Mängel im Geld- oder Finanzsystem zu erkennen, ist ein Gemeinplatz. Fast jedes politische Lager, jede gesellschaftskritische Strömung, jeder Reformansatz vermutet diese. Doch die Einigkeit über die konkreten Mängel selbst ist gering, noch geringer ist sie nur über die möglichen Verbesserungsansätze. Lösungsvorschläge gibt es viele, doch die mangelnde Einigkeit ist eine demokratische Schwelle, die auch etwas Gutes hat: Sie schützt uns vor falschen und voreiligen Lösungen. Was, wenn die Rezepte der Geldreformer mehr Schaden als Nutzen anrichten? Ideen und gute Intentionen sind zu wenig, in der Wirklichkeit erweisen sich die besten Pläne und Absichten oft als gefährliche Irrwege.
Der bessere und ungefährlichere Weg ist der über die Experimente von Pionieren. Die Geschichte ist voll von alternativen Geld- und Finanzstrukturen. Manches hatte lokal starke Wirkung. Doch bislang blieben alle alternativen Experimente, wenn sie nicht auf Zwang und Gewalt zurückgreifen konnten, eng begrenzt. Wenige überlebten, nichts wirkte global als Vorbild einer realistisch erreichbaren, besseren Geldordnung.
Der Grund dafür liegt in der Besonderheit von Geld. Es hat dann die größte Bedeutung, wenn das Vertrauen am geringsten ist: wenn entfernte Fremde kooperieren. Familien und kleine Gemeinschaften benötigen Geld eigentlich nicht, eine akribische Gegenrechnung mit völliger Loslösung beliebig ersetzbarer Geldeinheiten von den handelnden Personen und ihren gewachsenen Beziehungen ist oft sogar schädlich.
Dieses Paradoxon des Geldes erklärt nicht nur einen großen Teil der Ablehnung von Geld – weshalb einige Reformansätze die Geldlosigkeit erstreben –, sondern auch die Schwierigkeit von kleinen Experimenten. Wo das Vertrauen groß genug ist, alternativen Abrechnungssystemen zu vertrauen, ist der Bedarf an Geld klein. Wo der Bedarf an Geld aber groß ist, in der fernen Welt globaler Zahlungen, Unternehmensfinanzierungen und Vermögensanlagen, dort fehlt das Vertrauen, unerprobten Rezepten einzelner Geldverbesserer zu folgen – denn wer kommt für den Schaden auf, wenn es schiefgeht? Experimente gehen fast immer schief!
Dass sich ein besseres Geld also wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Misstrauens ziehen kann, wäre ein Wunder. Immer mehr Menschen in aller Welt sind überzeugt, ein solches Wunder miterlebt zu haben. Das erklärt die oft religiös anmutende Begeisterung für ein Geldexperiment, das in den konkreten Details zunächst allzu abstrakt, ungewiss und technisch anmutet: Bitcoin!
Aus einem Nischenexperiment weniger Cypherpunks – einer kleinen Strömung fortschrittsfreundlicher Freiheitsfreunde und technikkundiger Überwachungsgegner – ist mittlerweile ein globales Phänomen geworden. Bitcoin wird in aller Welt für Zahlungen, als Anlage, als Besicherung und als digitale Infrastruktur verwendet. Die relativ stärkste Nutzung erfährt es in jenen Staaten, in denen Menschen für ihre Ansichten verfolgt und von internationalen Zahlungssystemen ausgeschlossen werden, während korrupte Politik ihre Heimwährungen dramatischem Wertverfall aussetzt.
Die empirische Realität der Bitcoin-Nutzung ist beeindruckend: Sie ist eine der wenigen verbliebenen Dynamiken, die Menschen in Afrika und Europa in freiwilliger Weise auf gleicher Augenhöhe verbindet. Völlig unabhängig von aktuellen Kursen wächst die Zahl der Abermillionen kleinen Bitcoin-Nutzer, die monatlich in Bitcoin sparen – in einer Geldform, die ohne Erlaubnis und geschützt vor dem Zugriff totalitärer Staaten bei geringsten Kosten zensurfrei international versendet, bewegt und verteilt werden kann.
Doch ist Bitcoin auch besseres Geld? Für uns privilegierte Europäer ist die Frage nicht so einfach zu beantworten; in der aufstrebenden Welt abseits unserer Blase ist die Antwort klar. Ein junger Afrikaner hat nichts von der Euro- oder Dollar-Schöpfung in unseren Finanzzentren, welche die globale Ungleichheit laufend vergrößert. Bitcoin hingegen ist jedem zugänglich, kann von jedem – individuell oder gemeinsam in basisdemokratischen Vertrauensstrukturen – ohne jeden Finanzintermediär gehalten werden. Die Blockchain – die fälschungssichere Datenbank aller Transaktionen – ist für jeden transparent, so auch der Algorithmus. Bitcoin ist Open-Source-Software, nicht Privileg von wenigen, sondern offene Infrastruktur für viele.
Im gegenwärtigen Finanzsystem fließen – intransparent und letztlich willkürlich – immense Dollar- und Euro-Beträge an Banken, Fonds und Staaten in Schieflage und an die Halter bestimmter Vermögenswerte. Diese systemischen Bail-Outs sozialisieren private Verlustrisiken und werden als alternativlos verkauft. Die Alternativlosigkeit folgt aus der fragilen Komplexität des Geldsystems, die in der Tat Reformansätze abschmettert.
Die Inspiration für Bitcoin war der ungerechte Bail-Out nach der großen Finanzkrise 2008. Doch es war kein politisches Projekt; diese Inspiration ist subtil in den ersten Einträgen der Datenbank versteckt. Bitcoin trotzte der Alternativlosigkeit, indem es als freiwilliges Experiment antrat, das zunächst kaum jemand ernst nahm. So konnte das Netzwerk ungestört wachsen – und könnte bald “too big to fail” sein, in ironischer Umkehrung der heutigen Finanzwirtschaft: nicht als willkürlich von oben zugesprochenes Privileg für wenige, sondern von unten als Alternative der vielen.
Andere utopische Geldideen mögen besser scheinen und viel mehr versprechen. Nur Bitcoin funktioniert bislang als neutrales Werkzeug – egal, wie sehr wir uns misstrauen, wie groß unsere ideologischen und kulturellen Unterschiede und wie stark die Widerstände von etablierten Interessen sind. Allein damit schon ist es besseres Geld: Es verbindet in einer Zeit der Polarisierung, der geopolitischen Gegensätze und Zukunftsängste die unterschiedlichsten Menschen in aller Welt peer-to-peer, in philanthropischen Projekten und NGOs, in Unternehmungen und der vielleicht einzigen systemkritischen Bewegung, die nicht ängstliche Reaktion und apokalyptische Panik ist, sondern voll positiver Energie und Hoffnung.
Wie aber steht es um die “Nachhaltigkeit”? Bitcoin wird oft wegen hohen Energieverbrauchs und der Ungleichheit zwischen frühen und späteren Einsteigern kritisiert. Doch gerade der Begriff “Nachhaltigkeit”, sollte die langfristige Entwicklung betrachten und nicht bloß eine statische Momentaufnahme. Bitcoin ist nicht nur die Industrie mit dem größten Anteil an erneuerbarer Energie, sondern auch jene, in welcher die Energiewende am schnellsten vorangeht – ohne Verbote und Subventionen, die stets zu Verzerrungen und Gegenreaktionen führen.
Es ist ein häufiger Irrtum, den Energieverbrauch dem Netzwerk und Zahlungssystem Bitcoin zuzuschreiben. Tatsächlich wird die Energie von jenen aufgewandt, die Zugang zu günstigerer Energie haben, und so durch Schürfen neuer bitcoin (die Einheit, zur Unterscheidung kleingeschrieben) billiger zu diesen kommen können aus durch Zukauf. Dieser Energieaufwand ist dezentraler Schutzmechanismus für das Netzwerk, eine für alle gleiche Schwelle zum Zugang zu neuen bitcoin, deren Gesamtmenge beschränkt ist und deren Neuemission gegen null geht. Die günstigste Energie ist erneuerbare oder ungenutzte Energie, die sonst verschwendet wird – oder im schlimmsten Fall in die Atmosphäre abgefackelt wird. Bitcoin-Schürfen tendiert daher langfristig zur Klimaneutralität. Die Umweltschäden durch bestehende Vermögenswerte (wie etwa leer stehende Anlageimmobilien) sind nicht nur ungleich höher als jene, die der Wettbewerb um bitcoin verursacht, sondern auch die Tendenz ist trotz politischer Massnahmen weit weniger günstig.
Noch gravierender ist der Unterschied bei der Ungleichheit. Bitcoin ist das einzige Anlagegut, das langfristig einen sinkenden Gini-Koeffizienten aufweist, das heißt, dass bitcoin gleichmäßiger verteilt werden. Frühe Einsteiger konnten bitcoin zwar viel günstiger erwerben und schürfen – doch damals war die Ungewissheit auch so groß und die Infrastruktur so unzureichend, dass die meisten Früheinsteiger den Einstieg gewaltig vermasselten. Je später, desto kürzer die Lernkurve, desto größer die (überwiegend kostenlose und ehrenamtliche) Unterstützung, desto mehr und bessere technische Werkzeuge, desto höher die Akzeptanz und desto einfacher die Nutzung.
Während alle anderen Anlagegüter die wachsende Ungleichheit durch ungerechte Geldschöpfung im Finanzsystem widerspiegeln, wächst die Zahl der kleinen Bitcoin-Nutzer laufend, die in aller Welt dieselbe niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit haben, egal wie arm oder politisch unterdrückt. Sogar jene, die am letzten Höchstkurs in Bitcoin einstiegen und dem richtigen und wichtigen Rat folgten, nicht zu zocken, sondern ihre kleinen Ersparnisse stetig in “sats” (satoshi ist die eigentliche Einheit, 100 Millionen davon sind 1 bitcoin) zu sichern, haben fast jede andere Anlage geschlagen – vor allem die der hoch bezahlten Fondsmanager in den Finanzzentren.
Aus dieser Richtung kommt auch der größte Widerstand – denn es handelt sich um die erste Demokratisierung der Vermögensanlage, an der Finanzintermediäre nichts verdienen können. Daher richtet sich das Interesse der Bankiers und Financiers überwiegend auf kurzfristige Hypes wie “Blockchain”, “Crypto”, “NFT”, unter denen Venture-Kapital nach neuen Bereicherungsmöglichkeiten und Pyramidenspielen heischt – während die eigentliche Revolution nahezu unbemerkt stattfindet. Bitcoin ist vielleicht nicht das beste denkbare, aber wahrscheinlich das beste real existierende und ökologisch und sozial “nachhaltigste” Geld unter realen – nicht utopischen – Bedingungen.
Zuerst erschienen im Forum Nachhaltig Wirtschaften