In der heutigen Blasenwirtschaft erscheint die Subjektivität von Werten oft als Beliebigkeit. Zufälle entscheiden über den Verkaufserfolg, Aufmerksamkeit pflanzt sich „viral” fort, und der
Scholien
Geopolitische Verschwörungen
Im Dilemma Inkompetenz in den Ergebnissen nicht von diabolischer Kompetenz unterscheiden zu können, neige ich eher der Inkompetenz zu, denn diese ist viel häufiger und reichlicher vorhanden. In einem geflügelten Wort, das auf den Science-Fiction-Autor Robert Heinlein zurückgeht, steckt viel Weisheit:
Never attribute to malice that which can be adequately explained by stupidity.
[Schreibe nichts böser Absicht zu, das genauso gut durch Dummheit erklärt werden kann.]
Eine ähnliche Empfehlung stammt von Sir Bernard Ingham, dem Pressesprecher von Margaret Thatcher:
Many journalists have
Fröhliche Apokalypse
Es hat wohl seit dem 16., ganz bestimmt aber seit Ende des 17. Jahrhunderts keine Epoche in der europäischen Geschichte gegeben, die ihre Zeitgenossen – und nicht erst
Die Start-up-Illusion
Leider dominieren zahlreiche Missverständnisse und Verzerrungen dieses Feld junger Skalierversuche. So ist das grundlegende Versprechen, jungen Menschen, denen in Europa der Eintritt ins Berufsleben zunehmend schwerfällt, durch die Förderung der Gründung von Unternehmen Beschäftigung zu verschaffen, eine verheerende Täuschung. Gut bezahlte Arbeitsplätze, die voll besteuert und versichert sind, entstehen eher durch Erweiterung von Konzernen als durch Neugründungen. Die Empirie zeigt selbst für die gründungsfreundlicheren USA ein erschreckendes Missverhältnis: Durchschnittlich 43 Unternehmensgründungen sind nötig, um letztlich neun Arbeitsplätze zu schaffen, die länger als zehn Jahre Bestand haben. Das liegt vor allem an der hohen Quote des Scheiterns von Neugründungen (je nach Schätzung sechs bis neun gescheiterte von zehn Gründungen).
Skalieren bedeutet immer auch das Hebeln von Risiko. Skalierversuche haben oft den Charakter von binären Wetten, die entweder großen Gewinn oder Totalverlust bedeuten. Andererseits ist Skalierung die Voraussetzung für zusätzliche Arbeitsplätze, da nur hochskalierte Produktivität die hohen Steuern und Lohnnebenkosten erwirtschaften kann. Nichtskalierende Unternehmen von Selbständigen, etwa Handwerkern, Künstlern und Ärzten, bieten nur wenig Beschäftigung – weisen aber auch ein wesentlich geringeres Verlustrisiko auf. Die spezifische Förderung von Start-ups als Beschäftigungspolitik darzustellen, ist also Irrtum oder Irreführung.
Gewiss ist Selbständigkeit die wesentliche Alternative zu einem Arbeitsplatz. Deshalb wird steigende Arbeitslosigkeit durchaus ein wenig durch höhere Selbständigenquoten aufgefangen. Letztere sind aber in der Regel ein Indikator für niedrige Produktivität. Die höchste Selbständigenquote haben unterentwickelte Wirtschaftsräume, in denen Subsistenzwirtschaft und Kleinstunternehmertum vorrangige Tätigkeiten darstellen. Eine niedrige Selbständigenquote ist heute zwar ein Indikator für die höhere Kapitalintensität einer Wirtschaft, dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich führen zahlreiche künstliche Skaleneffekte zu einer Senkung der Selbständigenquote, ohne dass echte Produktivitätsgewinne dahinterstehen. Der stärkste künstliche Skaleneffekt ist die Kreditmengenausweitung in der Hausse, die durch überhöhte Lohnabhängigkeit gekennzeichnet ist, die dann in der Baisse zu schmerzhaften Korrekturen führt. Sobald das Wachstum stagniert, kündigt sich daher eine wachsende Selbständigenquote an, die schnell als Lichtblick unter den sonst negativen Schlagzeilen gilt, was die plötzliche Begeisterung für das Unternehmertum seitens der Politik, der Medien und der Bildungseinrichtungen erklärt.
Ohne die künstlichen Skaleneffekte im Zuge der gegenwärtigen massiven Verzerrung der Wirtschaftsstruktur wäre die durchschnittliche Unternehmensgröße kleiner und daher die Selbständigenquote – auch bei kapitalintensiver Produktion – höher. Eine höhere Selbständigenquote ist in der Tat ein Wert für sich, da sie mehr Menschen erlaubt, etwas Eigenes aufzubauen. Das Aufbauen, Gestalten, Entwickeln und Führen eigener Projekte und das Leben einer Berufung stiften Sinn. Nach Viktor Frankl ist dieses «Schaffen» einer der Königswege zu einer sinnerfüllten Existenz. Die Sehnsucht nach dem Eigenen macht auch den wesentlichen Reiz des Gründens aus. Leider schafft die Start-up-Kultur hier aber ein unüberwindliches Paradoxon: Zwar ist jede Neugründung für den engeren Gründerkreis zunächst tatsächlich identitäts- und sinnstiftend, doch ihr Zweck als Start-up ist die Skalierbarkeit, und das bedeutet eben im Erfolgsfall ein Aufblähen dieses Identitäts- und Sinnbezugs auf immer mehr immer entferntere Menschen. Die logische Folge von Skalierung ist, dass mehr Menschen an Unternehmen mitarbeiten als Unternehmen gründen, gestalten und verantworten.
Start-ups sind zweifellos großartige Lernerfahrungen für die Gründer, zumal sie ja – richtig verstanden – Lernunternehmen sind. Sie sind konkrete Umsetzungs- und Problemlösungsversuche und haben daher viel Potenzial, die Welt zu bereichern und das Leben der Mitmenschen ein wenig zu verbessern. Gefährlich ist bloß die Verzerrung, die jedem Hype innewohnt. Besonders die politische Entdeckung der Start-ups als ideale, medial attraktive Projektionsfläche einer Symbolpolitik in Krisenzeiten schadet dem realen Unternehmertum. Mittlerweile sind Subventionen für die Gründung von Unternehmen schon so sehr die Regel, dass die erste Frage von potenziellen privaten Investoren an ein junges Unternehmen oft ist, ob schon alle Förderungen abgegriffen wurden. Ohne diesen staatlichen Hebel, der wettbewerbsverzerrend wirkt, wollen immer weniger Investoren privates Kapital riskieren.
Jede Förderung entbindet ein Unternehmen allerdings etwas von der Marktdisziplin, wodurch seine Lernfähigkeit gefährdet wird. Es entstehen dann geförderte Parallelwelten, die zwar das Etikett des Unternehmertums führen, damit real aber immer weniger zu tun haben. Solche Parallelwelten, bei denen die schönen Worte, die guten Intentionen und die richtigen Kontakte immer wichtiger werden als der konkrete Dienst an konkreten Kunden, führen die Lernversuche in die Irre. Nach Wegfall der Förderung läuft das Unternehmen dann oft aus, wenn die letzten Mittel ausgegeben sind. Solche Start-up-Förderung ähnelt eher Künstlerstipendien. Es handelt sich um Zuschüsse zur individuellen Selbstverwirklichung, die sich hier eben in der Schaffung einer Corporate Identity als Selbstzweck ausdrückt: Visitenkarten, Büros und Websites.
Die Überbetonung der Kreativität solcher Gründungen ist ein weiteres bedenkliches Symptom. Natürlich ist vieles an der Gründerkreativität real, es handelt sich um ehrliche Gestaltungsversuche von Marken, Prozessen, Auftritten, Arbeitsformen, Orten, Technologien und Kundenerfahrungen, die viel Wertschöpfungspotenzial aufweisen. Doch die Überbetonung der Ideen ist oft ein Hinweis auf einen schwindenden Kapitalstock.
Tatsächlich ist Kapital knapper als Ideen: Ideen sind weniger beschränkt als die realen Mittel und der zur Entscheidung und Umsetzung nötige Mut. Der reale Kapitalmangel trotz der nominalen Liquiditätsexplosion kann durch übertriebene und kurzfristig orientierte Skalierungsversprechen und -erwartungen, die Unternehmensgründungen letztlich zu einer Lotterie machen, eine Weile überdeckt werden. Dann verkommt das Unternehmertum zur Selbstverwirklichung von wohlhabenden oder subventionierten Jugendlichen, die mehr auf Hochgeschwindigkeits-Marketing als auf realen Kundennutzen setzt und nur eine Weile über den erschwerten Eintritt in den Arbeitsmarkt hinwegtröstet.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.
Wutbürger gegen Eliten?
Die Gegenperspektive sieht in der Wut der Bürger bloß eine Gegenreaktion auf eine kleine Schicht, die in zynischer und manipulativer Weise danach trachte, die Bevölkerung zu kontrollieren, umzuerziehen und die eigenen Machtpositionen zu schützen. Diese Perspektive sieht das bereits sprichwörtliche eine Prozent die übrigen 99 Prozent unter einen Firnis von Denkverboten und Ausbeutung zwängen. Antreiben würden dabei elitäre Ressentiments gegenüber den Bürgern und Untertanen, die gefälligst den Mund halten und brav zahlen sollen. Die Polarisierung sei also ein von einer kleinen Elite betriebenes Phänomen des verzweifelten Zurückdrängens unliebsamer Meinungen und Informationen.
Diese zwei Perspektiven können wir kurz die populäre und die elitäre Perspektive nennen. Genauer müsste man von „popular” sprechen, denn dieser Perspektivenkonflikt ist uralt. Er begegnet uns schon im antiken Rom als Frontstellung der Popularen (der Bedeutung nach in etwa „die Zahlreichen“) und der Optimaten (der Bedeutung nach in etwa „die Besten” oder zugespitzt: „die Bessermenschen”). Wenn ähnliche Konflikte immer wieder auftreten, sind sie ein Hinweis auf zugrundeliegende Dilemmata, die man nicht für immer einseitig auflösen kann.
Beide Positionen haben einen paradoxen Haken: Wer sind die Zahlreichen, wer ist die Elite? Zahlreich ist die Opposition aus Sicht der Elite. Wer ein Wutbürger ist, ja der Begriff selbst, ist durch eine Elite in Medien und Politik definiert – denn hier handelt es sich um eine Deutung des politischen Diskurses, die gegenüber anderen Deutungen eine Vorrangstellung errang. Der Begriff wurde vom Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit geprägt und – wie das bei Sprache nun einmal so ist – spontan von anderen übernommen, um sich an eine öffentlich beachtete Debatte anzuhängen. Die öffentliche Beachtung ist allerdings definitorisch für „Elite“: Es sind eben diejenigen, deren Begriffe man eher übernimmt, die mehr Aufmerksamkeit erreichen, deren Meinung mehr Gewicht hat. Diese Elite wiederum, und hier schließt sich der paradoxe Kreis, wird definiert durch ihre populäre Anerkennung. Anerkennung hat allerdings wenig mit Meinungen zu tun, die Meinungen von gewöhnlichen Bürgern sind weitgehend irrelevant. Sonst ließe sich ja auch die Diskrepanz zwischen der Meinung der Vielen über die vermeintliche Elite und die Dominanz der letzteren kaum erklären. Das ausgedrückte Vertrauen gegenüber Politikern, Journalisten und Experten hat schließlich einen Tiefststand erreicht. Doch ausgedrückte Präferenzen sind gegenüber demonstrierten Präferenzen nicht weiter von Belang, wie die Ökonomik lehrt. Tatsächlich besteht die Anerkennung von Eliten aus Handlungen, nicht aus Meinungen. Und auch der größte Wutbürger, gerade dieser, würdigt mit seiner Wut, im Wählen der entsprechenden Adressaten, deren Bedeutung. Ob man den Fernseher einschaltet, um über das Fernsehprogramm zu schimpfen oder einem Fernsehakteur die Daumen zu halten, ist unerheblich. Das antielitäre Engagement bettelt die Eliten um Aufmerksamkeit und Anerkennung, Widerspruch und Zuspruch, Vorgaben und Sanktionen, Begünstigungen und Subventionen, Ausnahmen und Reformen an. Dabei wird deutlich, dass die „Elite” kein starrer Block fremder Akteure sein kann, keine außerirdische Erbmonarchie, sondern die nüchterne Beschreibung des spontanen Zusammenwirkens menschlichen Handelns. Der Kern jeder Elite, der Auslöser ihrer spontanen Bekräftigung ist Legitimität, die noch lange anhält, nachdem die Meinungen sich gewandelt haben, weil sie strukturbildend ist. Legitimität entsteht aus Vertrauen. Es ist die eigentliche Erziehungsberechtigung der Erziehungsbeauftragten.
Hier findet sich auch der Kern der aktuell wachsenden Polarisierung: Es handelt sich um die notwendige Folge eines Vertrauensverlusts. Die Strukturen, die auf diesem Vertrauen beruhen, geraten ins Wanken: Denn jede soziale Struktur beruht letztlich auf Vertrauen. Wenn Vertrauen schwindet, dann muss es einmal höher gewesen und wahrscheinlich einmal gewachsen sein. Wir haben es also mit einem Vertrauenszyklus zu tun, der sich gerade in der Baisse befindet. Wie bei jedem Zyklus ist dabei allerdings nicht die Baisse erklärungsbedürftig und sonderlich überraschend. Was viel mehr Erklärungsbedarf hat, ist die Hausse. Was in die Höhe wächst, kann fallen. Aber wie konnte es wachsen?
Genauso ist es beim Konjunkturzyklus. Aufgrund des nicht nachhaltigen Wachstums in der Hausse ist die Baisse vorprogrammiert und kann nur durch immer neue Injektionen von Wertillusionen verlängert werden. Aber warum gelingt die Hausse? Wer täuscht wen, wer lässt sich täuschen, wer lernt nichts dazu? So überrascht es nicht, dass der Vertrauenszyklus im Nachkriegseuropa weitgehend parallel zu einem Konjunkturzyklus verläuft. Die Interpretation, die wachsende Existenzangst – ein typisches Baisse-Phänomen – als Hintergrund der Polarisierung sieht, korreliert also richtig, liegt aber kausal völlig daneben. Sie übersieht nämlich den kognitiven Anker, der Wirtschaftswachstum und Vertrauenswachstum verbindet, und ist daher übertrieben materialistisch: Ganz so, als ob Gehaltserhöhungen aus Nazis Demokraten und Gehaltssenkungen aus Demokraten wieder Nazis machen. Darum auch die Deutungen, die Austeritätspolitik und neue „faschistische” Bewegungen korrelieren sehen.
Tatsächlich ist eine künstlich genährte Wirtschaftshausse eine Abfolge von Bestätigungen für Lebensentscheidungen und Handlungen, die sich von der realen Grundlage entfernen. Auf das beeindruckende Aufholwachstum des zerstörten Nachkriegseuropas wurde unmittelbar, aus der Euphorie der Befreiung aus dem bitteren Mangel, die nicht schnell und weit genug gehen konnte, eine Hausse gesetzt, die durch massive Ausweitung der Kreditmenge genährt wurde. In den letzten zwei Jahrzehnten wuchsen Kreditmenge und damit Verschuldungsgrad der Bevölkerung jährlich um ca. zehn Prozent, bis zur Korrektur 2007/2008. Diese Hausse war aber noch nicht genug, das Wachstum befeuerte die Gier und die Gier das Wachstum. Nach der unglaublichen Kapitalvernichtung der Kriege war der einzig sofort gangbare Weg aus dem Mangel für die erste Generation von Nachkriegspensionisten das Umlageverfahren, bei dem die derzeit Werktätigen nicht für die eigene Pension ansparen, sondern die aktuellen Pensionen anderer zahlen, im Tausch für den Anspruch, dass dann eines Tages auch wieder Jüngere ihre Pensionen zahlen werden. Ein Umlageverfahren in der Hausse mit noch vorteilhafterer Demographie ist liquide und weckt leicht Begehrlichkeiten. Tatsächlich fand so zusätzlich zur schuldengetriebenen Hausse noch eine zweite Form von Verschuldung statt, nämlich die zulasten künftiger Generationen. Wenn man sich heute als junger Mensch, dessen Pension ungewiss und dessen Zugang zum Arbeitsmarkt immer schwieriger ist, die in den Zeiten der Hausse gewährten Pensions- und Lohnhöhen ansieht, muss man eigentlich ein schärferes Wort bemühen: Plünderung. Im Nachkriegseuropa, in besonderem Ausmaß in den vermeintlich strukturstarken Staaten Österreich und Deutschland, wurden die nächste und die übernächste Generation systematisch ausgeplündert. Die Rechnung für die Wohlstandszuwächse dieser Zeit ist noch nicht bezahlt; sie ist noch nicht einmal verdient.
Die umlageverstärkte Hausse hatte nun folgende Wirkung: Nach dem Krieg erlebte die aktive Bevölkerung eine Abfolge positiver Überraschungen. Sie fand besser bezahlte, interessantere und angenehmere Tätigkeiten als erwartet. Die Löhne und Pensionen wuchsen schneller als erwartet. Das Leben schien im Durchschnitt besser zu gelingen als erwartet. Dadurch wuchs das Vertrauen: So schlecht konnten die Politiker nicht regieren, die Professoren nicht unterrichten, die Journalisten nicht berichten, die Experten nicht modellieren, die Manager nicht führen; so schlecht konnte die eigene Kompetenz und Leistung gar nicht sein. Kurz: Im statistischen Durchschnitt, abgesehen von allen Einzelschicksalen, -irrtümern und -problemen, war es eine Zeit stetig besserer Aussichten. Allgemein festigte sich die Ansicht: Den eigenen Kindern wird es eines Tages noch besser gehen. Diese Einstellung ist auch der beste Indikator für den Beginn der Baisse: Mittlerweile ist sie gänzlich gekippt; es hat sich die Ansicht gefestigt, dass es unsere Kinder schwerer haben werden als wir selbst – trotz unserer Vorleistungen, was diese natürlich gehörig in Frage stellt.
Die Erinnerung an die Zeiten der Hausse rührt die heute in der Endphase ihrer Berufslaufbahn Befindlichen zur Nostalgie. Diese Nostalgie wird meist falsch gedeutet: So als wären etwa die 1970er-Jahre eine Phase der Sicherheit gewesen, die nun durch die geopolitischen Turbulenzen und Krisen an ihr Ende käme. Das Gegenteil ist richtig. Die 1970er-Jahre waren geopolitisch wesentlich brenzliger, die Welt stand knapp vor einer nuklearen Vernichtungswelle. Der wesentliche Unterschied ist das Sicherheitsgefühl durch laufende Vertrauensbestätigungen im Zuge positiver Überraschungen. Und es darf nun nicht mehr erstaunen, dass mit Einsetzen der Baisse die Zweifel über die vermeintlichen Errungenschaften, die hinter den positiven Überraschungen stehen, bei jeder weiteren negativen Überraschung größer werden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Friede als Kennzeichen kompetenter Politik, Wirtschaftswachstum und Jobs als Kennzeichen kompetenten Managements, Objektivität als Kennzeichen kompetenten Journalismus, eigener Berufserfolg als Kennzeichen kompetenter Lehre und Fachausbildung – all diese Kompetenzfelder werden brüchig, enttäuschen, werden gar gänzlich in Frage gestellt. Wenn es immer mehr zu verteilen gibt, sind sozialer Friede, Wachstum, Jobs, Kultur-, Forschungs- und Lehrbetrieb vielleicht doch keine so große Kunst? Das mag ein kleiner Trost für Eliten sein: auch die Kompetentesten stehen in Zeiten der Vertrauensbaisse im Zweifel. Man kann also nicht alle Probleme Deutschlands der emotionalen Inkompetenz von „Mutti” und alle Probleme Österreichs der intellektuellen Inkompetenz von „Failmann” in die Schuhe schieben. Das wäre ungerecht.
Das hohe Vertrauensniveau einer Hausse im Vertrauenszyklus bedeutet ein hohes Ausmaß an Strukturen. Diese Strukturen stellen eine wichtige Form von Kapital dar, sie enthalten Wissen und sind Inbegriff einer Zivilisation. Friedrich A. von Hayek wies einmal darauf hin, dass die Bedeutung der Zivilisation gerade darin liegt, dass wir dank solcher Strukturen mehr Wissen nützen können, als uns selbst zur Verfügung steht. So stellt dann auch jede populäre Gegenreaktion gegen vertrauensbasierte Strukturen nach dem Vertrauensverfall eine Kapitalzerstörung dar. Solche Gegenreaktionen nennt man gemeinhin Revolutionen. Kaum jemals folgt auf eine Revolution Besseres. Das liegt nicht nur an der Vernichtung von Wissen und Vertrauen, das auch in den schlechtesten Strukturen steckt, sondern an einer soziologischen Gesetzmäßigkeit: Dem ehernen Gesetz der Oligarchie. In einer strukturlosen Masse von Menschen differenzieren sich stets versteckte Eliten heraus, die allerdings durch ihre mangelnde Sichtbarkeit noch verantwortungsloser und schlechter als die Eliten strukturierter Gesellschaften sind.
Populäre Gegenreaktionen auf Eliten, die das Vertrauen verlieren, äußern sich also stets in einer gewissen gesellschaftlichen Verdummung, insofern trägt die Skepsis der elitären Perspektive. Sie liegt aber grundfalsch darin, diese Verdummung in der individuellen Dummheit und Inkompetenz der Wutbürger zu verorten. So reagierte die politische und mediale Elite auf Proteste von Wutbürgern zu Bauprojekten und Eurokrise, indem sie den Menschen mangelnde Vernunft und Informiertheit zuschrieb. Tatsächlich gibt es kaum einen Hinweis darauf, dass die politischen und medialen Eliten informierter und kompetenter sind als die Initiatoren von Bürgerprotesten; eher das Gegenteil scheint richtig. So liegen etwa die „gefühlte Inflation” der Bürger und die offiziellen Daten nach Einführung des Euro auseinander. Doch das ist mindestens zu gleichen Teilen kognitiven Fehlern (der Vergleich zu erinnerten und dadurch immer weiter zurückliegenden DM/öS-Preisen) wie geschönten Daten zuzuschreiben. Tatsächlich entspricht die „gefühlte Inflation” ziemlich genau der realen Ausweitung der Kreditmenge, während die „gemessene” Inflation mit jeder Neuerung des Berechnungsmodells niedriger ausfiel. So sind die vermeintlichen Prototypen der Wutbürger, also etwa die engagierten Bürger rund um den Bahnhofsbau in Stuttgart gar keine Wutbürger im verächtlichen Sinne der Eliteperspektive. Wut und Angst sind die diffusen Gegensätze von Zorn und Furcht. Wut und Angst machen ohnmächtig, sind keine Regungen einer inneren Charakterstruktur, sondern Befindlichkeiten. Zorn und Furcht hingegen sind keine Laster, sondern Kennzeichen einer gesunden Charakterstruktur: Man zürnt über konkrete Ungerechtigkeiten, Überheblichkeiten und Dummheiten; man fürchtet konkrete Gefahren und Entwicklungen. Die Wut und Inkompetenz (letzteres ebenso etymologisch nahe an der Ohnmacht), die den vermeintlichen „Wutbürgern” zugeschrieben wird, ist aber ein ebenso reales Phänomen des Strukturverlusts im Zuge des Vertrauensverlusts. Die elitäre Perspektive liegt hier richtig, fasst aber grundverschiedene Phänomene falsch zusammen.
Elite im besten Sinne ist durch eine innere Struktur gekennzeichnet. Diese innere Struktur ist das Gegenteil von blinder Wut, sie ist sehend, mäßigend, vorsichtig. Es handelt sich bei diesem Gegenteil von Wut um die Demut. Eliten in gesellschaftlichen Strukturen, die höchste Anerkennung genießen, zeichnen sich meist durch Demut aus: Religiöse Autoritäten in institutionellen Glaubensgemeinschaften, hohe Militärs, Wissenschaftler, Herausgeber und Leitartikler, sogar Staatsmänner und Beamte soll es gegeben haben, die durch Demut glänzten. Diese Anerkennung kann dann in Hass umschlagen, wenn die Demut fehlt, denn dann sieht die Position in der Struktur nach einer Machtposition aus, nicht mehr nach einer Autoritätsposition. Die elitäre Sorge vor dem Strukturverfall hin zu einer Masse, die auf der Grundlage unstrukturierter Informationen außerhalb der Strukturen ihrer Wut freien Lauf lässt, ist verständlich.
Der Bürger im besten Sinne ist durch Engagement und Rückgrat gekennzeichnet, durch die Verantwortungsbereitschaft des Citoyens, der sich ungerechten Strukturen entgegenstellt, sich seines eigenen Verstandes bedient und nicht blind den Vorgaben von oben folgt. Rückgrat ohne Demut ist gefährlich, denn, wie nach den meisten Revolutionen, laufen die Renitenten dann letztlich nur noch Schlechteren nach. Rückgrat ohne Demut ist ungeduldig, sehnt nach schnellen Endlösungen, sucht Schuldige und urteilt sie pauschal ab. Demut ohne Rückgrat ist aber ebenso gefährlich, denn dabei handelt es sich um die Feigheit, aus Rücksicht auf die eigene Strukturkarriere den Mund zu halten, Unbequemes nicht auszusprechen und auf den steigenden Unmut in der Vertrauensbaisse den Deckel der politischen Korrektheit zu halten. Wenn dieser Druckkochtopf dann explodiert, ist es vorerst aus mit der Demut. Dann kommt es zu den üblichen Hass- und Neidexplosionen, vor denen Eliten zu Recht Angst haben. Sie können diese aber – wenn sie das Vertrauen verspielt haben – nicht auf autoritärem Wege zurückhalten, sondern befördern sie durch Überheblichkeit und kurzfristiges Kalmieren letztlich noch. So stehen sich dann in der Polarisierung politische Korrektheit und politische Renitenz gegenüber und bestätigen sich gegenseitig: Die „Eliten” bestätigen, dass sie das Vertrauen nicht verdienen, und die „Wutbürger” bestätigen, dass sie erziehungsbedürftig sind. Die Anführungszeichen, die ich durchwegs hätte setzen können, verdeutlichen, dass es sich um Perspektiven handelt, die sich gegenseitig bedingen und nähren, nicht um geschlossene Bevölkerungskreise.
Was bleibt in Phasen der Polarisierung im Zuge einer Vertrauensbaisse? Man kann diese nicht verhindern, nur die eigene Einstellung dazu wählen. Wer seine Identität an Strukturen gehängt hat, wird enttäuscht werden. Das vermeintliche Musterland, die vermeintliche „Volks”-Partei, die vermeintliche Qualitäts-Zeitung, das vermeintliche Modell-Unternehmen, die vermeintliche Elite-Universität beginnen zu enttäuschen. Da bleibt nur eines: Wenn die äußeren Strukturen wanken, muss man sich die inneren Strukturen bewahren. Statt Wut und Feigheit können nur Demut und Rückgrat den mühsamen Kapitalaufbau von Vertrauen leisten und damit eine reale Grundlage am Boden der Vertrauensbaisse bieten.