Leben wir in einem Rechtsstaat oder bereits in einem Unrechtsstaat? Sind Staat und Recht Bedingungen oder Gegensätze? Was ist die Grundlage des Rechts und der Gerechtigkeit? Gibt es Alternativen zur
Themen
Richard, Taghizadegan, Martland, Gabb, Model: Discussion – Q&A (PFS 2016)
Diskussion im Rahmen des jährlichen Treffens der Property and Freedom Society im Jahre 2016
Marketing versus Produktion? – Die Dynamiken der Memufaktur
Dieser Teufelskreislauf verschiebt nach und nach die Gewichtung zwischen Produktion und Marketing. Die geforderte Frequenz, die Dichte und die Sinnesansprache, um die Aufmerksamkeit zu halten, werden tendenziell höher. Damit saugt der Aufmerksamkeitsbedarf potentiell Ressourcen an sich. Die riesigen Möglichkeiten der Publikumsansprache können als Lockmittel zu einer falschen Allokation des Marketings führen. Kleine Betriebe beginnen dann, als Content-Produzenten tätig zu werden, um Aufmerksamkeit für ihre eigentlichen Produkte zu erlangen.
Natürlich lässt sich Marketing und Produktion nicht wirklich trennen – die Kundenansprache ist Teil der Produktion bzw. ein Produkt, von dem die Kunden nicht wissen, ist eben kein fertiges Produkt, sondern bestenfalls halbfertig. Doch diese ökonomisch irrige Trennung erweist sich als psychologisch sinnvolle Unterscheidung, um Fehlallokationen zu vermeiden. Ressourcen sind knapp, darum bedeutet ein höherer Marketingaufwand einen geringeren Aufwand für Produktion und Entwicklung. Natürlich gibt es – und da liegt die realistische Ökonomik richtig – keine objektiven Gewichtungen. Produktion im Sinne der materiellen Fertigung ist nicht notwendigerweise der größte Beitrag zur Wertschöpfung. Doch wenn wir kurz den ökonomischen Irrtum augenzwinkernd beibehalten (und uns dessen bewusst sind), fällt doch eine extreme Verschiebung auf, die für kleine Produzenten notwendig würde, wenn sie sich auf die Gebote der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung völlig einließen.
Die traditionelle Gewichtung zwischen Produktion und Marketing zeigt uns der Markttag auf: Landwirtschaftliche Produzenten begeben sich einen Halbtag in der Woche auf den Markt, die übrige Zeit ist der Produktion vorbehalten. Nach heutiger Gewichtung müssten sie sich wohl sechseinhalb Tage die Woche dem Marketing widmen und in einem Halbtag eilig ein paar Produktattrappen hervorbringen, die sie dann gut „vermarkten”. Je kleiner das Unternehmen, desto spürbarer die Aufwandsumleitung von Produktion und Entwicklung zum Marketing.
Kein Widerspruch ist die Aufwandsverschiebung zwischen Produktion und Marketing nur dann, wenn das Marketing selbst zum Produkt wird. Wenn Content, also interessanter Inhalt, Gegenstand des Marketings ist, sollte das eigentlich einen Vorteil für Content-Produzenten bedeuten. Leider geht dieses Kalkül nur dann einfach und offensichtlich auf, wenn der Gegenstand der Inhalte selbst Marketing ist. Ein Beispiel ist ein Newsletter über das Schreiben guter Newsletter. Dabei ist der Newsletter sowohl Marketing als auch Kostprobe weiterführender Produkte (digitale Bücher über die Kunst des Newsletterschreibens). Der Schuster kann nicht schnell mal einen Werbenewsletter für seine Kunden zusammenschustern, der Newsletterschreiber hingegen macht gar nichts anderes.
Ist das Produkt nicht selbst Marketing, sind wir beim Dilemma der Kostproben-Vermarktung. Ist die Kostprobe selbst etwas anderes als ein Vorgeschmack auf das Produkt, ist sie nicht so effektiv. Ein Schuster könnte Aufmerksamkeit für seine Schuhe generieren, indem er Artikel über das Wandern verfasst. Doch ein Wanderartikel ist ein anderes Produkt als ein Schuh, es gibt keinerlei Gewissheit, dass die Nachfrager des einen zum anderen „konvertieren” – um die theologische Sprache des modernen Marketings zu bemühen. Die kostenlosen Wanderartikel konkurrieren mit den Produzenten kostenpflichtiger Wanderartikel, nicht mit anderen Schustern. Wenn es eine direkte Kostprobe sein sollte, dann konkurriert sie mit dem eigenen Produkt. Während beim Anbieter von Marketing-Produkten die Kostprobe zumindest einen Marketing-Wert für den Anbieter hat, ist der Nutzen verschenkter Kostproben für die Anbieter anderer Produkte nicht so offensichtlich. Der Schuster, der Schuhe als Kostprobe verschenkt, untergräbt den eigenen Schuhverkauf. Wenn er halbe, billige, eingeschränkte Schuhe als Kostproben anbietet, dann wiederum hätte er negative Werbewirkung: Die Kostproben könnten als repräsentativ für sein Produkt gelten. Ähnlich geht es dem Content-Produzenten, dessen Inhalte keine Marketing-Inhalte sind: Der kostenlose Kostprobeninhalt ist entweder eine verwässerte Fassung des kostenpflichtigen Inhalts, und der könnte den Produzenten „unter Wert” verkaufen, oder er ist so gehaltvoll, dass er die Zahlungsbereitschaft für Inhalte schlechthin untergräbt – wenn es das Produkt schon kostenlos gibt, warum dafür bezahlen?
Die Marketing-Produkte haben hingegen einen Charakter, der an Pyramidenspiele erinnert. Die Versprechen lauten etwa so: „Lesen Sie meinen Blog darüber, wie sich mit Bloggen Geld verdienen lässt.” – „Kaufen Sie mein eBook darüber, wie sich mit eBooks Geld verdienen lässt.” Wenn die Kunden dann wiederum zu Produzenten von Marketing-Produkten werden, hat man es eigentlich mit einer Art Multilevel-Marketing zu tun. Viele digitale Produzenten leben von der Sehnsucht ihrer Kunden, ihren Lebensstil zu imitieren – den sie dazu natürlich werbewirksam übertreiben und hinausposaunen müssen. Der Frauenschwarm coacht Loser dabei, zu Frauenschwärmen zu werden – und fast alle dieser Coaches waren einmal Loser, die von anderen gecoacht wurden.
So mancher Schuster würde gewiss mehr Wertschöpfung dadurch leisten, zum Blogger oder Coach zu werden. Es gehört in einer dynamischen Welt dazu, eben nicht immer bei seinem Leisten zu bleiben. Doch die extreme Verschiebung der Gewichte ist auch ein Symptom einer verzerrten Blasenwirtschaft (siehe Hochkonjunktur der Dummheit).
So mancher Handwerker und Landwirt lebt dann eher von den Sehnsüchten der Menschen, die er mit Kursen und anderem Content bewirtschaftet, als von Handwerk oder Landwirtschaft. All das wäre wunderbar, wenn die Wirtschaftslage nachhaltig wäre. Doch nach der Korrektur der gegenwärtigen Verzerrungen könnte es zu viele Blogger und Coaches geben und zu wenige „Produzenten” – im ökonomisch irrigen, aber psychologisch klaren Sinne. Vor allem wenn immer mehr Produzenten den Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, ihren Leisten an den Nagel hängen und sich an die Produktion von kostenlosem Content machen. Gewiss könnte hier die Arbeitsteilung helfen – der Schuster aus unserem Beispiel könnte einen Blogger engagieren. Der massive Margendruck durch die künstlichen Skaleneffekte der verzerrten Wirtschaft lässt hierfür aber nicht viel Spielraum. Dann müsste der Mehrerlös aus der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung nämlich noch die Steuer- und Gebührenlawine mitfinanzieren. Realistischerweise geht sich das nur aus, wenn die Gewichteverschiebung erst recht einsetzt: Dann bleibt der Schuster vielleicht mehr als einen Halbtag bei seinem Leisten, ihm werden aber nicht viel mehr von den Erlösen bleiben als die eines Halbtages: Da ist es viel realistischer, dass ein Blogger einen Schuster anstellt als umgekehrt – denn wenn das Aufmerksamkeitswagnis gelingt, dann ist es für die Dauer des Hypes der wesentliche Teil der Wertschöpfung. Wie so manche Crowdfundingkampagne zeigt, reicht vom realen Produkt auch eine werbewirksam photographierte Attrappe – was symbolisch für die Gewichtsverschiebung steht. Nachhaltig kann dieses Ungleichgewicht freilich kaum sein, wenn bei immer mehr Produkten der größte Teil der Wertschöpfung in der Aufmerksamkeitsdurchdringung steckt.
Diese Art der Wertschöpfung könnte man als Memufaktur bezeichnen – die Kombination von „Mem” (virales Internet-Phänomen) und Produktion. Ein Blick nach China verrät mehr über die aktuelle Dynamik dieser Produktionsverlagerung und nährt die skeptische Perspektive, die nicht auf platter Werbefeindlichkeit oder ökonomischem Unverständnis beruht, sondern sensibel für die Symptome nicht nachhaltiger Blasenphänomene ist.
Rahim Taghizadegan – On the Rise and Fall of the University (PFS 2016)
Rahim Taghizadegan – On the Rise and Fall of the University (PFS 2016)
Helikoptergeld – Ende des Systems
Hinter diesem Vorschlag stehen drei grundverschiedene Aspekte, die auseinanderzuhalten sind. Erstens handelt es sich um einen Schritt der Verzweiflung, mit dem keynesianische Ankurbelung gegen die Absichten der Menschen durchgedrückt werden soll. Die Hoffnung ist, dass zusätzliche Liquidität – die sich in steigender Teuerung zeigen würde – zu Wertschöpfung führt, die den stockenden Konjunkturmotor wieder zum Laufen bringen könnte. Diese Logik ist zwar populär, aber falsch.
Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass durch Helikoptergeld die Preise bestimmter Konsumgüter und Dienstleistungen steigen werden. Dies wird aber nicht das Symptom neuer Wertschöpfung sein, sondern bloß erhöhten Konsums. Der unerwartete Geldsegen wird vorrangig in jene Luxusgüter gehen, die sich Menschen typischerweise nach kleineren Lotteriegewinnen gönnen: Reisen, elektronische Spielzeuge, Mode, Mahlzeiten und Erlebnisse.
Investitionen in neue Unternehmen können nicht in beliebiger Höhe erfolgen. Die plötzlichen kleinen Zuwendungen werden also kaum zu neuen Investitionen führen, abgesehen von der Flucht in absatzfähige Vermögenswerte, an der es auch heute nicht mangelt. Die vernünftigsten Empfänger werden ihre Schulden zurückzahlen – ganz im Gegensatz zur Intention der Geldmengenausweitung. Dass Teuerung von Konsumgütern als Symptom der Wirtschaftsbelebung angesehen wird, ist eine verhängnisvolle Täuschung. Keine Volkswirtschaft kann sich reichkonsumieren, sowenig wie sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann.
Zweitens ist Helikoptergeld ein erster Schritt, das Bankensystem von der Geldschöpfung zu trennen. Dies stößt auf das Wohlwollen der Vertreter eines sogenannten „Vollgeldes”, die zu Recht die Privilegierung von Banken kritisieren. Als Erstempfänger bzw. Urheber von Liquidität profitieren Banken durch den Cantilloneffekt gegenüber späteren Empfängern dieser Liquidität durch die verzögerte Teuerung. Da die Geldschöpfung mit Kreditvergabe einhergeht, erweisen sich aktuelle Währungen als Schuldgeld.
Jede Geldmengenausweitung geht mit einer Ausweitung des gesellschaftlichen Verschuldungsgrades einher, was der Volatilität der Konjunkturzyklen zusätzliche soziale Brisanz gibt. Die bankenlose und damit kreditfreie Geldschöpfung wäre zweifellos sozial gleichmäßiger – was zunächst gerechter erscheint.
Doch trotz der ungerechten Privilegierung des Bankenkartells, die zur Bereicherung gewisser Schichten führt, darf man die funktionellen Vorzüge eines Schuldgeldes nicht übersehen: Es setzt private Anreize der Disziplinierung. Banken haben – trotz der Verzerrungen durch Bail-outs und anderer Privilegien – noch immer Anreize, zumindest eine gewisse Disziplin bei der Kreditmengenausweitung walten zu lassen. Kredite werden in Aussicht auf Rückzahlung vergeben. Während die Kreditgeldschöpfung inflationär ist, wirkt die Kreditrückzahlung deflationär entgegen.
Schuldtitel sind die wesentliche Wertdeckung des heutigen Geldsystems. Helikoptergeld löst wie Null- oder Negativzinsen diese Wertdeckung auf. Damit gehen die Anreize zu privater Partizipation und Kooperation im Finanzsystem verloren. Zentralbanken und Vollgeldvertreter kritisieren teilweise zu Recht die Macht privater Banken bei der Geldschöpfung.
Vor kurzem bezog etwa die Bank of England in einer Analyse eine Position, die konträr zu volkswirtschaftlichen Lehrbüchern steht, indem sie Geschäftsbanken zu den alleinigen Urhebern der Geldschöpfung erklärte. Doch auch eine vermeintlich „demokratische” Kontrolle der Geldschöpfung würde letztlich geldpolitische Willkür bedeuten, wenn das disziplinierende Gegengewicht von profitkalkulierenden Akteuren fehlt.
Hier sind wir beim dritten Aspekt des Helikoptergelds: Es wäre der ehrliche Abschluss einer Wandlung des Geldsystems vom Warengeld über das Schuldgeld zum Zeichengeld. Letzteres bedeutet ein Geld, das keine Gegenseite in der Bilanz mehr hat, sondern reines Konventionszeichen ist. Dass das moderne Geldsystem diesen Zustand schon erreicht hat und daher die volkswirtschaftlichen Lehrbücher umgeschrieben werden müssten, ist die Position der postkeynesianischen „Modern Monetary Theory”.
Eigentlich handelt es sich dabei um eine Wiederbelebung der alten Staatstheorie des Geldes nach Georg F. Knapp, auch bekannt als Chartalismus. Die moderne Fassung dieser Theorie geht davon aus, dass die Staatsfinanzierung heute nicht mehr über Steuern erfolgt und Staatsschulden keine wirklichen Schulden sind, da die monopolistische Möglichkeit der Geldproduktion eine theoretisch unbeschränkte Ausgabe von Zeichengeld ermöglicht. In diesem Modell gibt es keine grundsätzliche Beschränkung der Staatsausgaben.
Steuern dienen nur der Steuerung der Nachfrage, besonders der Geldnachfrage, und Staatsbankrotte sind ein Ding der Unmöglichkeit – sofern Souveränität über die Geldschöpfung besteht. Daher wäre Austeritätspolitik verfehlt, denn die Ökonomie der MMT steht auf dem Kopf: Steuerforderungen führen zur Geldnachfrage, Geldnachfrage führt zum Güterangebot, das wiederum auf staatliches Geldangebot angewiesen ist.
Mit dem fortgesetzten Brechen aller traditionellen Regeln der Geldpolitik nähert sich die Realität immer mehr dem Modell der MMT an. Zu seiner Geburtsstunde war der Chartalismus völlig falsch und bald ökonomisch widerlegt. Doch wenn die Realität nicht mit dem Modell übereinstimmt, umso schlechter für die Realität – so die Devise der modernen Ökonomik. Das Geld- und Finanzsystem hat einen schleichenden Wandel erfahren, bei dem politische Willkür und Ungerechtigkeit immer wieder die Erwartungen von Sparern und Produzenten durchkreuzt haben.
In einem reinen Zeichengeldsystem werden Bilanzierungstricks, die heute um sich greifen, unnötig, weil die Illusion von ausgeglichenen Bilanzen aufgegeben wird. In diesem Sinne wäre der Übergang zum Zeichengeld ehrlicher, zudem würde die Verschuldungsspirale aufgebrochen.
Doch so faszinierend der Gedanke sein mag, so unwägbar sind die Folgen. Zeichengeld ist in noch größerem Ausmaß Vertrauensgeld. Schon das Schuldgeld beruht auf Vertrauen, aber es lohnt dieses zumindest durch die eingebaute Bereicherungsmöglichkeit. In einer Zeit schwindenden und zunehmend verspielten Vertrauens würde über einem Zeichengeld stets das Damoklesschwert völliger Wertvernichtung stehen. Rationale Akteure hätten noch größere Anreize, das Zeichengeld ehest möglich abzustoßen.
Helikoptergeld ist zwar ehrlicher und transparenter. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass es bei einer kurzzeitigen Notlösung bliebe. Viel eher wäre es Präzedenzfall und symbolische Markierung des Endes des bisherigen Geldsystems.
Freiwilliges Zeichengeld ist ein interessantes Experiment. Die Entfernung der privaten Anreize aus der momentanen Geldordnung, in der sich die meisten Sparer gar noch so verhalten, als hätten sie es mit Warengeld zu tun, wäre jedoch eine gefährliche Täuschung. Sie könnte den finalen Vertrauensverlust nach sich ziehen. Zeichengeld ohne Vertrauen aber bedeutet zuerst Geldzwang (um die Flucht aus dem Zeichengeld zu verhindern) und schließlich totale Zwangswirtschaft.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.