Das Land der Freien und Mutigen oder interventionistischer Polizeistaat? Was nährt Antiamerikanismus, was spricht heute noch für Amerika? Trump oder Hillary? Was begründet den amerikanischen Sonderweg?
Geopolitik
Die Zähmung der Untertanen
Die „politische Korrektheit” wird durch grundverschiedene Annahmen und Motive genährt, einige davon lösen Gegenreaktionen aus, die wiederum neue Motive begründen. Als systematischer Versuch der Denkveränderung durch Sprachveränderung ist sie die logische Konsequenz behavioristischer Zugänge zur Politik, die auf eine Veränderung des Menschen durch Veränderung der Institutionen, darunter der Sprache, abzielen. Nahezu alle utopischen Ideologien beruhen, in ihrer modernen Spielart, auf behavioristischen Annahmen.
Diese betonen die „Nurture” im Gegensatz zur „Nature“, die soziale Prägung, Bildung, Beeinflussbarkeit und Formbarkeit im Gegensatz zu beständigerer menschlicher Natur, die gar eine genetische Komponente haben könnte. Im Selbstverständnis sind diese Ansätze emanzipatorisch. Ihre Attraktivität und Problematik hat bereits Goethe in einer tiefen Einsicht dargelegt. Er schrieb: „Wenn wir […] die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.”
Die Problematik liegt in der „emanzipatorischen” Unaufrichtigkeit, die das Sein der Menschen ausblenden muss, um jede normative Kraft des Faktischen zu verhindern. Das mag ein erzieherischer Zugang sein – und er hat durchaus suggestive Kraft –, doch gefährlich wird dieser Zugang nicht nur im paternalistischen Extrem, in dem sich Menschen als Erziehungsberechtigte ihrer Mitmenschen aufspielen, sondern auch und besonders, wenn man ihn erkenntnistheoretisch auffasst. Dann haben wir es mit systematischer Lüge zu tun, die sich in ihrer emanzipatorischen Zielsetzung auch noch als Kind der Aufklärung wähnt und moralisch auf der Siegerseite sieht – daher immunisiert ist.
Im Schatten dieser moralischen Gewissheit konnten sich unmoralische Interessen breitmachen. Aus der emanzipatorischen Gesinnung wurde ein geistiger Opferkult, der menschliche Schicksale zur individuellen Bereicherung und Prestigemehrung missbraucht. In einem umgekehrten Sexismus und Rassismus werden Frauen, Schwarze und bestimmte Minderheiten zu Schutzbefohlenen degradiert, die Sittenwächter bräuchten, um sie vor Beleidigungen zu bewahren. Das Beziehen von „politisch korrekten” Positionen täuscht heroische Gesinnung vor, ohne dass man persönliche Nachteile riskiert: So wurde „politische Korrektheit” zum Duckmäusertum von – durchaus bürgerlichen – Karrieristen, die kontroverse Positionen scheuen.
Den aus Anpassungsdruck wachsenden Tugendterror hat bereits G. K. Chesterton vor mehr als hundert Jahren vorausgesagt: „Die moderne Welt ist voll von den alten christlichen Tugenden, bloß sind diese vollkommen verrückt geworden. Die Tugenden sind verrückt geworden, weil sie von einander isoliert worden sind und nun alleine umherwandern. So sorgen sich manche Wissenschaftler um die Wahrheit, doch ihre Wahrheit ist ohne Barmherzigkeit. So sorgen sich manche Humanitäre um die Barmherzigkeit, doch ihre Barmherzigkeit ist oft ohne Wahrheit.” Diese vermeintliche Barmherzigkeit ohne Wahrheit gibt vor, den Schwachen zu helfen, versteckt aber eigene Unzulänglichkeit hinter einem unaufrichtigen Helfersyndrom, das panisch immer neue Opfergruppen zur Selbstwertsteigerung sucht und braucht.
Die „Humanitären mit der Guillotine” nannte diesen Menschenschlag Isabel Paterson, eine der starken Frauen der Freiheitsidee, gegen die heute ausgerechnet im Namen der Frauen opponiert wird. Diese vermeintlich armen, schwachen Wesen bräuchten nämlich Sprachdiktat, Zwangsquoten, „Programme” und Behörden, um ihren Weg gehen zu können. Neben den Frauen leidet v. a. die Wahrheit unter diesem verkehrten Sexismus: Da wird der grammatikalische Genus aus Unkenntnis der Sprache zu einem Sexus sexualisiert, das generische zum gegnerischen Maskulinum aufgeladen und die Wirklichkeit selektiv skandalisiert: Nur der Mangel an Unternehmerinnen und Managerinnen wird beklagt und sinistren Verschwörungen zugeschrieben, niemals der Mangel an Vergewaltigerinnen und Gefängnisinsassinnen.
Diese Wirklichkeitsflucht, die ständig korrigierend beschönigen und beschwichtigen, im Notfall gar zensieren und verfolgen muss, erinnert an die ursprüngliche Bedeutung von „politischer Korrektheit“, die wesentliches Element des Stalinismus war. Gedankenverbrechen galten als Verrat, da sie Zweifel säten und dem Klassenfeind dienten. Es war auch Stalin, der die Losung ausgab, alle Gegner unterschiedslos als „Faschisten” zu bezeichnen, den Begriff Nationalsozialismus aufgrund seiner enttarnenden Begriffsnähe zum Sowjettotalitarismus völlig durch den Begriff Faschismus zu ersetzen und gewaltbereite, intolerante Totalitäre, sofern sie nur dem eigenen Lager dienlich sind, als „Antifaschisten” zu adeln.
Die heutige „politische Korrektheit” ist allerdings zum überwiegenden Teil Konfliktscheu und Gegenreaktion. Beide Motive sind verständlich. Digital vernetzte heterogene Massengesellschaften ohne gemeinsame Wert- und Erkenntnisgrundlage, die das Vertrauen in ihre Deutungseliten verlieren, ähneln reizbaren Bestien. Die Sorge um ein Durchbrechen der Konflikte von den digitalen Schmierwänden in die Straßen ist berechtigt. Sehr oft ist „politische Korrektheit” schlicht eine Frage der Umgangsform: Im persönlichen Umgang ist Sensibilität zu Recht gefordert. Die wachsende biografische Vielfalt, der Meinungsdruck und die divergenten Deutungen machen Toleranz zu einer schwierigen Übung. Doch ohne ein Minimum an Toleranz kann eine heterogene Gesellschaft nicht bestehen.
Leider gerät die Toleranz in eine Schieflage, wenn sie nicht auch den wachsenden Unmut über die sich zu „Erziehungsberechtigten” Aufschwingenden empathisch nachvollziehen kann, die den Menschen immer öfter korrigierend und sanktionierend ins Wort fallen. In der Tat – die Worte werden schärfer, die Wut sieht oft nach Hass aus. Die „politische Unkorrektheit” ist ein Ventil, und es sind nicht die Besten, die sich ihrer in einfältiger Spiegelung aus Trotz bedienen. Es ist ein Trotz der Untertanen gegen ihre Obertanen. Die „politisch Unkorrekten” gehören eher der Unterschicht an, es sind Leute, die weniger zu verlieren haben. Ein bürgerlicher Karrierist wird sich tunlichst jeder Unkorrektheit enthalten, die durch die typische Hysterie in den „unsozialen Medien” sein Karriereende bedeuten könnte.
Mit der wirtschaftlichen Stagnation wird damit Provokation wider die Korrektheit zum massentauglichen Erfolgsrezept. Die Unkorrekten bemerken, dass sich stets die Richtigen gereizt fühlen, und erhöhen langsam die Dosis. Propaganda endet stets in beißendem Spott. Auch das ließe sich von der Sowjeterfahrung lernen. Die Obertanen, die gleicheren Gleichen, haben sich bequem in einer Parallelwelt eingerichtet. Es ist eine Parallelwelt ohne reaktionäre Zweifel, voll moralischer Überheblichkeit, aber ohne jede reale Verantwortung. Ausbaden dürfen die Konsequenzen der bequemen Illusionen stets die Untertanen.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.
Recht und Unrecht
Leben wir in einem Rechtsstaat oder bereits in einem Unrechtsstaat? Sind Staat und Recht Bedingungen oder Gegensätze? Was ist die Grundlage des Rechts und der Gerechtigkeit? Gibt es Alternativen zur
Wie groß ist die Macht der Märkte?
Der Mensch kommt als abhängiges Wesen auf die Welt. Die Dinge, die er braucht und will, hat und erreicht er nicht selbst. Zum Glück ist das Kleinkind im Regelfall von Menschen umgeben, die dessen Ziele teilen, die sich über dessen Freude freuen und die dessen Schmerz schmerzt. Unsere Instinkte sind auf dieses Ideal ausgerichtet, wir suchen es in Familie und Freundschaft: diese Einigkeit in den Zielen, die einem gemeinsamen Willen zu unseren Gunsten entspricht.
Bald merken wir zu unserem Unbehagen, dass nicht alle Menschen unsere Ziele teilen und nicht für alle unser Wohlergehen Selbstzweck ist. Wir stoßen auf Konflikte, bei denen es nicht ausreicht, etwas zu wollen, um es auch zu erlangen, weil uns ein fremder Wille widerstrebt. Das Spielzeug des Spielgefährten könnten wir uns durch Zwang aneignen, doch dann ist es meist mit dem Spiel und dem Spaß vorbei.
Besser ist es, wenn die anderen uns das selbst übergeben, was wir wollen und brauchen. Um sie dazu zu bewegen, gibt es nur zwei Wege: Wir können Zwang androhen – das könnte man ein Zwangsversprechen nennen. Die Fähigkeit, durch Zwangsversprechen gegen den Willen von Menschen etwas zu bewirken, kann man Macht nennen – das entspricht in etwa der Definition des Begriffs durch Max Weber.
Der zweite Weg verläuft parallel aber gegenteilig: Statt einem „Wenn nicht … dann!” kommunizieren wir ein „Wenn … dann”. Es handelt sich dabei um ein Wertversprechen, wir bieten etwas an, das ein Mittel für des Nächsten Ziele sein könnte.
Letzterer Weg ist der Weg der Märkte. Das Wort ist abgeleitet von lateinisch merx – das Gut, allerdings auch im Sinne einer Gnade. Derselbe Stamm liegt französisch merci und englisch mercy zugrunde. Mercedes ist der Plural; die Automarke ist nach dem spanischen Vornamen benannt, und dieser verweist auf die gnadenreiche und hochbedankte Jungfrau Maria.
Es geht also um dankenswerte Gegenleistungen, welche die strenge Reziprozität von Märkten ausmachen. Je mehr wir uns auf diese Reziprozität einlassen, desto größer die Arbeitsteilung und damit die wechselseitige Abhängigkeit. Die Fähigkeit, sich durch Wertversprechen zu Dank und damit zu Gegenleistung zu verpflichten, erscheint analog zur Macht. Doch denselben Begriff zu verwenden, überdehnt die Analogie. Besser ist es, für diese Fähigkeit geglaubter und damit in der Regel gedeckter Wertversprechen den Begriff Vermögen einzusetzen.
Haben Vermögende große Macht? Vermögen und Macht sind etymologisch nahe beieinander, und die Parallelität ist deutlich, doch der Unterschied doch ein ganz grundsätzlicher. Es ist der Unterschied zwischen Angeboten, die man ablehnen kann, und – frei nach dem Film „Der Pate” – Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Die Frage „Schwarztee oder Grüntee?” hat offensichtlich eine andere Qualität als die Frage „Geld oder Leben?”.
Die Abhängigkeit von anderen ist umso schmerzvoller aufgrund der Anonymität von Märkten. Immerhin sind wir nicht mehr von einzelnen abhängig, sondern von austauschbaren Fremden. Wenn wir gastfreundschaftlich verkehren und uns ein Glas gegen den Durst gereicht wird, würden wir jede Geldforderung bei der Verabschiedung als unverschämt empfinden. Im Fremdenverkehr aber müssen wir fast überall zahlen, und dieses Müssen wird manchmal als Machtbeweis interpretiert – als Abhängigkeit gegenüber jenen, die Macht über uns haben, weil sie über das verfügen, was wir brauchen und wollen.
Tatsächlich hat dies nichts mit Macht zu tun, viel mehr mit Fremdheit und Anonymität. Es ist sehr unwahrscheinlich, Menschen, die wir als Tauschpartner treffen, in einer Situation wiederzusehen und wiederzuerkennen, in der wir ihnen einen Gefallen erweisen können. Darum reicht die lose Reziprozität der Gastfreundschaft unter Fremden nicht aus. Zum Tausch ist strenge und unmittelbare Reziprozität nötig. Wollen wir einen Gefallen, müssen wir einen gewissen und unmittelbaren Gegengefallen leisten. Darum sagte man auf Latein mercedem solvere für bezahlen: Das Gut – die Dankbarkeit – muss ausgelöst werden.
Dank der Ökonomie des abnehmenden Grenznutzens unterscheidet sich die Bewertung von Gefallen und Gegengefallen gerade genug, um den Tausch auch unter Fremden zu einer für beide Seiten vorteilhaften Angelegenheit zu machen. Diese Reziprozität der Märkte fördert die Arbeitsteilung. Das bedeutet aber auch, dass wir mit steigendem Wohlstand dank steigender Arbeitsteilung in steigendem Maße von anonymen Fremden abhängig werden. Psychisch verstärkt die Fremdheit und Anonymität das unangenehme Gefühl der Abhängigkeit, ökonomisch mildert es aber deren Folge: Wir sind dank Märkten eben selten von konkreten Einzelnen abhängig, sondern von einem anonymen Netzwerk, in dem die meisten Anbieter und Nachfrager ausgetauscht werden können, ohne dass es uns besonders schmerzen würde.
Gewiss sinkt mit der Arbeitsteilung die Fähigkeit zur Autarkie und steigt damit die Abhängigkeit von Fremden. Die damit wachsende Angst steht wohl hinter dem Begriff der „Entfremdung“. Diese ist eine notwendige Folge höherer Arbeitsteilung. Es ist nicht völlig gewiss, dass dieser Weg steigender Entfremdung immer der beste ist. Doch er wurde den Menschen nicht aufgezwungen. Entfremdung ist der „Trade-off” steigenden Wohlstands – und diese Wohlstandssteigerung wird gemeinhin unterschätzt. Tatsächlich wurden 97 Prozent des gesamten materiellen Wohlstands in den letzten 0,01 Prozent der Menschheitsgeschichte geschaffen, in jener kurzen Phase globaler Arbeitsteilung.
Den größten Teil ihrer Geschichte hat die Menschheit allerdings unter nicht „entfremdeten” Bedingungen verbracht, im engen Kontext der Sippe, in der wir mit indirekter und ungenauer Reziprozität auskommen. Am Beginn der modernen Hochphase der Arbeitsteilung und damit Fremdabhängigkeit kam daher der politische Kampfbegriff der „Brüderlichkeit” auf, der die Sehnsucht nach dem Gegenteil von Entfremdung ausdrückt. Fast alle Utopien und Ideologien drehen sich um das Unwohlsein des Menschen unter Bedingungen der Entfremdung. Der Mensch sehnt sich kraft seiner Urinstinkte nach jener kindlichen Erfahrung der völligen Zielübereinstimmung zurück. Hier liegt die einzige Alternative zur Marktgesellschaft: die Gemeinschaft, in der die grundlegenden Ziele geteilt werden.
Es gab zwei historische Experimentierfelder für solche Gemeinschaften, in denen weder Zwang noch entfremdende anonyme Reziprozität nötig sind, um Koordination zu erreichen: die USA und Israel. Die Erfahrungen in beiden Regionen zeigen, dass kaum eine Gemeinschaft überlebt, wenn nicht aufgrund strenger, homogener Religiosität Zielübereinstimmung aufrecht erhalten werden kann. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich alle amerikanischen Kommunen innerhalb einer Generation aufgelöst; und die wenigen Kibbuzim, die nicht zu Unternehmen oder losen Siedlungsgenossenschaften wurden, sind glaubensstrenge Siedlergemeinschaften.
Die Auflösungstendenzen von Gemeinschaften werden durch die Marktkonkurrenz verschärft – denn Märkte sind durch eine dritte Eigenschaft gekennzeichnet: Attraktivität. Das Warenangebot ist verlockend, und diese Attraktion wird oft als Macht interpretiert. Doch diese Interpretation setzt ein übertrieben negatives Menschenbild voraus. Das zeigt sich an historischen Versuchen, Frauen vor dieser „Marktmacht” zu schützen. Als im 19. Jahrhundert Kaufhäuser in den großen Städten errichtet wurden, schimpften Beobachter darüber, dass hier Frauen ohne Begleitung des Ehemanns verkehrten. Die Einrichtungen wurden manchmal Bordellen gleichgesetzt. Hinter dieser Perspektive steht freilich Frauenfeindlichkeit, die Wahrnehmung des „schwachen Geschlechts” als verantwortungsunfähig.
Tatsächlich hatten die Frauen eine weit größere „Macht” über die Kaufhäuser als umgekehrt, das zeigt sich an deren Ausgestaltung. Die ästhetischen Innovationen der alten Kaufhäuser und ein Warenangebot, das auf Qualität und Vielfalt Wert legte, folgten den Versuchen der Kaufhausunternehmer, dem weiblichen Publikum zu gefallen. Mit heutigen Shopping-Malls hatten die ursprünglichen Kaufhäuser wenig zu tun. Sie boten das Beste der damaligen Zeit, weil die Damen von Welt Geschmack und Würde zeigten, nicht das Schlechteste, um wehrlos kaufsüchtige Frauen auszunehmen. Die heutige Perspektive ist nur deshalb weniger sexistisch, weil sie Männer und Frauen gleichermaßen als verantwortungsunfähig betrachtet.
Diese Perspektive, die der Attraktivität „Macht” zuschreibt, nimmt eine naheliegende Analogie zu ernst. Diese Analogie findet sich auch im Umgang der Geschlechter, wenn wir von den „Waffen einer Frau” sprechen. Analogien nähren Humor und Beispiele, dürfen aber nicht mit der Realität verwechselt werden. Weibliche Reize haben genauso wenig mit Mordinstrumenten zu tun wie ein attraktives Warenangebot mit Macht.
Der Versuch, die Menschen vor der scheinbaren „Macht” von Verlockungen zu schützen, bedeutet stets eine Einschränkung ihrer Freiheit. Dies zeigt sich bei all den Versuchen, weibliche Reize zu unterbinden, aber auch bei paternalistischem Schutz vor Märkten. Im alten Rom etwa räumte ein Senatsbeschluss den Frauen ein erweitertes Rücktrittsrecht bei Geschäften an der Türschwelle ein. Argumentiert wurde damit, dass man Frauen vor Hausierern schützen müsse, die sie mit betörenden Waren um den Verstand brächten. Die Folge war natürlich, dass Frauen nicht mehr als vollwertige Tauschpartner behandelt wurden, da ihre Vertragsfähigkeit eingeschränkt war. Die vor dem Markt „geschützten” Frauen wurden entrechtet.
Doch bedienen sich heute nicht Marktakteure der Politik und zwingen damit ihre Vorstellungen auf? Die großen Aufwände von Unternehmen für Lobbying werden gemeinhin als Hinweis auf steigende „Marktmacht” interpretiert. Tatsächlich ist Korruption im Sinne von Versuchen, Vermögen als Lockmittel zur Regelumgehung einzusetzen, besonders virulent in Ländern, in denen eine Übermacht des Zwanges besteht, nicht der Märkte. Auch in den vermeintlichen Marktwirtschaften korreliert der Aufwand für Lobbying mit der Politiknähe und damit Marktferne von Unternehmen.
Im Gegensatz zu den „Public Relations” wird Lobbying euphemistisch als „Public Affairs” bezeichnet. Dieser Begriff deutet auf die Affären hin, bei denen „big business” und „big government” ein Techtelmechtel eingehen und Bastarde gebären, die weder Unternehmen im eigentlichen Sinne noch rein politische Gruppierungen sind.
Zweifellos besteht zwischen Macht und Vermögen eine gewisse Anziehungskraft. Vermögende suchen Geltung, die ihnen eine Marktgesellschaft nicht ausreichend gewährt – Märkte bieten niemals dauerhafte Vorrechte. Machthaber hingegen bedürfen endloser wirtschaftlicher Mittel, denn Machterhalt ist sehr teuer. Das Ziel des meisten Lobbyings ist gesteuerte Regulierung, nicht Deregulierung. Der mächtigste Teil der „Wirtschaft” hat mit Märkten am allerwenigsten zu tun, es ist der am stärksten regulierte Sektor mit engstem Verhältnis zur Politik: das Bankwesen.
Letztlich ist es auch das Finanzsystem, das die steigende Ohnmacht gegenüber der vermeintlichen Übermacht der Märkte erklärt. Die Pyramide reziproker Abhängigkeiten, die uns in unerreichte Höhen materiellen Wohlstands emporhob, fühlt sich deshalb so wackelig an, weil ihr Fundament ausgehöhlt ist – sie ist heute nur noch auf Sand gebaut. Die Tauschmittel und Wertträger, auf denen die Pyramide steht, haben immer weniger mit Angeboten zu tun, die man ablehnen kann. Ihre Wertgrundlage ist Zwang. Dieser Zwang war bislang für die meisten unsichtbar und dringt nun langsam an die Oberfläche. Die Politik erscheint deshalb machtlos, weil ihr die Option billiger Macht verloren geht. Diese war immer schon Fiktion, denn Macht kann es ohne Zwang nicht geben. Immer panischere Zwangsmittel werden nun herbeigeschrieben und verordnet, von Reichsfluchtsteuer bis Bargeldverbot, von absoluter Überwachung bis Teilenteignung. Mit „Marktmacht” hat all dies nichts zu tun, auch nicht mit politischer Machtlosigkeit, sondern nur mit der Notwendigkeit, die politische Machtanmaßung wieder durch offenen Zwang zu decken. Vor Zwang fürchten sich Menschen zu Recht, er entmenschlicht uns. Vor Vermögenden, vor den Verlockungen eines Waren- und Dienstleistungsangebots, vor den Angeboten Fremder müssen wir uns nicht fürchten. Über manche Vermögende dürfen wir zu Recht lachen, und nicht alle angebotenen Verlockungen tun uns gut. Dies entscheiden zu können, unterscheidet Erwachsene von Kindern; dies entscheiden zu dürfen, unterscheidet Freie von Sklaven.