomik richtig – keine objektiven Gewichtungen. Produktion im Sinne der materiellen Fertigung ist nicht notwendigerweise der größte Beitrag zur Wertschöpfung. Doch wenn wir kurz den ökonomischen Irrtum augenzwinkernd beibehalten (und uns dessen bewusst sind), fällt doch eine extreme Verschiebung auf, die für kleine Produzenten notwendig würde, wenn sie sich auf die Gebote der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung völlig einließen.
Die traditionelle Gewichtung zwischen Produktion und Marketing zeigt uns der Markttag auf: Landwirtschaftliche Produzenten begeben sich einen Halbtag in der Woche auf den Markt, die übrige Zeit ist der Produktion vorbehalten. Nach heutiger Gewichtung müssten sie sich wohl sechseinhalb Tage die Woche dem Marketing widmen und in einem Halbtag eilig ein paar Produktattrappen hervorbringen, die sie dann gut „vermarkten”. Je kleiner das Unternehmen, desto spürbarer die Aufwandsumleitung von Produktion und Entwicklung zum Marketing.
Kein Widerspruch ist die Aufwandsverschiebung zwischen Produktion und Marketing nur dann, wenn das Marketing selbst zum Produkt wird. Wenn Content, also interessanter Inhalt, Gegenstand des Marketings ist, sollte das eigentlich einen Vorteil für Content-Produzenten bedeuten. Leider geht dieses Kalkül nur dann einfach und offensichtlich auf, wenn der Gegenstand der Inhalte selbst Marketing ist. Ein Beispiel ist ein Newsletter über das Schreiben guter Newsletter. Dabei ist der Newsletter sowohl Marketing als auch Kostprobe weiterführender Produkte (digitale Bücher über die Kunst des Newsletterschreibens). Der Schuster kann nicht schnell mal einen Werbenewsletter für seine Kunden zusammenschustern, der Newsletterschreiber hingegen macht gar nichts anderes.
Ist das Produkt nicht selbst Marketing, sind wir beim Dilemma der Kostproben-Vermarktung. Ist die Kostprobe selbst etwas anderes als ein Vorgeschmack auf das Produkt, ist sie nicht so effektiv. Ein Schuster könnte Aufmerksamkeit für seine Schuhe generieren, indem er Artikel über das Wandern verfasst. Doch ein Wanderartikel ist ein anderes Produkt als ein Schuh, es gibt keinerlei Gewissheit, dass die Nachfrager des einen zum anderen „konvertieren” – um die theologische Sprache des modernen Marketings zu bemühen. Die kostenlosen Wanderartikel konkurrieren mit den Produzenten kostenpflichtiger Wanderartikel, nicht mit anderen Schustern. Wenn es eine direkte Kostprobe sein sollte, dann konkurriert sie mit dem eigenen Produkt. Während beim Anbieter von Marketing-Produkten die Kostprobe zumindest einen Marketing-Wert für den Anbieter hat, ist der Nutzen verschenkter Kostproben für die Anbieter anderer Produkte nicht so offensichtlich. Der Schuster, der Schuhe als Kostprobe verschenkt, untergräbt den eigenen Schuhverkauf. Wenn er halbe, billige, eingeschränkte Schuhe als Kostproben anbietet, dann wiederum hätte er negative Werbewirkung: Die Kostproben könnten als repräsentativ für sein Produkt gelten. Ähnlich geht es dem Content-Produzenten, dessen Inhalte keine Marketing-Inhalte sind: Der kostenlose Kostprobeninhalt ist entweder eine verwässerte Fassung des kostenpflichtigen Inhalts, und der könnte den Produzenten „unter Wert” verkaufen, oder er ist so gehaltvoll, dass er die Zahlungsbereitschaft für Inhalte schlechthin untergräbt – wenn es das Produkt schon kostenlos gibt, warum dafür bezahlen?
Die Marketing-Produkte haben hingegen einen Charakter, der an Pyramidenspiele erinnert. Die Versprechen lauten etwa so: „Lesen Sie meinen Blog darüber, wie sich mit Bloggen Geld verdienen lässt.” – „Kaufen Sie mein eBook darüber, wie sich mit eBooks Geld verdienen lässt.” Wenn die Kunden dann wiederum zu Produzenten von Marketing-Produkten werden, hat man es eigentlich mit einer Art Multilevel-Marketing zu tun. Viele digitale Produzenten leben von der Sehnsucht ihrer Kunden, ihren Lebensstil zu imitieren – den sie dazu natürlich werbewirksam übertreiben und hinausposaunen müssen. Der Frauenschwarm coacht Loser dabei, zu Frauenschwärmen zu werden – und fast alle dieser Coaches waren einmal Loser, die von anderen gecoacht wurden.
So mancher Schuster würde gewiss mehr Wertschöpfung dadurch leisten, zum Blogger oder Coach zu werden. Es gehört in einer dynamischen Welt dazu, eben nicht immer bei seinem Leisten zu bleiben. Doch die extreme Verschiebung der Gewichte ist auch ein Symptom einer verzerrten Blasenwirtschaft (siehe Hochkonjunktur der Dummheit).
So mancher Handwerker und Landwirt lebt dann eher von den Sehnsüchten der Menschen, die er mit Kursen und anderem Content bewirtschaftet, als von Handwerk oder Landwirtschaft. All das wäre wunderbar, wenn die Wirtschaftslage nachhaltig wäre. Doch nach der Korrektur der gegenwärtigen Verzerrungen könnte es zu viele Blogger und Coaches geben und zu wenige „Produzenten” – im ökonomisch irrigen, aber psychologisch klaren Sinne. Vor allem wenn immer mehr Produzenten den Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, ihren Leisten an den Nagel hängen und sich an die Produktion von kostenlosem Content machen. Gewiss könnte hier die Arbeitsteilung helfen – der Schuster aus unserem Beispiel könnte einen Blogger engagieren. Der massive Margendruck durch die künstlichen Skaleneffekte der verzerrten Wirtschaft lässt hierfür aber nicht viel Spielraum. Dann müsste der Mehrerlös aus der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung nämlich noch die Steuer- und Gebührenlawine mitfinanzieren. Realistischerweise geht sich das nur aus, wenn die Gewichteverschiebung erst recht einsetzt: Dann bleibt der Schuster vielleicht mehr als einen Halbtag bei seinem Leisten, ihm werden aber nicht viel mehr von den Erlösen bleiben als die eines Halbtages: Da ist es viel realistischer, dass ein Blogger einen Schuster anstellt als umgekehrt – denn wenn das Aufmerksamkeitswagnis gelingt, dann ist es für die Dauer des Hypes der wesentliche Teil der Wertschöpfung. Wie so manche Crowdfundingkampagne zeigt, reicht vom realen Produkt auch eine werbewirksam photographierte Attrappe – was symbolisch für die Gewichtsverschiebung steht. Nachhaltig kann dieses Ungleichgewicht freilich kaum sein, wenn bei immer mehr Produkten der größte Teil der Wertschöpfung in der Aufmerksamkeitsdurchdringung steckt.
Diese Art der Wertschöpfung könnte man als Memufaktur bezeichnen – die Kombination von „Mem” (virales Internet-Phänomen) und Produktion. Ein Blick nach China verrät mehr über die aktuelle Dynamik dieser Produktionsverlagerung und nährt die skeptische Perspektive, die nicht auf platter Werbefeindlichkeit oder ökonomischem Unverständnis beruht, sondern sensibel für die Symptome nicht nachhaltiger Blasenphänomene ist.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.