Leben wir in einem Rechtsstaat oder bereits in einem Unrechtsstaat? Sind Staat und Recht Bedingungen oder Gegensätze? Was ist die Grundlage des Rechts und der Gerechtigkeit? Gibt es Alternativen zur
Geopolitik
Wie groß ist die Macht der Märkte?
Der Mensch kommt als abhängiges Wesen auf die Welt. Die Dinge, die er braucht und will, hat und erreicht er nicht selbst. Zum Glück ist das Kleinkind im Regelfall von Menschen umgeben, die dessen Ziele teilen, die sich über dessen Freude freuen und die dessen Schmerz schmerzt. Unsere Instinkte sind auf dieses Ideal ausgerichtet, wir suchen es in Familie und Freundschaft: diese Einigkeit in den Zielen, die einem gemeinsamen Willen zu unseren Gunsten entspricht.
Bald merken wir zu unserem Unbehagen, dass nicht alle Menschen unsere Ziele teilen und nicht für alle unser Wohlergehen Selbstzweck ist. Wir stoßen auf Konflikte, bei denen es nicht ausreicht, etwas zu wollen, um es auch zu erlangen, weil uns ein fremder Wille widerstrebt. Das Spielzeug des Spielgefährten könnten wir uns durch Zwang aneignen, doch dann ist es meist mit dem Spiel und dem Spaß vorbei.
Besser ist es, wenn die anderen uns das selbst übergeben, was wir wollen und brauchen. Um sie dazu zu bewegen, gibt es nur zwei Wege: Wir können Zwang androhen – das könnte man ein Zwangsversprechen nennen. Die Fähigkeit, durch Zwangsversprechen gegen den Willen von Menschen etwas zu bewirken, kann man Macht nennen – das entspricht in etwa der Definition des Begriffs durch Max Weber.
Der zweite Weg verläuft parallel aber gegenteilig: Statt einem „Wenn nicht … dann!” kommunizieren wir ein „Wenn … dann”. Es handelt sich dabei um ein Wertversprechen, wir bieten etwas an, das ein Mittel für des Nächsten Ziele sein könnte.
Letzterer Weg ist der Weg der Märkte. Das Wort ist abgeleitet von lateinisch merx – das Gut, allerdings auch im Sinne einer Gnade. Derselbe Stamm liegt französisch merci und englisch mercy zugrunde. Mercedes ist der Plural; die Automarke ist nach dem spanischen Vornamen benannt, und dieser verweist auf die gnadenreiche und hochbedankte Jungfrau Maria.
Es geht also um dankenswerte Gegenleistungen, welche die strenge Reziprozität von Märkten ausmachen. Je mehr wir uns auf diese Reziprozität einlassen, desto größer die Arbeitsteilung und damit die wechselseitige Abhängigkeit. Die Fähigkeit, sich durch Wertversprechen zu Dank und damit zu Gegenleistung zu verpflichten, erscheint analog zur Macht. Doch denselben Begriff zu verwenden, überdehnt die Analogie. Besser ist es, für diese Fähigkeit geglaubter und damit in der Regel gedeckter Wertversprechen den Begriff Vermögen einzusetzen.
Haben Vermögende große Macht? Vermögen und Macht sind etymologisch nahe beieinander, und die Parallelität ist deutlich, doch der Unterschied doch ein ganz grundsätzlicher. Es ist der Unterschied zwischen Angeboten, die man ablehnen kann, und – frei nach dem Film „Der Pate” – Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Die Frage „Schwarztee oder Grüntee?” hat offensichtlich eine andere Qualität als die Frage „Geld oder Leben?”.
Die Abhängigkeit von anderen ist umso schmerzvoller aufgrund der Anonymität von Märkten. Immerhin sind wir nicht mehr von einzelnen abhängig, sondern von austauschbaren Fremden. Wenn wir gastfreundschaftlich verkehren und uns ein Glas gegen den Durst gereicht wird, würden wir jede Geldforderung bei der Verabschiedung als unverschämt empfinden. Im Fremdenverkehr aber müssen wir fast überall zahlen, und dieses Müssen wird manchmal als Machtbeweis interpretiert – als Abhängigkeit gegenüber jenen, die Macht über uns haben, weil sie über das verfügen, was wir brauchen und wollen.
Tatsächlich hat dies nichts mit Macht zu tun, viel mehr mit Fremdheit und Anonymität. Es ist sehr unwahrscheinlich, Menschen, die wir als Tauschpartner treffen, in einer Situation wiederzusehen und wiederzuerkennen, in der wir ihnen einen Gefallen erweisen können. Darum reicht die lose Reziprozität der Gastfreundschaft unter Fremden nicht aus. Zum Tausch ist strenge und unmittelbare Reziprozität nötig. Wollen wir einen Gefallen, müssen wir einen gewissen und unmittelbaren Gegengefallen leisten. Darum sagte man auf Latein mercedem solvere für bezahlen: Das Gut – die Dankbarkeit – muss ausgelöst werden.
Dank der Ökonomie des abnehmenden Grenznutzens unterscheidet sich die Bewertung von Gefallen und Gegengefallen gerade genug, um den Tausch auch unter Fremden zu einer für beide Seiten vorteilhaften Angelegenheit zu machen. Diese Reziprozität der Märkte fördert die Arbeitsteilung. Das bedeutet aber auch, dass wir mit steigendem Wohlstand dank steigender Arbeitsteilung in steigendem Maße von anonymen Fremden abhängig werden. Psychisch verstärkt die Fremdheit und Anonymität das unangenehme Gefühl der Abhängigkeit, ökonomisch mildert es aber deren Folge: Wir sind dank Märkten eben selten von konkreten Einzelnen abhängig, sondern von einem anonymen Netzwerk, in dem die meisten Anbieter und Nachfrager ausgetauscht werden können, ohne dass es uns besonders schmerzen würde.
Gewiss sinkt mit der Arbeitsteilung die Fähigkeit zur Autarkie und steigt damit die Abhängigkeit von Fremden. Die damit wachsende Angst steht wohl hinter dem Begriff der „Entfremdung“. Diese ist eine notwendige Folge höherer Arbeitsteilung. Es ist nicht völlig gewiss, dass dieser Weg steigender Entfremdung immer der beste ist. Doch er wurde den Menschen nicht aufgezwungen. Entfremdung ist der „Trade-off” steigenden Wohlstands – und diese Wohlstandssteigerung wird gemeinhin unterschätzt. Tatsächlich wurden 97 Prozent des gesamten materiellen Wohlstands in den letzten 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte geschaffen, in jener kurzen Phase globaler Arbeitsteilung.
Den größten Teil ihrer Geschichte hat die Menschheit allerdings unter nicht „entfremdeten” Bedingungen verbracht, im engen Kontext der Sippe, in der wir mit indirekter und ungenauer Reziprozität auskommen. Am Beginn der modernen Hochphase der Arbeitsteilung und damit Fremdabhängigkeit kam daher der politische Kampfbegriff der „Brüderlichkeit” auf, der die Sehnsucht nach dem Gegenteil von Entfremdung ausdrückt. Fast alle Utopien und Ideologien drehen sich um das Unwohlsein des Menschen unter Bedingungen der Entfremdung. Der Mensch sehnt sich kraft seiner Urinstinkte nach jener kindlichen Erfahrung der völligen Zielübereinstimmung zurück. Hier liegt die einzige Alternative zur Marktgesellschaft: die Gemeinschaft, in der die grundlegenden Ziele geteilt werden.
Es gab zwei historische Experimentierfelder für solche Gemeinschaften, in denen weder Zwang noch entfremdende anonyme Reziprozität nötig sind, um Koordination zu erreichen: die USA und Israel. Die Erfahrungen in beiden Regionen zeigen, dass kaum eine Gemeinschaft überlebt, wenn nicht aufgrund strenger, homogener Religiosität Zielübereinstimmung aufrecht erhalten werden kann. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich alle amerikanischen Kommunen innerhalb einer Generation aufgelöst; und die wenigen Kibbuzim, die nicht zu Unternehmen oder losen Siedlungsgenossenschaften wurden, sind glaubensstrenge Siedlergemeinschaften.
Die Auflösungstendenzen von Gemeinschaften werden durch die Marktkonkurrenz verschärft – denn Märkte sind durch eine dritte Eigenschaft gekennzeichnet: Attraktivität. Das Warenangebot ist verlockend, und diese Attraktion wird oft als Macht interpretiert. Doch diese Interpretation setzt ein übertrieben negatives Menschenbild voraus. Das zeigt sich an historischen Versuchen, Frauen vor dieser „Marktmacht” zu schützen. Als im 19. Jahrhundert Kaufhäuser in den großen Städten errichtet wurden, schimpften Beobachter darüber, dass hier Frauen ohne Begleitung des Ehemanns verkehrten. Die Einrichtungen wurden manchmal Bordellen gleichgesetzt. Hinter dieser Perspektive steht freilich Frauenfeindlichkeit, die Wahrnehmung des „schwachen Geschlechts” als verantwortungsunfähig.
Tatsächlich hatten die Frauen eine weit größere „Macht” über die Kaufhäuser als umgekehrt, das zeigt sich an deren Ausgestaltung. Die ästhetischen Innovationen der alten Kaufhäuser und ein Warenangebot, das auf Qualität und Vielfalt Wert legte, folgten den Versuchen der Kaufhausunternehmer, dem weiblichen Publikum zu gefallen. Mit heutigen Shopping-Malls hatten die ursprünglichen Kaufhäuser wenig zu tun. Sie boten das Beste der damaligen Zeit, weil die Damen von Welt Geschmack und Würde zeigten, nicht das Schlechteste, um wehrlos kaufsüchtige Frauen auszunehmen. Die heutige Perspektive ist nur deshalb weniger sexistisch, weil sie Männer und Frauen gleichermaßen als verantwortungsunfähig betrachtet.
Diese Perspektive, die der Attraktivität „Macht” zuschreibt, nimmt eine naheliegende Analogie zu ernst. Diese Analogie findet sich auch im Umgang der Geschlechter, wenn wir von den „Waffen einer Frau” sprechen. Analogien nähren Humor und Beispiele, dürfen aber nicht mit der Realität verwechselt werden. Weibliche Reize haben genauso wenig mit Mordinstrumenten zu tun wie ein attraktives Warenangebot mit Macht.
Der Versuch, die Menschen vor der scheinbaren „Macht” von Verlockungen zu schützen, bedeutet stets eine Einschränkung ihrer Freiheit. Dies zeigt sich bei all den Versuchen, weibliche Reize zu unterbinden, aber auch bei paternalistischem Schutz vor Märkten. Im alten Rom etwa räumte ein Senatsbeschluss den Frauen ein erweitertes Rücktrittsrecht bei Geschäften an der Türschwelle ein. Argumentiert wurde damit, dass man Frauen vor Hausierern schützen müsse, die sie mit betörenden Waren um den Verstand brächten. Die Folge war natürlich, dass Frauen nicht mehr als vollwertige Tauschpartner behandelt wurden, da ihre Vertragsfähigkeit eingeschränkt war. Die vor dem Markt „geschützten” Frauen wurden entrechtet.
Doch bedienen sich heute nicht Marktakteure der Politik und zwingen damit ihre Vorstellungen auf? Die großen Aufwände von Unternehmen für Lobbying werden gemeinhin als Hinweis auf steigende „Marktmacht” interpretiert. Tatsächlich ist Korruption im Sinne von Versuchen, Vermögen als Lockmittel zur Regelumgehung einzusetzen, besonders virulent in Ländern, in denen eine Übermacht des Zwanges besteht, nicht der Märkte. Auch in den vermeintlichen Marktwirtschaften korreliert der Aufwand für Lobbying mit der Politiknähe und damit Marktferne von Unternehmen.
Im Gegensatz zu den „Public Relations” wird Lobbying euphemistisch als „Public Affairs” bezeichnet. Dieser Begriff deutet auf die Affären hin, bei denen „big business” und „big government” ein Techtelmechtel eingehen und Bastarde gebären, die weder Unternehmen im eigentlichen Sinne noch rein politische Gruppierungen sind.
Zweifellos besteht zwischen Macht und Vermögen eine gewisse Anziehungskraft. Vermögende suchen Geltung, die ihnen eine Marktgesellschaft nicht ausreichend gewährt – Märkte bieten niemals dauerhafte Vorrechte. Machthaber hingegen bedürfen endloser wirtschaftlicher Mittel, denn Machterhalt ist sehr teuer. Das Ziel des meisten Lobbyings ist gesteuerte Regulierung, nicht Deregulierung. Der mächtigste Teil der „Wirtschaft” hat mit Märkten am allerwenigsten zu tun, es ist der am stärksten regulierte Sektor mit engstem Verhältnis zur Politik: das Bankwesen.
Letztlich ist es auch das Finanzsystem, das die steigende Ohnmacht gegenüber der vermeintlichen Übermacht der Märkte erklärt. Die Pyramide reziproker Abhängigkeiten, die uns in unerreichte Höhen materiellen Wohlstands emporhob, fühlt sich deshalb so wackelig an, weil ihr Fundament ausgehöhlt ist – sie ist heute nur noch auf Sand gebaut. Die Tauschmittel und Wertträger, auf denen die Pyramide steht, haben immer weniger mit Angeboten zu tun, die man ablehnen kann. Ihre Wertgrundlage ist Zwang. Dieser Zwang war bislang für die meisten unsichtbar und dringt nun langsam an die Oberfläche. Die Politik erscheint deshalb machtlos, weil ihr die Option billiger Macht verloren geht. Diese war immer schon Fiktion, denn Macht kann es ohne Zwang nicht geben. Immer panischere Zwangsmittel werden nun herbeigeschrieben und verordnet, von Reichsfluchtsteuer bis Bargeldverbot, von absoluter Überwachung bis Teilenteignung. Mit „Marktmacht” hat all dies nichts zu tun, auch nicht mit politischer Machtlosigkeit, sondern nur mit der Notwendigkeit, die politische Machtanmaßung wieder durch offenen Zwang zu decken. Vor Zwang fürchten sich Menschen zu Recht, er entmenschlicht uns. Vor Vermögenden, vor den Verlockungen eines Waren- und Dienstleistungsangebots, vor den Angeboten Fremder müssen wir uns nicht fürchten. Über manche Vermögende dürfen wir zu Recht lachen, und nicht alle angebotenen Verlockungen tun uns gut. Dies entscheiden zu können, unterscheidet Erwachsene von Kindern; dies entscheiden zu dürfen, unterscheidet Freie von Sklaven.
Dialog-EF: Nach dem Massaker in Orlando
Wiederkehr oder Überwindung des Nationalismus
Der Zusammenschluss in supranationalen Einheiten steht vor wachsenden Herausforderungen, die Konflikte innerhalb der EU nehmen deutlich zu und selbst in Deutschland kommen wieder in Reaktion auf die
Österreich steht auf der Kippe
Das Erfolgsmodell Österreich – als vielgepriesene Insel der Seligen – ist weitgehend barocke Fassade, hinter der die Balken erschreckend morsch sind. Es handelt sich weniger um Täuschung als um Lebenslügen, die man sich immer krampfhafter selbst einzureden sucht. Das Programm des kürzlich abgetretenen Kanzlers Werner Faymann bestand einzig im Beschwören österreichischer Glückseligkeit, was angesichts wachsender Sorgen und Ängste, „obwohl es uns so gut geht”, den Eindruck peinlicher Einfältigkeit verstärkte.
In Österreich lebt es sich noch immer ganz gut – durch Kapitalkonsum in jeder Hinsicht. Das – insbesondere kulturelle – Kapital des Landes ist beeindruckend, aber nicht unendlich. Wie Deutschland weist Österreich Reste eines hohen Ethos von Leistungsbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit auf, nur etwas gemildert durch Gemütlichkeit und Schlampigkeit. Letzteres macht einen wutgetriebenen Wandel in Österreich wahrscheinlicher als in Deutschland, denn die Vertrauensseligkeit ist eben ein wenig geringer, und die Verhältnisse sind etwas schlampiger.
Wie in Deutschland folgte auf das Aufholwachstum nach dem Krieg eine kreditfinanzierte Hausse, die unternehmerischer Leistungsbereitschaft trotz wachsender Steuern durch neue Absatz- und vor allem Absetzmöglichkeiten einigen Raum bot. Die damit wachsenden Begehrlichkeiten wurden durch den österreichischen Proporz und das Umlageverfahren bedient. Wenn man sich heute als junger Mensch, dessen Pension und Berufsaussichten ungewiss sind, die in den Zeiten der Hausse gewährten Gagen, Pensionen und Apanagen ansieht, fällt die Schamlosigkeit ins Auge: In Österreich wurden und werden die nächste und die übernächste Generation systematisch ausgeplündert. Die Rechnung für den Wohlstandszuwachs dieser Zeit ist noch nicht bezahlt; sie ist noch nicht einmal verdient.
Nach dem Krieg erlebte die aktive Bevölkerung eine Abfolge positiver Überraschungen. Die Löhne und Pensionen wuchsen schneller als erwartet. Das Leben schien im Durchschnitt immer besser zu gelingen. Dadurch wuchs das Vertrauen in Politik und Institutionen und begründete den besonderen Institutionenstolz, der den Kern des modernen Österreich-Nationalismus ausmacht und Regierung wie auch Opposition nährt.
Die negativen Überraschungen im Zuge der Baisse nähren Zweifel und stellen das Vertrauen auf die Probe. Waren sozialer Friede und Wachstum womöglich doch keine so große Kunst in einer Zeit, in der es jedes Jahr mehr zu verteilen gab? Man kann nicht alle Probleme Österreichs der intellektuellen Inkompetenz eines Werner Faymann in die Schuhe schieben. Dieser war ein machtbewusster Mann des Parteiapparats ohne jede Erfahrung oder auch nur Ausbildung abseits dieser Strukturen, der als Bauernopfer gehen musste, um die Strukturen zu retten. Ohne den fliegenden Personalwechsel in der Regierung knapp vor der Stichwahl für das Präsidentenamt wäre es wohl zum Sieg Hofers gekommen.
Der neue Kanzler Christian Kern gab neue Hoffnung, als hemdsärmeliger und unverbrauchter „Mann der Wirtschaft” (Parteikarriere im steuerfinanzierten Staatsbetrieb) die österreichischen Lebenslügen noch einmal frisch anstreichen zu können. Am Bundespräsidenten wurde bislang die Qualität am meisten geschätzt, nicht negativ aufzufallen und gemütlich in der Hofburg als Ersatzkaiser gute Miene zum Spiel der Parteien zu machen. Dieses Anforderungsprofil wird der „situationselastische” Van der Bellen gut erfüllen. Norbert Hofers knappe Niederlage war ein Wink mit dem Zaunpfahl an das Parteienkartell, die Wähler beim Plündern des Landes nicht zu kurz kommen zu lassen – die Massenzuwanderung weckt entsprechende Sorgen.
Hofers FPÖ bloß als „rechtsextrem” zu verunglimpfen, geht am Kern der Sache vorbei. Sie gewann v.a. Wähler der „linken” SPÖ hinzu, während die „rechte” ÖVP im nationalen Schulterschluss für den „linksextremen” Kandidaten Van der Bellen warb. Diese Kategorien sind längst überholt. In Österreich hat jede Partei notwendigerweise irgendwo unschöne Wurzeln in der Vergangenheit, immerhin waren die Nationalsozialisten eine Bewegung der gesellschaftlichen Mitte, der Kleinbürger und Halbgebildeten. Die Kontinuität zur FPÖ ist keinesfalls größer als etwa zur SPÖ, eher umgekehrt, und der Faschismus (entgegen Stalins Diktion nicht identisch mit Nazismus) enger mit der ÖVP verbunden. Wesentliche Forderung der FPÖ ist eine Ausweitung direktdemokratischer Verfahren, was man schwerlich als antidemokratisch abtun kann. Einen wirklichen Wandel kann eine FPÖ freilich nicht bringen, sie dient nur als Kanal und Symptom des Unmuts. Aufgrund der Polarisierung zwischen eher urbaner Elite und dem Rest der Bevölkerung ist es für populistische Oppositionsparteien praktisch unmöglich, kompetentes Personal im Gleichschritt mit volatilen Wahlergebnissen aufzubauen.
Im Kern geht es darum, dass das Land auf der Kippe steht, weil es hin- und hergerissen ist zwischen der Sehnsucht, an die eigene Seligkeit zu glauben, und dem drohenden Glaubensverlust, der ein Verlust des Vertrauens in die Eliten des Landes ist. Diese Zerrissenheit zeigt sich an der dramatischen Polarisierung, nach der nun zwei Hälften der Bevölkerung die jeweils andere Hälfte als Zerstörer ihrer seligen Insel ansehen. Die wenigen urbanen Zentren, in denen die Reste des Bürgertums fließend mit Günstlingen des Parteienkartells durchmischt sind, stehen den ländlichen Regionen gegenüber. Es ist der europaweite Gegensatz zwischen zentralistischen Eliten und zu kurz kommenden Nicht-Eliten, wobei sich Letztere als „Volk” überschätzen. Das gibt ihnen aber keine „völkische” Intention, und sie stellen keine Gefahr für Europa dar – allenfalls für die EU.
Die Polarisierung würde in Österreich durch Gemütlichkeit und Schlampigkeit gemildert, wenn nicht Interventionen und Fehldeutungen von außen mehr Öl ins Feuer gössen. Die Parteinahme von Martin Schulz bzw. Jean-Claude Juncker gegen einen der Kandidaten halfen diesem durch Verstärkung der Frontlinien: Die Stimmen gegen den EU-Zentralismus als antidemokratisch, antieuropäisch und Bedrohung des Rechtsstaats zu verleumden, entblößt eher die Proponenten im Glashaus.
Die Mehrheit der Österreicher ist freilich noch nicht bereit, die Entzauberung ihrer Insel in Kauf zu nehmen. Das Image von der weltbesten ökosozialen Marktwirtschaft mit dem weltbesten Gesundheitssystem, die weltweit um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu beneiden sei, ist längst weit von der Realität entfernt – einer Realität systematischer und schamloser Korruption und Plünderung des Landes. Doch selbst die FPÖ-Wähler hängen an diesem Wunschbild; die wesentliche Losung der vermeintlichen Systemveränderer ist die bessere Bewahrung des Bestehenden.
Dass Norbert Hofer das Präsidentenamt knapp verpasst hat, erhöht die Chancen für einen Regierungswechsel – wenn der kleine Vertrauensvorschuss für Kern aufgebraucht ist. Die Spaltung des Landes wurde ein wenig durch die geeinte Ablehnung der bislang dominanten Parteien entschärft. Auf Regierungsposten werden diese aber nicht so leicht verzichten wie auf die Hofburg.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.