Der Eindruck, dass das Geldsystem an einem Scheideweg stehen könnte, scheint sich auszubreiten, und damit wächst wieder das Interesse an Geldtheorie. Eher als mit einem konstruierten System haben wir es aber mit dem Ergebnis von Konstruktionsversuchen, Konstruktionsfehlern und Lernprozessen zu tun. Joseph Schumpeter gab einmal sinngemäss den Hinweis, der Zustand des Geldwesens einer Gesellschaft sei ein Symptom aller gesellschaftlichen Zustände.
Die Menschheitsgeschichte ist vor allem durch zwei gesellschaftliche Zustände geprägt, die bis heute unsere Intuition dominieren. Die längste Zeit lebten Menschen gar nicht in einer Gesellschaft, sondern in kleinen Gemeinschaften auf Subsistenzniveau. Darin gab es vielfältige Formen des Tausches, aber Geld entwickelte sich kaum über Strukturen sozialer Schuld hinaus.
Diese Erfahrung prägt noch immer viele Geldtheorien und erklärt viele Reaktionen auf modernere Geldphänomene. Doch diese Lebensform ist eine statische: Starre soziale Rollen verhindern Innovation. Die Menschen sind sich eng vertraut, doch Vertrauen im modernen Sinne kann nicht entstehen: Die Zuverlässigkeit, die komplexe Kooperation möglich macht, benötigt aktives Zutun statt fatalistisches Fügen in Kontexte und Rollen.
Der zweite dominante Zustand begann in den alten Hochkulturen und weist deutlich grössere Dynamik auf – darum handelt es sich um die Wiege der Zivilisation. Karl Wittfogel sprach von der «hydraulischen Gesellschaft». Gekennzeichnet sind diese Gesellschaften durch eine planmässige Zuteilungswirtschaft mit pyramidenhafter Hierarchie.
Geld entsteht als Steuereinheit und Steuerungsmittel. Die sogenannte staatliche Theorie des Geldes, die in der Modern Monetary Theory einen Neuaufguss erlebt, gilt für solche Umverteilungsimperien. Sie kranken an geringer Autonomie, was sich früher oder später in Verschwendung, schwindender Innovation und mangelnder Anpassungsfähigkeit zeigt.
Vom Geld zur Währung
Die moderne Wohlstandsexplosion ist einer kurzen Ausnahme zu verdanken, einem dritten gesellschaftlichen Zustand, der Grundlage wesentlicher Elemente des modernen Geldwesens ist. Diese Wohlstandsexplosion wird völlig unterschätzt, daher auch die relative Bedeutung der absolut winzigen Ausnahme übersehen. 97% des materiellen Wohlstands der Menschheit wurden in den letzten 0,01% der Wirtschaftsgeschichte geschaffen.
Es handelt sich um einen Zustand des Überwiegens arbeitsteiliger Kooperation unter Fremden bei genügend privater Autonomie für vom Status quo abweichende Investitionsentscheidungen. Dieser gesellschaftliche Zustand ist einer der Abstraktion: Vertrauen in Verträge, Prozesse und Strukturen tritt an die Stelle der persönlichen Vertrautheit.
Eine autonome Dynamik wird möglich: Individuen können abweichendes Wissen in einer wachsenden gesellschaftlichen Wissensteilung unternehmerisch hebeln. Als Kooperationsmittel ist Geld dafür von grösster Bedeutung. Um die wichtigeren Transaktionen über die Zeit zu ermöglichen, löst sich das Geld vom persönlichen oder hierarchischen Kontext. Das lateinische «pecunia non olet» könnte diese Abstraktion gut beschreiben: Geld verrät seine Herkunft nicht mehr – es wird zu Währung.
Güter mit einer höheren Absatzfähigkeit werden in einem spontanen Prozess als «geldiger» entdeckt. Es geht nun um formale und funktionale Eigenschaften. Solches Geld bildet als letztes schuldbefreiendes Zahlungsmittel die Basis immer komplexerer Kooperationsformen auf Güter-, Geld- und Kapitalmärkten. Es dient dem Saldenabgleich von Vertrauensbeziehungen und soll daher selbst so wenig Vertrauen wie möglich voraussetzen. Im abendländischen Grosshandel setzte sich einst Gold durch.
Weit wichtiger als die heute überschätzten Mikrokredite war dabei das Mikrosparen: die Möglichkeit, autonome Liquidität für den privaten Erwerb von Kapitalgütern bereitzuhalten, um sie abweichend von den vorherrschenden Plänen einzusetzen. Dieser Vorgang entkoppelte die Geldmenge von der Geldproduktion.
Die unternehmerische Dynamik führt jedoch notwendig dazu, dass die Liquiditätsverteilung Potenzgesetzen zu folgen beginnt: Es ist nicht mehr absehbar und kontrollierbar, wer in welchem Ausmass über die Güter einer Gesellschaft verfügt. Das widerspricht der Intuition, die an die älteren Gesellschaftszustände angepasst ist. Die Folge ist ein Kampf gegen das «Horten», der die Politik und die Ideengeschichte fast ausnahmslos durchzieht. Er zeigt sich in Sabbatjahren, Zinsverboten, Münzverrufungen, Preisinterventionen und fast ständigen Versuchen, die Geldmenge zu erhöhen.
Doch die «Euthanasie des Rentiers» (Keynes) führt nicht zur Geburt des innovativen Investors. Unternehmertum misslingt unter normalen Bedingungen meistens und den meisten. Diese Ungleichheit ist jedoch ebenso eine dynamische und daher gerade für die Ärmsten und Erfolglosen wesentlich günstiger als die statische Ungleichheit der Vergangenheit, die durch soziale Rollen oder Herrschaftspositionen determiniert war.
Der Kampf gegen das Horten bringt nicht das Horten aus der Welt, sondern verschiebt es vom abstrakten Geld in konkrete Vermögenswerte und führt so zur Verschwendung realer Güter. Wie die meisten Interventionen hat auch diese paradoxe Folgen: Die Ungleichheit steigt, wird dabei aber statischer und verkrusteter. Beim Nullzins scheinen alle geldpolitischen Forderungen der Geschichte endlich erfüllt, doch die versprochene Wirkung bleibt aus. Zum Glück lässt sich die unternehmerische Dynamik nicht mehr so leicht aus der Welt bringen.
Die Nationalisierung des Geldes im Zuge der Weltkriege, übersehener Grund der dramatischen Wirtschaftskrisen, hatte neue künstliche Ungewissheit geschaffen und beinahe den Welthandel dauerhaft zum Erliegen gebracht. Geld war nicht mehr neutraler Mittler, sondern Instrument der Politik. Unternehmerische Lernprozesse fanden Lücken und Möglichkeiten und liessen als Reaktion den Derivatmarkt entstehen, ohne den es heute keinen Welthandel mehr gäbe. Wieder zeigt sich aber die potenzgesetzliche Verteilung: Neue Bereiche, die fast niemand versteht, antizipiert oder kennt, hebeln sich zu wertmässig gigantischer Bedeutung hoch.
Verarmung ist im Gang
Leider muss immer mehr unternehmerische Kreativität zur Schadensbegrenzung eingesetzt werden. In der Sowjetunion lagen die unternehmerischen Ressourcen grossteils in Behördenkontakten, Schmuggelrouten, Stempeln und Schmiergeldflüssen. Immerhin 40% der gesamten Wertschöpfung könnten diesen Unternehmern zu verdanken gewesen sein, so gehen Schätzungen. Doch wie schade um all die sinnvolleren Wirkmöglichkeiten des Unternehmertums, um all den Wohlstand und all die Innovation, die der Welt verwehrt blieben.
Der gewaltig ausgedehnten globalen Arbeits- und Wissensteilung ist es zu verdanken, dass trotz globalen Wettlaufs der Geldschöpfung die Wertschöpfung bislang zumindest so weit Schritt halten konnte, dass die stattfindende Verarmung gegen das moderne Wohlstandswunder noch gering scheint. Sollten die Interventionsspiralen der Geldpolitik wieder die weltweite Kooperation zum Stocken bringen, droht ein tiefer Fall.
Optimistisch kann da allenfalls stimmen, dass die Fallhöhe wiederum das Finden versteckter unternehmerischer Auswege motiviert, die dann aber meist kostspielige Umwege sind. Das Feld der Kryptowährungen hätte etwa gewiss nicht diese Dynamik entfaltet, wenn es nicht eine Prämie dafür gäbe, Kapitalverkehrskontrollen, eine Alles-Blase der Korrelation aller herkömmlichen Vermögenswerte und regulatorische Ungewissheit zu umgehen.
Zuerst erschienen bei Finanz & Wirtschaft