Frustrierte Studenten der Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre suchen zunehmend nach realistischeren Alternativen. Nach der Wirtschaftskrise 2007/08 schien auch die ökonomische Wissenschaft in eine Krise zu geraten. Willem Buiter, Professor an der London School of Economics und ehemaliger Chefvolkswirt der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, war gar zu dem Schluss gelangt, dass sich die Forschungsansätze der Volkswirte „bestenfalls als selbstbezügliche, nach innen gerichtete Ablenkungen” erwiesen hätten:
Die Forschung tendierte dazu, eher von der internen Logik, dem intellektuellen versunkenen Kapital und den ästhetischen Rätseln etablierter Forschungsprogramme motiviert zu sein als von einem starken Drang, zu verstehen, wie die Wirtschaft funktioniert – geschweige denn, wie die Wirtschaft in Zeiten von Stress und finanzieller Instabilität funktioniert. Daher wurde der Berufsstand der Ökonomen von der Krise völlig unvorbereitet getroffen.
Im Zuge geldschöpfender, von unten nach oben umverteilender Krisenverdrängung wird die Sache derzeit freilich nicht mehr so dramatisch gesehen. War zunächst im Moment der Verblüffung tatsächlich kurz Aufmerksamkeit vorhanden für eine epistemologische Infragestellung der Ökonomik, gar für die Infragestellung ihrer Wissenschaftlichkeit, ist der Diskurs nun zum gewohnten leisen Störrauschen heterodoxer Einwände zurückgekehrt: Allerlei ökonomische Schulen, Denkgebäude und Moden wetteifern darum, in kleinen Nischen ein wenig vom Glanze der Wissenschaft für ihre ideologischen Wunschvorstellungen auszuborgen.
Eine dieser vermeintlich heterodoxen Schulen schätze ich und unterrichte sie seit einem guten Jahrzehnt als einziger „österreichischer Österreicher” an Universitäten: die Wiener Tradition realistischer Ökonomik. Doch möchte ich diesmal kein Plädoyer für diesen Ansatz halten, sondern einige Irrtümer über Ökonomik, Studien und erwähnte Tradition im Speziellen ausräumen. Im nicht-öffentlichen Teil dieser Scholie kann ich mir konkretere Warnungen und Empfehlungen erlauben.
Die „Österreichische” oder „Wiener” Schule hat ihren Namen daher, dass sich das alte Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eines der wissenschaftlichen und kulturellen Zentren Europas einen Namen machte. Dabei fiel aber auf, dass es eine gewisse Häufung von Unterschieden in Methodik, Zugang und Stil im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Universitätsstädten gab. Insbesondere in den Sozialwissenschaften sammelten sich in Wien realistische, nüchterne und wertneutrale Zugänge, ohne freilich jemals eine Schule im Sinne ideologischer Geschlossenheit auszubilden. Die damaligen österreichischen Ökonomen von Weltrang hoben sich von der deutschen historischen Schule und anderen ökonomischen Deutungsversuchen durch ihre Skepsis gegenüber völkischen, mystischen, polylogistischen, metaphysischen, aber auch deterministisch-materialistischen Zugängen zu ökonomischen Phänomenen ab. Die Wiener Ökonomen studierten Rechts- und Staatswissenschaften, waren also Teil der juridischen Fakultät, während die Berliner Ökonomen Teil der philosophischen Fakultät waren. Das alte Wien war im Ganzen etwas realistischer geprägt als das idealistische Berlin.
Der hohe Anteil von Juden im Wissenschaftsbetrieb und das Ende der Lehrfreiheit unter dem National-Sozialismus führten zum Absterben der österreichischen Universitäten und damit zur Emigration fast aller akademischen Traditionen. Die „Österreichische Schule” wurde damit aus ihrem Kontext gelöst. Zwar überlebte sie durch verstärkte Rezeption in den USA, doch vollzog sich dabei auch eine gewisse Umwandlung, die zu zwei Fehlannahmen über diese „Schule” führte: Erstens wird sie nun gemeinhin für eine heterodoxe, ideologisch motivierte Strömung der Wirtschaftspolitik gehalten. Die ideologische Vereinnahmung erfolgt zunächst als Gegenreaktion auf den amerikanischen Faschismus, der vor allem von Franklin D. Roosevelt vorangetrieben wurde. Diese Ideologisierung war von besten Absichten getrieben und schützte die Ökonomik der Wiener Schule immerhin vor einer Vereinnahmung durch Bürokraten und Karriereökonomen. Doch damit geriet der wissenschaftliche Anspruch etwas in den Hintergrund. Bis heute dominiert die Wahrnehmung bei Gegnern wie Adepten, dass die „Austrian School” eine politische Programmatik sei, die rhetorische und propagandistische Überzeugungsarbeit erfordere. An ergebnisoffenem Diskurs herrscht auf beiden Seiten wenig Interesse.
Das zweite Missverständnis ist die Einordnung als universitäres Nischenfach. Die Praxis der alten Wiener Schule lebte in interdisziplinären Seminaren, an denen die bedeutendsten Denker der unterschiedlichsten Fachrichtungen zusammenkamen. Niemals war die Wiener Schule ein Curriculum mit lehrplanmäßigen Fächern. Die alte Universität kannte nur drei allgemeine Fachrichtungen nach dem philosophischen Grundstudium: Theologie, Medizin und Rechtswissenschaft. In Wien umfasste das Studium der Rechtswissenschaft insbesondere Geschichte, Statistik, Staatswissenschaft, Finanzwissenschaft und Ökonomik. Die Denker der alten Wiener Schule waren universalgebildete Gelehrte, nicht „Volkswirte” nach heutigem Verständnis. Friedrich A. von Hayek warnte immer wieder deutlich vor diesem Missverständnis, die Ökonomik als Einzelfach betreiben zu wollen, sie gar – in Analogie zur griechischen Urbedeutung – als praktische Berufsausbildung anzusehen.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.