Das Jahr 2020 ist das Jahr der Extreme. Erklärt dieser Umstand, warum auch die Polarisierung zwischen extremen Ansichten neue Höhen erreicht? Überwiegend hat die aktuelle Pandemiepanik nur Entwicklungen beschleunigt, die ohnedies schon länger im Gange waren. Auch die Polarisierung zwischen völlig konträren Filterblasen ist eine schon ältere Tendenz. So verursacht die Pandemie weniger die Polarisierung, als die Polarisierung die Wahrnehmung der Pandemie prägt. Immer mehr kommt es dabei zu einer Dämonisierung der jeweils anderen Position. Die Bestimmtheit, mit der schwankende Meinungsfolger stets Abweichler suchen und aburteilen, sobald sie wieder in ein neues Leitthema gekippt sind, legt die Annahme nahe, dass wir es mit einer kollektiven psychischen Störung zu tun haben. Sind wir modernen Menschen dabei, unseren Verstand zu verlieren?
Von kollektiven Geisteskrankheiten schrieb schon Carl Gustav Jung, von der tiefen Orientierungskrise des modernen Menschen Viktor Frankl, vom Unbehagen in der Kultur Sigmund Freud. Eine dynamische, verbundene – moderne – Welt setzt Menschen unter Spannung, was gewiss nicht durchwegs schlecht sein kann. Erst eine künstliche Verstärkung von Spannungen bei gleichzeitigem Ausdehnen von Sinnleere führt zu sich häufenden Störungen. Solche Störungen auf gesellschaftlicher Ebene gab es immer schon, doch sie wirken nicht immer gleich stark. Der Eindruck einer beschleunigten Zunahme solcher Gestörtheit ist aktuell schwer von der Hand zu weisen.
Filterblasen in den «sozialen Medien»
Die Schieflagen und Spannungen der Geldordnung – oder vielmehr interventionistischen Geldunordnung – mit ihrer Nährung überdehnter, sinnleerer Wirtschaftsformen bieten eine Basis künstlicher Überspanntheit. Diese trifft auf ein erschreckendes Versagen der Deutungseliten, vor allem in den traditionellen Medien. Es handelt sich um Eliten mit völlig aufgeblasenem Selbstverständnis als Erzieher und «vierte Gewalt». Tatsächlich versagen sie bei der Orientierung, zum Teil aus prinzipienloser Aufmerksamkeitsbewirtschaftung, zum Teil aus ideologischer Selbstüberschätzung als moralische Lehrmeister für dumme Untertanen, deren vermeintliche «Aufklärung» immer nur herablassende Belehrung, nie wirklich empathische Emporhebung ist. Bei aller berechtigten Empörung über letztere Eigenschaft, die wesentlicher Grund für den Vertrauensverlust in diese Deutungseliten ist, sollte man ihre Bedeutung nicht überschätzen. Das Gerede von einer «Lügenpresse» ist Wutventil einer Filterblase abgehängter Schichten, die auf der Suche nach neuer Orientierung immer absurdere Narrative für wahrscheinlich halten, wenn sie nur dem Hauptstrom widersprechen.
Die Polarisierung wird zwar von den traditionellen Medien – in völligem Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis – keineswegs gemildert, sondern befeuert. Da können sie noch so viel «Aufklärung» betreiben und auf «Fakten» beharren – die offensichtliche Voreingenommenheit, vor allem von sich selbst, wird zu Recht als heuchlerisch wahrgenommen. Die Filterblasen scheinen eine Domäne der «sozialen Medien» zu sein. Diese Wahrnehmung ist aber nur zum Teil richtig. Durch «soziale Medien» nahm die Zahl an Filterblasen zu, die Harmonie der einen nationalen Filterblase ist dahin. Wer das betrauert, hat sich für den chinesischen Weg entschieden, was völlig inkompatibel mit der Selbstwahrnehmung, wenn auch leider nicht mit den unbewussten Präferenzen der meisten Journalisten ist.
Die wachsende Vielfalt der Filterblasen ist grundsätzlich positiv. Negativ ist die immer raschere Konvergenz zu wenigen besonders lauten Hauptblasen, die sich mit ihrem Getöse gegenseitig nähren, und – nachdem sie ihren Verstand verlieren – dem Rest den Verstand rauben. Hier leistete die Pandemie wohl eine Verstärkung. Die falsch als «soziale Distanzierung» bezeichnete physische Distanzierung pferchte die Menschen in die digitalen Räume. Die beliebtesten davon sind aufgrund ihres Konstruktionsfehlers eher als «unsoziale Medien» zu bezeichnen. Ein katastrophales Geschäftsmodell wurde durch die aktuelle Geldunordnung völlig überdehnt. Nicht nur drängen sich Menschen mit – dank Coronaferien – grosser Tagesfreizeit nun auf den digitalen Plattformen, die Pandemie und die anderen Erschütterungen dieses verrückten Jahres befeuern den immer schon übertriebenen und ungesunden Neuigkeitsdurst der Menschen zu einem Nachrichtenwahn: der völligen Vereinnahmung der Aufmerksamkeit durch Tagesthemen. Das aktuelle Geschehen hat den geringsten geistigen Nährwert, denn es ist in der Regel noch völlig unverstanden, fehlgedeutet oder falsch gewichtet.
Dieses Zusammenpferchen der Geister in Raum und Zeit, in digitale «Streams» und auf aktuelle Bezüge, bietet perfekte Bedingungen für die gefährlichste Art von Pandemien: Die kollektive Ansteckung mit Gedankenviren. Richard Dawkins prägte diese Analogie. Er wendete sie allerdings falsch auf traditionelle Religionen an, was eher dem Engagement eines Freigeistes als der Analyse eines Wissenschaftlers entspringt. Dieses Engagement ist nach G.K. Chesterton ein «Kampf gegen Grossmütter», wie die aktuelle Pandemie beweist: In vergangenen Zeiten reagierte man gegen ungewisse Bedrohungen wie Seuchen mit massenreligiösem Eifer. Heute ordnet sich die Kirche ganz selbstverständlich unter und hält per Dekret die Türen geschlossen. Die wahren Autoritäten und die wirkmächtigen Dogmen liegen anderswo.
Für «Meme», die empirisch betrachtet Nachkommenschaft und Wohlbefinden erhöhen, ist «Gedankenvirus» keine gute Analogie – egal, was man von Wahrheit oder Moral dieser Anschauungen halten mag. Eric Voegelin hatte zuvor den für die Moderne angemesseneren Fokus auf die Viralität von «politischen Religionen» gelegt. Darin erkannte er Geistesinhalte, die er als «Traumbilder» und «Ausdruck einer wilden, mit Ressentiments geladenen Herrschsucht» bewertete. Diese führen einem «Versuch der Weltvernichtung», welche «nur die Unordnung in der Gesellschaft» steigere.
Geistige Vorerkrankungen
Für Schaden an der Gesellschaft taugt die Virus-Analogie nicht, wenn dieser die Folge des Vorteils einzelner Menschen oder Gruppen ist. Interessen sind keine Gedankenviren, sondern rationale Motive. Auch, was nach aussen hin verrückt erscheint, kann tieferen Sinn haben. Ein Beispiel: Die aktuelle Überdehnung der politischen Korrektheit wird von vielen für ein ideologisches Überbleibsel des Marxismus gehalten. Viel plausibler ist ausgerechnet die marxistische Deutung: Es handelt sich dabei vor allem um eine Taktik der Akademikerklasse, die Arbeiterklasse aus Positionen von Einfluss und Ansehen zu verdrängen. Erstere ist aufgrund ihres eigenen rasanten Wachstums in steigender Angst vor dem Abstieg in das «Prekariat». Auch der wachsende ideologische Druck auf Professoren ist am einfachsten über die Klasseninteressen von Studenten und Verwaltungsbediensteten zu erklären und das «Deplatforming» über die kommerziellen Interessen der Plattformbetreiber.
Als Gedankenviren können eher Anschauungen gelten, die Menschen in ihren eigenen Interessen behindern, sie lähmen, sie irre werden lassen, ihren Blick auf die Welt so trüben, dass sie nicht nur keine Nachkommen hinterlassen, sondern zum Selbsthass schreiten – bis zur eigenen Existenzvernichtung. Es sind jene Gedankenviren, die vernunftbegabte Menschen zu «nützlichen Idioten» machen. Dann befördern sie die Interessen weniger auf Kosten der vielen, sogar der eigenen. Solche Gedankenviren nisten sich vor allem dort ein, wo die Immunität durch geistige Vorerkrankungen wie Feigheit, Geltungsdrang und Mitläufertum herabgesetzt ist.
Ursprünglich veröffentlicht in Finanz und Wirtschaft