Erneut spaltet ein aktuelles Thema quer durch alle Lager. So wurden auch meine letzten Randnotizen erstmals wütend kommentiert. Ich warb für ein wenig Verständnis für die jeweilige Gegenseite. Freiheitsfreunde zählen oft eher zu den vernunftorientierten Menschen. Auch ich bin natürlich mehr der Vernunft als dem Gefühl zugeneigt. Doch es ist nicht immer einfach, vernünftig zu sein, denn unsere Vernunft ist primär darauf ausgelegt, ein Instrument unserer Interessen und Ideologien zu sein. Die Ratio rationalisiert öfter, als dass sie der reinen Erkenntnis dient.
Würden die aktuellen politischen Interventionen kleinen Selbständigen einen Vorteil verschaffen und Staatsabhängigen stärker zusetzen, wären sie dann bei Freiheitsfreunden willkommener? Ich hoffe nicht, aber da die Interventionen eher umgekehrte Folgen haben, können wir es nicht wissen. Würde Merkel die deutschen Grenzen als einzige offen halten und darauf beharren, dass das neue Virus weder neu noch irgendwie bedrohlich sei, wie viele Freiheitsfreunde würden dann wütend Videos teilen, die Merkel zur potentiellen Massenmörderin abstempeln? Ich hoffe, nur wenige, aber das können wir nicht wissen.
Überhaupt wissen wir bei aktuellen Fragen angesichts der unglaublichen Aufmerksamkeit, des wütenden Politisierens und des heute unvermeidlichen Lagerdenkens stets frustrierend wenig. Abschließende Beurteilungen müssen manchmal eine Generation warten, oft länger, gelegentlich gelingt die Aufklärung niemals. Es ist daher auch sinnlos, beim Handeln auf Gewissheit zu warten. Wir können Handlungen, und dazu zählen auch Urteile, oft nicht an ihren Konsequenzen messen, denn deren Gewissheit kommt zu spät oder gar nicht. Immer wieder können wir aber Rückschau halten, um Fehler zu erkennen.
Fehler sind nicht bloß Unterschiede zwischen Ergebnis und Intention. Ergebnis und Intention können übereinstimmen, und dennoch kann die Handlung ein Fehler gewesen sein: wenn Ergebnis und Intention nur korrelieren und nicht kausal verbunden sind. Diese Fehler sind oft die gefährlichsten, weil sie so leicht zu übersehen sind und wir dann nichts aus ihnen lernen. Politiker haben Maßnahmen gesetzt, und die Ansteckungskurven haben sich verflacht. Politischer Erfolg? Oder Bestärkung der Lernunfähigkeit?
Ergebnis und Intention können auch übereinstimmen, weil sich eine unwahrscheinliche Prämisse als richtig erwiesen hat. Die besten und wichtigsten Handlungen sind oft dieser Art: erfolgreiche unternehmerische Entscheidungen, das Abweichen von Dissidenten – die für eine Gesellschaft und Wirtschaft so wichtigen „Contrarians“. Ein Erfolgsrezept ist das aber keines. Die meisten Unternehmer scheitern. Die meisten „Contrarians“ sind Spinner. Unwahrscheinliche Ansätze sind meistens falsch, sonst wären sie nicht unwahrscheinlich.
Erkenntnissuche verstärkt angesichts der Ungewissheit und Komplexität der Welt meist die Zweifel. Steigendes Wissen mindert die Ungewissheit kaum, oft entscheiden wir mit mehr Wissen nicht besser, sondern schlechter. Das ist kein Argument gegen die Vernunft, aber eines, das erklärt, warum Denker und Macher selten aus demselben Holz geschnitzt sind. Macher benötigen Gewissheit. Gegen die Ungewissheit helfen Intuitionen. Können diese nicht greifen, weil der Kurs zu stark vom Bekannten und Anerkannten abweicht, dann helfen Interessen und Ideologien. Auch auf der Basis von falschen Prämissen gefundene Gewissheit kann zu zielführendem Handeln motivieren. Ist dieses Handeln dann ein Fehler? Ich halte solches Handeln für falsch, obwohl es im Resultat richtig ist. Ebenso kann man sich auf der Basis von richtigen Prämissen zu einem Handeln entscheiden, das letztlich nicht zielführend ist. Ich halte solches Handeln für richtig, obwohl es im Resultat falsch ist.
Der Leser ist gewiss schon ungeduldig. In Krisenzeiten sind das die meisten, denn die Theorie erweckt in diesen Zeiten immer den Eindruck, zu spät zu kommen. In Zeiten der Ungewissheit wächst das Bedürfnis nach Gewissheiten, das ohnehin immer schon das dominante ist – weshalb sich viel mehr Menschen für das Politisieren interessieren als für wirklich unternehmerisches Andersmachen und Bessermachen. Politik lebt davon, Gewissheit vorzutäuschen. Deshalb eint und spaltet sie zugleich.
Ich werde also ein wenig konkreter. Vor einer Pandemie mit Grippeähnlichkeit besorgt zu sein, ist richtig. RNS-Viren sind veränderlich, und eine neue Rekombination, die hohe Letalität (bei der Vogelgrippe zum Beispiel 60 Prozent) mit hoher Infektiosität (R0 bei Masern zum Beispiel 15) verbindet, ist nie auszuschließen – etwa durch lange Inkubationszeit, asymptotische Übertragung oder Spätfolgen. Im Nachhinein kann sich diese Sorge als nicht zielführend erweisen, weil jegliches Handeln irrelevant war – etwa weil die überwiegende Zahl an Mutationen keine Verschlimmerung der Lage bedeuten, und die überwiegende Zahl der Viren völlig harmlos, viele sogar gutartig sind.
Der schlimmste Umgang mit Ungewissheit ist derjenige, der von der Sorglosigkeit in die Panik kippt. Ungewissheit unterscheidet sich von Ignoranz. Ignoranz ist Desinteresse an der Welt, ob aus Fatalismus oder Bequemlichkeit. Ungewissheit erfahren wir erst in der Konfrontation mit der Realität. Das plötzliche Kippen von Ignoranz in Ungewissheit verunsichert, weil auf die Ungewissheit eben oft nicht gleich Gewissheit folgt, sondern meist weitere und wachsende Ungewissheit. Dann drängt es zu den falschen Gewissheiten, der Ungeduld, der Verachtung für Denker und dem Klammern an Interessen und Ideologien.
Ignoranz ist manchmal sogar vernünftig und meistens besser als die Panik. Diese „rationale“ Ignoranz erkennt die Opportunitätskosten des Versuchs, zu Gewissheit zu gelangen oder Ungewissheit zu schultern. Sie hält sich an einfache Regeln, an das selbst Überschaubare und direkt Beeinflussbare. Zum Glück drängt das Gemüt manche Menschen zu mehr und Größerem. Oft gehört dazu Selbstüberschätzung und Geltungsdrang. Zu unserem Unglück ist der politische Weg dazu bequemer als der unternehmerische.
Ursprünglich erschienen auf eigentümlich frei