Die gesellschaftliche Polarisierung unserer Tage scheint an den Universitäten nicht durch Erkenntnisdrang gemildert, sondern merkwürdigerweise noch verstärkt. Die alte Devise des Studiums sine ire ac studio – ohne Wüten und Eifern – hat offenbar keine Gültigkeit mehr. Abgelöst wurde diese Einstellung durch politische Korrektheit und Unkorrektheit: Erstere begrenzt einen immer engeren Parcours des freien Denkens, letztere provoziert bewusst mit politischer Zielsetzung. Diese Hochspannung eskalierte vor einiger Zeit an der Universität Berkeley, USA, wo die Kampftruppen der politischen Korrektheit (“social justice warriors”) auf die Kampftruppen der politischen Unkorrektheit (“alt-right warriors”) stießen – in voller Kampfmontur, mit folgendem Blutvergießen. Noch war die Zahl der filmenden Smartphones größer als die Zahl der prügelnden Stöcke und Ketten, aber – wie es scheint – sind die Studenten auf den Geschmack gekommen. Diese Form der Didaktik hält auch die Aufmerksamkeit wesentlich besser als die Vorlesungen, quasi als angewandte Gruppenarbeit der Erkenntnis mit filmischer Dramaturgie.
Vielleicht können solche Rituale die alten Initiationsriten ersetzen, die einst an der Universität üblich waren. Diese waren bewusst nicht jugendfrei und nahmen Schmerzen und Schmach in Kauf, um eine Hürde zu bilden: Die Funktion eines Initiationsritus ist stets, einen Übergang in eine neue Lebensphase zu markieren, und sich den Ernst dieses Übergangs völlig klar zu machen. Zwar fasste die mittelalterliche Universität teilweise wesentlich jüngere Studenten als heute, doch die Infantilität scheint heute den Klimax zu erreichen. Ein Aspekt des Erwachsenwerdens ist, die Konsequenzen seines Tuns zu tragen: Wer Gewalt sät, sollte Gewalt ernten. Darum hat die Initiation oft einen Gewaltbezug – nicht um die Gewalt zu verherrlichen, sondern eine Lernerfahrung über ihre Folgen zu erzwingen. Für eine Beteiligte in Berkeley hätte es eine Lernerfahrung sein können: Eine Studentin hatte zuvor angekündigt, ideologische Gegner für Meinungsverbrechen zu „skalpieren”. Als sie zur Tat schreiten wollte, wehrte sich aber die Rothaut mit einem Faustschlag und behielt den Skalp.
An alten oder neuen Initiationsriten dieser Art liegt mir wenig, sie im Umfeld einer Universität zu sehen, sollte peinlich sein. Ich würde bloß argumentieren, dass hier ein natürliches Korrektiv liegt: Eine Institution, die sich über dem Niveau eines Kindergartens wähnt, wird auf Infantilisierung mit Initiationsriten antworten. Bloß die Initiationsriten wegzulassen, führt noch nicht automatisch zu höherer Reife. Der Verzicht auf konkrete, physische Initiationsriten kann auch zum Verbleib in einer Parallelwelt führen, die man in Japan den Kokon nennt: der Umstand, dass besonders verwöhnte Einzelkinder, die in hohem Wohlstand aufwachsen, völlig das Gefühl für die Wirklichkeit verlieren und nur noch in virtuellen, digitalen oder ideologischen Scheinwelten leben.
Eine toxische Symbiose bildet das Phänomen der politischen Korrektheit nun mit dem gegenwärtigen Geschäftsmodell der Universitäten – der möglichst raschen und skalierbaren Ausstattung von Massen mit Bildungs-Zertifikaten. Dies führt zu einer Dynamik, die Ökonomen als moralischen Wagemut (moral hazard) bezeichnen. Studenten haben den Anreiz, eigenes Versagen (schlechte Studien- und Prüfungsleistungen) auf das Lehrpersonal abzuwälzen. Die hierfür verwendeten Vorwände sind Diskriminierung, Sexismus, nicht Gender-neutrale Sprache, mangelnde Inklusion etc. Die meisten Professoren und Lektoren geben diesem Druck mit einer Inflationierung von guten Noten bei – durch massive Herabsetzung des Prüfungsniveaus. Alle anderen verlassen, freiwillig oder unfreiwillig, den Lehrbetrieb. Bislang nur in den USA und nur im Digitalen können auch die Truppen der politischen Unkorrektheit einen vergleichbaren Druck aufbringen. An manchen US-Universitäten regt sich deutlicher Widerstand. Ein Beispiel, das einige Wellen geschlagen hat, war der Willkommensbrief der University of Chicago an Erstsemester. Studiendekan John Ellison wandte sich darin wie folgt an neu eingeschriebene Studenten:
Unsere Verpflichtung zu akademischer Freiheit heißt, dass wir keine sogenannten Trigger-Warnungen unterstützen, dass wir keinen eingeladenen Vortragenden absagen, weil sich ihre Themen als kontrovers erweisen könnten, und dass wir die Schaffung von intellektuellen „Schutzräumen” nicht billigen, in die sich Einzelne vor Ideen und Ansichten, die ihren eigenen entgegenstehen, zurückziehen können.
Auch in Europa nimmt die Zahl an plötzlichen Karriereenden von „unkorrekten” Professoren zu, und die Angst regiert in den Vorlesungssälen. Studenten notieren ideologische Abweichungen und nützen diese, um Druck auf unliebsame Professoren auszuüben. Schon die Einladung von nicht genehmen Vortragenden hat oft Konsequenzen.
Für Alumni und andere Beobachter des gegenwärtigen Universitätsbetriebes rätselhaft bleibt die scheinbar widerspruchslose Kooperation der Kader – von hochrangigen Professoren bis Assistenzlektoren – mit dem gegenwärtigen Angst-Regime. Neben verständlichen Karriereängsten und Furcht vor Rufmordkampagnen, die insbesondere in Zeiten der digitalen Medien sofort enorme Reichweiten haben können, stellt insbesondere die enorme Aufblähung von administrativen Positionen bei gleichzeitigem Abbau von Lehrpersonal ein fundamentales Problem dar. An der Elite-Universität Yale beispielsweise ist in den letzten Jahren die Anzahl an Lehrkräften um vier Prozent zurückgegangen, während administrative Stellen um 25 Prozent erhöht wurden. Diese Verbürokratisierung führt einerseits zu einer qualitativ schlechteren Lehre, in der ISO-Zertifizierungen und „Kooperationen” aller Art wichtiger sind als intellektuelle Redlichkeit und analytische Schärfe, sowie zu einer schleichenden Machtverschiebung von strengen Professoren zu formalistischen Beamten. Ein Artikel eines US-Professors, der die Infantilisierung an amerikanischen Universitäten beklagt, bestätigt diese Dynamik:
1975 hatten Universitäten fast doppelt so viele Professoren wie Verwaltungsangestellte; vierzig Jahre später gibt es mehr von letzteren als von ersteren. In diesem Zeitraum wuchs die Zahl von gewöhnlichen Verwaltungsangestellten um 85 Prozent, während die Zahl des sogenannten ‘professional staff’ – Buchhalter, Berater etc. – um erstaunliche 240 Prozent explodierte.
Die Verwaltungskader können ihre Existenz durch Pseudo-Projekte gegen Rassismus, Sexismus, „Mikro-Aggression” etc. rechtfertigen, was wiederum die Nachfrage nach bürokratischen Lösungen für entsprechende Probleme auf dem Campus anheizt. Darum scheinen die Verwaltungskader die Proteste von Studenten nicht nur hinzunehmen, sondern sogar zu fördern:
Die heutigen Verwaltungsmitarbeiter ergreifen Partei für die protestierenden Studenten und versprechen – nicht ohne Zufall – „Besserung” durch Einstellung von mehr Beamten. Einige Hochschulen versprachen „Diversitäts-Verantwortliche” einzustellen, andere eigene „Diversitäts-Schulungen” einzurichten, wieder andere kündigten die Einrichtung neuer multikultureller Beratungsstellen speziell für Studenten von ethnischen Minderheiten an.
Eine Hand wäscht offenbar die andere. Im Kontrast zu den Protesten der 1960er Jahre fordern die Studenten heute nicht weniger Regulierung seitens der Universitätsverwaltung, sondern mehr. Dies geht einher mit einer etatistischen Grundhaltung, die nur kindisch Zugeständnisse, Förderungen und Vorteile fordern, aber keine Zugeständnisse mehr gewähren kann. Der Staat dankt diese Grundhaltung dadurch, dass das Ergreifen von Maßnahmen gegen „Diskriminierung” offenbar auch durch staatliche Interventionen befördert wird, die wiederum den Kadern mehr Posten verschaffen:
Ein stetig unübersichtlicher werdender Irrgarten von Regulierungen auf Landes- und Bundesstaatenebene machte die Einstellung neuer Kommissare notwendig, um rechtliche Konformität sicherzustellen. Als Beispiel können die unlängst erlassenen landesweiten Vorschriften unter Abschnitt IX des US-Bildungsgesetzes herangezogen werden, die Universitäten zur Einrichtung von Systemen und Prozeduren zur Vermeidung und Bestrafung von sexuellen Übergriffen verpflichten. Die Universitäten werden gezwungen, dutzende Berater sowie Ermittler einzustellen, um nicht zu riskieren, gegen die neuen Verordnungen zu verstoßen.
Verschärft wird die Lage durch spezifische Charakterzüge, die sich in der aktuellen Generation der Millenials verdichten. Es ist spöttisch die Rede von „snowflakes”, Sensibelchen, die jede Widerrede persönlich nehmen, jede Hürde als feindlichen Akt interpretieren und eigenes Versagen stets auf die Umwelt ausreden.
Warum geht diese Polarisierung an den Universitäten von den USA aus und warum pflanzt sie sich weltweit fort?
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.