Diskussion im Rahmen des jährlichen Treffens der Property and Freedom Society im Jahre 2016
Themen
Marketing versus Produktion? – Die Dynamiken der Memufaktur
Dieser Teufelskreislauf verschiebt nach und nach die Gewichtung zwischen Produktion und Marketing. Die geforderte Frequenz, die Dichte und die Sinnesansprache, um die Aufmerksamkeit zu halten, werden tendenziell höher. Damit saugt der Aufmerksamkeitsbedarf potentiell Ressourcen an sich. Die riesigen Möglichkeiten der Publikumsansprache können als Lockmittel zu einer falschen Allokation des Marketings führen. Kleine Betriebe beginnen dann, als Content-Produzenten tätig zu werden, um Aufmerksamkeit für ihre eigentlichen Produkte zu erlangen.
Natürlich lässt sich Marketing und Produktion nicht wirklich trennen – die Kundenansprache ist Teil der Produktion bzw. ein Produkt, von dem die Kunden nicht wissen, ist eben kein fertiges Produkt, sondern bestenfalls halbfertig. Doch diese ökonomisch irrige Trennung erweist sich als psychologisch sinnvolle Unterscheidung, um Fehlallokationen zu vermeiden. Ressourcen sind knapp, darum bedeutet ein höherer Marketingaufwand einen geringeren Aufwand für Produktion und Entwicklung. Natürlich gibt es – und da liegt die realistische Ökonomik richtig – keine objektiven Gewichtungen. Produktion im Sinne der materiellen Fertigung ist nicht notwendigerweise der größte Beitrag zur Wertschöpfung. Doch wenn wir kurz den ökonomischen Irrtum augenzwinkernd beibehalten (und uns dessen bewusst sind), fällt doch eine extreme Verschiebung auf, die für kleine Produzenten notwendig würde, wenn sie sich auf die Gebote der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung völlig einließen.
Die traditionelle Gewichtung zwischen Produktion und Marketing zeigt uns der Markttag auf: Landwirtschaftliche Produzenten begeben sich einen Halbtag in der Woche auf den Markt, die übrige Zeit ist der Produktion vorbehalten. Nach heutiger Gewichtung müssten sie sich wohl sechseinhalb Tage die Woche dem Marketing widmen und in einem Halbtag eilig ein paar Produktattrappen hervorbringen, die sie dann gut „vermarkten”. Je kleiner das Unternehmen, desto spürbarer die Aufwandsumleitung von Produktion und Entwicklung zum Marketing.
Kein Widerspruch ist die Aufwandsverschiebung zwischen Produktion und Marketing nur dann, wenn das Marketing selbst zum Produkt wird. Wenn Content, also interessanter Inhalt, Gegenstand des Marketings ist, sollte das eigentlich einen Vorteil für Content-Produzenten bedeuten. Leider geht dieses Kalkül nur dann einfach und offensichtlich auf, wenn der Gegenstand der Inhalte selbst Marketing ist. Ein Beispiel ist ein Newsletter über das Schreiben guter Newsletter. Dabei ist der Newsletter sowohl Marketing als auch Kostprobe weiterführender Produkte (digitale Bücher über die Kunst des Newsletterschreibens). Der Schuster kann nicht schnell mal einen Werbenewsletter für seine Kunden zusammenschustern, der Newsletterschreiber hingegen macht gar nichts anderes.
Ist das Produkt nicht selbst Marketing, sind wir beim Dilemma der Kostproben-Vermarktung. Ist die Kostprobe selbst etwas anderes als ein Vorgeschmack auf das Produkt, ist sie nicht so effektiv. Ein Schuster könnte Aufmerksamkeit für seine Schuhe generieren, indem er Artikel über das Wandern verfasst. Doch ein Wanderartikel ist ein anderes Produkt als ein Schuh, es gibt keinerlei Gewissheit, dass die Nachfrager des einen zum anderen „konvertieren” – um die theologische Sprache des modernen Marketings zu bemühen. Die kostenlosen Wanderartikel konkurrieren mit den Produzenten kostenpflichtiger Wanderartikel, nicht mit anderen Schustern. Wenn es eine direkte Kostprobe sein sollte, dann konkurriert sie mit dem eigenen Produkt. Während beim Anbieter von Marketing-Produkten die Kostprobe zumindest einen Marketing-Wert für den Anbieter hat, ist der Nutzen verschenkter Kostproben für die Anbieter anderer Produkte nicht so offensichtlich. Der Schuster, der Schuhe als Kostprobe verschenkt, untergräbt den eigenen Schuhverkauf. Wenn er halbe, billige, eingeschränkte Schuhe als Kostproben anbietet, dann wiederum hätte er negative Werbewirkung: Die Kostproben könnten als repräsentativ für sein Produkt gelten. Ähnlich geht es dem Content-Produzenten, dessen Inhalte keine Marketing-Inhalte sind: Der kostenlose Kostprobeninhalt ist entweder eine verwässerte Fassung des kostenpflichtigen Inhalts, und der könnte den Produzenten „unter Wert” verkaufen, oder er ist so gehaltvoll, dass er die Zahlungsbereitschaft für Inhalte schlechthin untergräbt – wenn es das Produkt schon kostenlos gibt, warum dafür bezahlen?
Die Marketing-Produkte haben hingegen einen Charakter, der an Pyramidenspiele erinnert. Die Versprechen lauten etwa so: „Lesen Sie meinen Blog darüber, wie sich mit Bloggen Geld verdienen lässt.” – „Kaufen Sie mein eBook darüber, wie sich mit eBooks Geld verdienen lässt.” Wenn die Kunden dann wiederum zu Produzenten von Marketing-Produkten werden, hat man es eigentlich mit einer Art Multilevel-Marketing zu tun. Viele digitale Produzenten leben von der Sehnsucht ihrer Kunden, ihren Lebensstil zu imitieren – den sie dazu natürlich werbewirksam übertreiben und hinausposaunen müssen. Der Frauenschwarm coacht Loser dabei, zu Frauenschwärmen zu werden – und fast alle dieser Coaches waren einmal Loser, die von anderen gecoacht wurden.
So mancher Schuster würde gewiss mehr Wertschöpfung dadurch leisten, zum Blogger oder Coach zu werden. Es gehört in einer dynamischen Welt dazu, eben nicht immer bei seinem Leisten zu bleiben. Doch die extreme Verschiebung der Gewichte ist auch ein Symptom einer verzerrten Blasenwirtschaft (siehe Hochkonjunktur der Dummheit).
So mancher Handwerker und Landwirt lebt dann eher von den Sehnsüchten der Menschen, die er mit Kursen und anderem Content bewirtschaftet, als von Handwerk oder Landwirtschaft. All das wäre wunderbar, wenn die Wirtschaftslage nachhaltig wäre. Doch nach der Korrektur der gegenwärtigen Verzerrungen könnte es zu viele Blogger und Coaches geben und zu wenige „Produzenten” – im ökonomisch irrigen, aber psychologisch klaren Sinne. Vor allem wenn immer mehr Produzenten den Verlockungen der Aufmerksamkeitsökonomie folgen, ihren Leisten an den Nagel hängen und sich an die Produktion von kostenlosem Content machen. Gewiss könnte hier die Arbeitsteilung helfen – der Schuster aus unserem Beispiel könnte einen Blogger engagieren. Der massive Margendruck durch die künstlichen Skaleneffekte der verzerrten Wirtschaft lässt hierfür aber nicht viel Spielraum. Dann müsste der Mehrerlös aus der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung nämlich noch die Steuer- und Gebührenlawine mitfinanzieren. Realistischerweise geht sich das nur aus, wenn die Gewichteverschiebung erst recht einsetzt: Dann bleibt der Schuster vielleicht mehr als einen Halbtag bei seinem Leisten, ihm werden aber nicht viel mehr von den Erlösen bleiben als die eines Halbtages: Da ist es viel realistischer, dass ein Blogger einen Schuster anstellt als umgekehrt – denn wenn das Aufmerksamkeitswagnis gelingt, dann ist es für die Dauer des Hypes der wesentliche Teil der Wertschöpfung. Wie so manche Crowdfundingkampagne zeigt, reicht vom realen Produkt auch eine werbewirksam photographierte Attrappe – was symbolisch für die Gewichtsverschiebung steht. Nachhaltig kann dieses Ungleichgewicht freilich kaum sein, wenn bei immer mehr Produkten der größte Teil der Wertschöpfung in der Aufmerksamkeitsdurchdringung steckt.
Diese Art der Wertschöpfung könnte man als Memufaktur bezeichnen – die Kombination von „Mem” (virales Internet-Phänomen) und Produktion. Ein Blick nach China verrät mehr über die aktuelle Dynamik dieser Produktionsverlagerung und nährt die skeptische Perspektive, die nicht auf platter Werbefeindlichkeit oder ökonomischem Unverständnis beruht, sondern sensibel für die Symptome nicht nachhaltiger Blasenphänomene ist.
Rahim Taghizadegan – On the Rise and Fall of the University (PFS 2016)
Rahim Taghizadegan – On the Rise and Fall of the University (PFS 2016)
Helikoptergeld – Ende des Systems
Hinter diesem Vorschlag stehen drei grundverschiedene Aspekte, die auseinanderzuhalten sind. Erstens handelt es sich um einen Schritt der Verzweiflung, mit dem keynesianische Ankurbelung gegen die Absichten der Menschen durchgedrückt werden soll. Die Hoffnung ist, dass zusätzliche Liquidität – die sich in steigender Teuerung zeigen würde – zu Wertschöpfung führt, die den stockenden Konjunkturmotor wieder zum Laufen bringen könnte. Diese Logik ist zwar populär, aber falsch.
Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass durch Helikoptergeld die Preise bestimmter Konsumgüter und Dienstleistungen steigen werden. Dies wird aber nicht das Symptom neuer Wertschöpfung sein, sondern bloß erhöhten Konsums. Der unerwartete Geldsegen wird vorrangig in jene Luxusgüter gehen, die sich Menschen typischerweise nach kleineren Lotteriegewinnen gönnen: Reisen, elektronische Spielzeuge, Mode, Mahlzeiten und Erlebnisse.
Investitionen in neue Unternehmen können nicht in beliebiger Höhe erfolgen. Die plötzlichen kleinen Zuwendungen werden also kaum zu neuen Investitionen führen, abgesehen von der Flucht in absatzfähige Vermögenswerte, an der es auch heute nicht mangelt. Die vernünftigsten Empfänger werden ihre Schulden zurückzahlen – ganz im Gegensatz zur Intention der Geldmengenausweitung. Dass Teuerung von Konsumgütern als Symptom der Wirtschaftsbelebung angesehen wird, ist eine verhängnisvolle Täuschung. Keine Volkswirtschaft kann sich reichkonsumieren, sowenig wie sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann.
Zweitens ist Helikoptergeld ein erster Schritt, das Bankensystem von der Geldschöpfung zu trennen. Dies stößt auf das Wohlwollen der Vertreter eines sogenannten „Vollgeldes”, die zu Recht die Privilegierung von Banken kritisieren. Als Erstempfänger bzw. Urheber von Liquidität profitieren Banken durch den Cantilloneffekt gegenüber späteren Empfängern dieser Liquidität durch die verzögerte Teuerung. Da die Geldschöpfung mit Kreditvergabe einhergeht, erweisen sich aktuelle Währungen als Schuldgeld.
Jede Geldmengenausweitung geht mit einer Ausweitung des gesellschaftlichen Verschuldungsgrades einher, was der Volatilität der Konjunkturzyklen zusätzliche soziale Brisanz gibt. Die bankenlose und damit kreditfreie Geldschöpfung wäre zweifellos sozial gleichmäßiger – was zunächst gerechter erscheint.
Doch trotz der ungerechten Privilegierung des Bankenkartells, die zur Bereicherung gewisser Schichten führt, darf man die funktionellen Vorzüge eines Schuldgeldes nicht übersehen: Es setzt private Anreize der Disziplinierung. Banken haben – trotz der Verzerrungen durch Bail-outs und anderer Privilegien – noch immer Anreize, zumindest eine gewisse Disziplin bei der Kreditmengenausweitung walten zu lassen. Kredite werden in Aussicht auf Rückzahlung vergeben. Während die Kreditgeldschöpfung inflationär ist, wirkt die Kreditrückzahlung deflationär entgegen.
Schuldtitel sind die wesentliche Wertdeckung des heutigen Geldsystems. Helikoptergeld löst wie Null- oder Negativzinsen diese Wertdeckung auf. Damit gehen die Anreize zu privater Partizipation und Kooperation im Finanzsystem verloren. Zentralbanken und Vollgeldvertreter kritisieren teilweise zu Recht die Macht privater Banken bei der Geldschöpfung.
Vor kurzem bezog etwa die Bank of England in einer Analyse eine Position, die konträr zu volkswirtschaftlichen Lehrbüchern steht, indem sie Geschäftsbanken zu den alleinigen Urhebern der Geldschöpfung erklärte. Doch auch eine vermeintlich „demokratische” Kontrolle der Geldschöpfung würde letztlich geldpolitische Willkür bedeuten, wenn das disziplinierende Gegengewicht von profitkalkulierenden Akteuren fehlt.
Hier sind wir beim dritten Aspekt des Helikoptergelds: Es wäre der ehrliche Abschluss einer Wandlung des Geldsystems vom Warengeld über das Schuldgeld zum Zeichengeld. Letzteres bedeutet ein Geld, das keine Gegenseite in der Bilanz mehr hat, sondern reines Konventionszeichen ist. Dass das moderne Geldsystem diesen Zustand schon erreicht hat und daher die volkswirtschaftlichen Lehrbücher umgeschrieben werden müssten, ist die Position der postkeynesianischen „Modern Monetary Theory”.
Eigentlich handelt es sich dabei um eine Wiederbelebung der alten Staatstheorie des Geldes nach Georg F. Knapp, auch bekannt als Chartalismus. Die moderne Fassung dieser Theorie geht davon aus, dass die Staatsfinanzierung heute nicht mehr über Steuern erfolgt und Staatsschulden keine wirklichen Schulden sind, da die monopolistische Möglichkeit der Geldproduktion eine theoretisch unbeschränkte Ausgabe von Zeichengeld ermöglicht. In diesem Modell gibt es keine grundsätzliche Beschränkung der Staatsausgaben.
Steuern dienen nur der Steuerung der Nachfrage, besonders der Geldnachfrage, und Staatsbankrotte sind ein Ding der Unmöglichkeit – sofern Souveränität über die Geldschöpfung besteht. Daher wäre Austeritätspolitik verfehlt, denn die Ökonomie der MMT steht auf dem Kopf: Steuerforderungen führen zur Geldnachfrage, Geldnachfrage führt zum Güterangebot, das wiederum auf staatliches Geldangebot angewiesen ist.
Mit dem fortgesetzten Brechen aller traditionellen Regeln der Geldpolitik nähert sich die Realität immer mehr dem Modell der MMT an. Zu seiner Geburtsstunde war der Chartalismus völlig falsch und bald ökonomisch widerlegt. Doch wenn die Realität nicht mit dem Modell übereinstimmt, umso schlechter für die Realität – so die Devise der modernen Ökonomik. Das Geld- und Finanzsystem hat einen schleichenden Wandel erfahren, bei dem politische Willkür und Ungerechtigkeit immer wieder die Erwartungen von Sparern und Produzenten durchkreuzt haben.
In einem reinen Zeichengeldsystem werden Bilanzierungstricks, die heute um sich greifen, unnötig, weil die Illusion von ausgeglichenen Bilanzen aufgegeben wird. In diesem Sinne wäre der Übergang zum Zeichengeld ehrlicher, zudem würde die Verschuldungsspirale aufgebrochen.
Doch so faszinierend der Gedanke sein mag, so unwägbar sind die Folgen. Zeichengeld ist in noch größerem Ausmaß Vertrauensgeld. Schon das Schuldgeld beruht auf Vertrauen, aber es lohnt dieses zumindest durch die eingebaute Bereicherungsmöglichkeit. In einer Zeit schwindenden und zunehmend verspielten Vertrauens würde über einem Zeichengeld stets das Damoklesschwert völliger Wertvernichtung stehen. Rationale Akteure hätten noch größere Anreize, das Zeichengeld ehest möglich abzustoßen.
Helikoptergeld ist zwar ehrlicher und transparenter. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass es bei einer kurzzeitigen Notlösung bliebe. Viel eher wäre es Präzedenzfall und symbolische Markierung des Endes des bisherigen Geldsystems.
Freiwilliges Zeichengeld ist ein interessantes Experiment. Die Entfernung der privaten Anreize aus der momentanen Geldordnung, in der sich die meisten Sparer gar noch so verhalten, als hätten sie es mit Warengeld zu tun, wäre jedoch eine gefährliche Täuschung. Sie könnte den finalen Vertrauensverlust nach sich ziehen. Zeichengeld ohne Vertrauen aber bedeutet zuerst Geldzwang (um die Flucht aus dem Zeichengeld zu verhindern) und schließlich totale Zwangswirtschaft.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.
Wie groß ist die Macht der Märkte?
Der Mensch kommt als abhängiges Wesen auf die Welt. Die Dinge, die er braucht und will, hat und erreicht er nicht selbst. Zum Glück ist das Kleinkind im Regelfall von Menschen umgeben, die dessen Ziele teilen, die sich über dessen Freude freuen und die dessen Schmerz schmerzt. Unsere Instinkte sind auf dieses Ideal ausgerichtet, wir suchen es in Familie und Freundschaft: diese Einigkeit in den Zielen, die einem gemeinsamen Willen zu unseren Gunsten entspricht.
Bald merken wir zu unserem Unbehagen, dass nicht alle Menschen unsere Ziele teilen und nicht für alle unser Wohlergehen Selbstzweck ist. Wir stoßen auf Konflikte, bei denen es nicht ausreicht, etwas zu wollen, um es auch zu erlangen, weil uns ein fremder Wille widerstrebt. Das Spielzeug des Spielgefährten könnten wir uns durch Zwang aneignen, doch dann ist es meist mit dem Spiel und dem Spaß vorbei.
Besser ist es, wenn die anderen uns das selbst übergeben, was wir wollen und brauchen. Um sie dazu zu bewegen, gibt es nur zwei Wege: Wir können Zwang androhen – das könnte man ein Zwangsversprechen nennen. Die Fähigkeit, durch Zwangsversprechen gegen den Willen von Menschen etwas zu bewirken, kann man Macht nennen – das entspricht in etwa der Definition des Begriffs durch Max Weber.
Der zweite Weg verläuft parallel aber gegenteilig: Statt einem „Wenn nicht … dann!” kommunizieren wir ein „Wenn … dann”. Es handelt sich dabei um ein Wertversprechen, wir bieten etwas an, das ein Mittel für des Nächsten Ziele sein könnte.
Letzterer Weg ist der Weg der Märkte. Das Wort ist abgeleitet von lateinisch merx – das Gut, allerdings auch im Sinne einer Gnade. Derselbe Stamm liegt französisch merci und englisch mercy zugrunde. Mercedes ist der Plural; die Automarke ist nach dem spanischen Vornamen benannt, und dieser verweist auf die gnadenreiche und hochbedankte Jungfrau Maria.
Es geht also um dankenswerte Gegenleistungen, welche die strenge Reziprozität von Märkten ausmachen. Je mehr wir uns auf diese Reziprozität einlassen, desto größer die Arbeitsteilung und damit die wechselseitige Abhängigkeit. Die Fähigkeit, sich durch Wertversprechen zu Dank und damit zu Gegenleistung zu verpflichten, erscheint analog zur Macht. Doch denselben Begriff zu verwenden, überdehnt die Analogie. Besser ist es, für diese Fähigkeit geglaubter und damit in der Regel gedeckter Wertversprechen den Begriff Vermögen einzusetzen.
Haben Vermögende große Macht? Vermögen und Macht sind etymologisch nahe beieinander, und die Parallelität ist deutlich, doch der Unterschied doch ein ganz grundsätzlicher. Es ist der Unterschied zwischen Angeboten, die man ablehnen kann, und – frei nach dem Film „Der Pate” – Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Die Frage „Schwarztee oder Grüntee?” hat offensichtlich eine andere Qualität als die Frage „Geld oder Leben?”.
Die Abhängigkeit von anderen ist umso schmerzvoller aufgrund der Anonymität von Märkten. Immerhin sind wir nicht mehr von einzelnen abhängig, sondern von austauschbaren Fremden. Wenn wir gastfreundschaftlich verkehren und uns ein Glas gegen den Durst gereicht wird, würden wir jede Geldforderung bei der Verabschiedung als unverschämt empfinden. Im Fremdenverkehr aber müssen wir fast überall zahlen, und dieses Müssen wird manchmal als Machtbeweis interpretiert – als Abhängigkeit gegenüber jenen, die Macht über uns haben, weil sie über das verfügen, was wir brauchen und wollen.
Tatsächlich hat dies nichts mit Macht zu tun, viel mehr mit Fremdheit und Anonymität. Es ist sehr unwahrscheinlich, Menschen, die wir als Tauschpartner treffen, in einer Situation wiederzusehen und wiederzuerkennen, in der wir ihnen einen Gefallen erweisen können. Darum reicht die lose Reziprozität der Gastfreundschaft unter Fremden nicht aus. Zum Tausch ist strenge und unmittelbare Reziprozität nötig. Wollen wir einen Gefallen, müssen wir einen gewissen und unmittelbaren Gegengefallen leisten. Darum sagte man auf Latein mercedem solvere für bezahlen: Das Gut – die Dankbarkeit – muss ausgelöst werden.
Dank der Ökonomie des abnehmenden Grenznutzens unterscheidet sich die Bewertung von Gefallen und Gegengefallen gerade genug, um den Tausch auch unter Fremden zu einer für beide Seiten vorteilhaften Angelegenheit zu machen. Diese Reziprozität der Märkte fördert die Arbeitsteilung. Das bedeutet aber auch, dass wir mit steigendem Wohlstand dank steigender Arbeitsteilung in steigendem Maße von anonymen Fremden abhängig werden. Psychisch verstärkt die Fremdheit und Anonymität das unangenehme Gefühl der Abhängigkeit, ökonomisch mildert es aber deren Folge: Wir sind dank Märkten eben selten von konkreten Einzelnen abhängig, sondern von einem anonymen Netzwerk, in dem die meisten Anbieter und Nachfrager ausgetauscht werden können, ohne dass es uns besonders schmerzen würde.
Gewiss sinkt mit der Arbeitsteilung die Fähigkeit zur Autarkie und steigt damit die Abhängigkeit von Fremden. Die damit wachsende Angst steht wohl hinter dem Begriff der „Entfremdung“. Diese ist eine notwendige Folge höherer Arbeitsteilung. Es ist nicht völlig gewiss, dass dieser Weg steigender Entfremdung immer der beste ist. Doch er wurde den Menschen nicht aufgezwungen. Entfremdung ist der „Trade-off” steigenden Wohlstands – und diese Wohlstandssteigerung wird gemeinhin unterschätzt. Tatsächlich wurden 97 Prozent des gesamten materiellen Wohlstands in den letzten 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte geschaffen, in jener kurzen Phase globaler Arbeitsteilung.
Den größten Teil ihrer Geschichte hat die Menschheit allerdings unter nicht „entfremdeten” Bedingungen verbracht, im engen Kontext der Sippe, in der wir mit indirekter und ungenauer Reziprozität auskommen. Am Beginn der modernen Hochphase der Arbeitsteilung und damit Fremdabhängigkeit kam daher der politische Kampfbegriff der „Brüderlichkeit” auf, der die Sehnsucht nach dem Gegenteil von Entfremdung ausdrückt. Fast alle Utopien und Ideologien drehen sich um das Unwohlsein des Menschen unter Bedingungen der Entfremdung. Der Mensch sehnt sich kraft seiner Urinstinkte nach jener kindlichen Erfahrung der völligen Zielübereinstimmung zurück. Hier liegt die einzige Alternative zur Marktgesellschaft: die Gemeinschaft, in der die grundlegenden Ziele geteilt werden.
Es gab zwei historische Experimentierfelder für solche Gemeinschaften, in denen weder Zwang noch entfremdende anonyme Reziprozität nötig sind, um Koordination zu erreichen: die USA und Israel. Die Erfahrungen in beiden Regionen zeigen, dass kaum eine Gemeinschaft überlebt, wenn nicht aufgrund strenger, homogener Religiosität Zielübereinstimmung aufrecht erhalten werden kann. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich alle amerikanischen Kommunen innerhalb einer Generation aufgelöst; und die wenigen Kibbuzim, die nicht zu Unternehmen oder losen Siedlungsgenossenschaften wurden, sind glaubensstrenge Siedlergemeinschaften.
Die Auflösungstendenzen von Gemeinschaften werden durch die Marktkonkurrenz verschärft – denn Märkte sind durch eine dritte Eigenschaft gekennzeichnet: Attraktivität. Das Warenangebot ist verlockend, und diese Attraktion wird oft als Macht interpretiert. Doch diese Interpretation setzt ein übertrieben negatives Menschenbild voraus. Das zeigt sich an historischen Versuchen, Frauen vor dieser „Marktmacht” zu schützen. Als im 19. Jahrhundert Kaufhäuser in den großen Städten errichtet wurden, schimpften Beobachter darüber, dass hier Frauen ohne Begleitung des Ehemanns verkehrten. Die Einrichtungen wurden manchmal Bordellen gleichgesetzt. Hinter dieser Perspektive steht freilich Frauenfeindlichkeit, die Wahrnehmung des „schwachen Geschlechts” als verantwortungsunfähig.
Tatsächlich hatten die Frauen eine weit größere „Macht” über die Kaufhäuser als umgekehrt, das zeigt sich an deren Ausgestaltung. Die ästhetischen Innovationen der alten Kaufhäuser und ein Warenangebot, das auf Qualität und Vielfalt Wert legte, folgten den Versuchen der Kaufhausunternehmer, dem weiblichen Publikum zu gefallen. Mit heutigen Shopping-Malls hatten die ursprünglichen Kaufhäuser wenig zu tun. Sie boten das Beste der damaligen Zeit, weil die Damen von Welt Geschmack und Würde zeigten, nicht das Schlechteste, um wehrlos kaufsüchtige Frauen auszunehmen. Die heutige Perspektive ist nur deshalb weniger sexistisch, weil sie Männer und Frauen gleichermaßen als verantwortungsunfähig betrachtet.
Diese Perspektive, die der Attraktivität „Macht” zuschreibt, nimmt eine naheliegende Analogie zu ernst. Diese Analogie findet sich auch im Umgang der Geschlechter, wenn wir von den „Waffen einer Frau” sprechen. Analogien nähren Humor und Beispiele, dürfen aber nicht mit der Realität verwechselt werden. Weibliche Reize haben genauso wenig mit Mordinstrumenten zu tun wie ein attraktives Warenangebot mit Macht.
Der Versuch, die Menschen vor der scheinbaren „Macht” von Verlockungen zu schützen, bedeutet stets eine Einschränkung ihrer Freiheit. Dies zeigt sich bei all den Versuchen, weibliche Reize zu unterbinden, aber auch bei paternalistischem Schutz vor Märkten. Im alten Rom etwa räumte ein Senatsbeschluss den Frauen ein erweitertes Rücktrittsrecht bei Geschäften an der Türschwelle ein. Argumentiert wurde damit, dass man Frauen vor Hausierern schützen müsse, die sie mit betörenden Waren um den Verstand brächten. Die Folge war natürlich, dass Frauen nicht mehr als vollwertige Tauschpartner behandelt wurden, da ihre Vertragsfähigkeit eingeschränkt war. Die vor dem Markt „geschützten” Frauen wurden entrechtet.
Doch bedienen sich heute nicht Marktakteure der Politik und zwingen damit ihre Vorstellungen auf? Die großen Aufwände von Unternehmen für Lobbying werden gemeinhin als Hinweis auf steigende „Marktmacht” interpretiert. Tatsächlich ist Korruption im Sinne von Versuchen, Vermögen als Lockmittel zur Regelumgehung einzusetzen, besonders virulent in Ländern, in denen eine Übermacht des Zwanges besteht, nicht der Märkte. Auch in den vermeintlichen Marktwirtschaften korreliert der Aufwand für Lobbying mit der Politiknähe und damit Marktferne von Unternehmen.
Im Gegensatz zu den „Public Relations” wird Lobbying euphemistisch als „Public Affairs” bezeichnet. Dieser Begriff deutet auf die Affären hin, bei denen „big business” und „big government” ein Techtelmechtel eingehen und Bastarde gebären, die weder Unternehmen im eigentlichen Sinne noch rein politische Gruppierungen sind.
Zweifellos besteht zwischen Macht und Vermögen eine gewisse Anziehungskraft. Vermögende suchen Geltung, die ihnen eine Marktgesellschaft nicht ausreichend gewährt – Märkte bieten niemals dauerhafte Vorrechte. Machthaber hingegen bedürfen endloser wirtschaftlicher Mittel, denn Machterhalt ist sehr teuer. Das Ziel des meisten Lobbyings ist gesteuerte Regulierung, nicht Deregulierung. Der mächtigste Teil der „Wirtschaft” hat mit Märkten am allerwenigsten zu tun, es ist der am stärksten regulierte Sektor mit engstem Verhältnis zur Politik: das Bankwesen.
Letztlich ist es auch das Finanzsystem, das die steigende Ohnmacht gegenüber der vermeintlichen Übermacht der Märkte erklärt. Die Pyramide reziproker Abhängigkeiten, die uns in unerreichte Höhen materiellen Wohlstands emporhob, fühlt sich deshalb so wackelig an, weil ihr Fundament ausgehöhlt ist – sie ist heute nur noch auf Sand gebaut. Die Tauschmittel und Wertträger, auf denen die Pyramide steht, haben immer weniger mit Angeboten zu tun, die man ablehnen kann. Ihre Wertgrundlage ist Zwang. Dieser Zwang war bislang für die meisten unsichtbar und dringt nun langsam an die Oberfläche. Die Politik erscheint deshalb machtlos, weil ihr die Option billiger Macht verloren geht. Diese war immer schon Fiktion, denn Macht kann es ohne Zwang nicht geben. Immer panischere Zwangsmittel werden nun herbeigeschrieben und verordnet, von Reichsfluchtsteuer bis Bargeldverbot, von absoluter Überwachung bis Teilenteignung. Mit „Marktmacht” hat all dies nichts zu tun, auch nicht mit politischer Machtlosigkeit, sondern nur mit der Notwendigkeit, die politische Machtanmaßung wieder durch offenen Zwang zu decken. Vor Zwang fürchten sich Menschen zu Recht, er entmenschlicht uns. Vor Vermögenden, vor den Verlockungen eines Waren- und Dienstleistungsangebots, vor den Angeboten Fremder müssen wir uns nicht fürchten. Über manche Vermögende dürfen wir zu Recht lachen, und nicht alle angebotenen Verlockungen tun uns gut. Dies entscheiden zu können, unterscheidet Erwachsene von Kindern; dies entscheiden zu dürfen, unterscheidet Freie von Sklaven.