Wenn Politiker von Werten sprechen, anstatt ihre Interessen zu benennen, sollte man schnell den Raum verlassen, da diese in der Regel nur der Mantel für die Durchsetzung politischer Partikularinteressen sind. Die großen politischen Ent-Täuschungen bringen eine neue Nüchternheit in die politische Diskussion, und der Begriff Realpolitik im Sinne von Interessenpolitik wird immer häufiger gebraucht.
In geopolitischer Dimension bedeutet dies, dass der Hauptnarrativ der USA als wohlwollendes Imperium durch andere Mitspieler in der multipolaren Weltordnung (Russland, China) angegriffen wird. Ein Großteil dieser realpolitischen Analysen führt die globale Dominanz der USA mehrheitlich auf Rüstungsausgaben, Flottenstärke und ausländische Militärbasen zurück. Globale Dominanz jedoch nur auf die Stärke und Schlagkraft einer Armee zurückzuführen, ist insbesondere in einer wirtschaftlich stark vernetzten Welt ein unzureichender Erklärungsansatz. Insbesondere die Macht, die von der weltweiten Leit- und Reservewährung US-Dollar ausgeht, muss bei einer realistischen Analyse miteinbezogen werden. Dies hat jüngst Qiao Liang, ein General der chinesischen Volksbefreiungsarmee, in einem Vortrag zum Ausdruck gebracht. Er sieht eine hybride Kriegsführung, die auf finanz- und wirtschaftspolitische Aggression setzt, an Bedeutung gewinnen.
Die Nachkriegsordnung nach 1945 basierte im Wesentlichen auf drei institutionellen Säulen: dem politischen System der vereinten Nationen, dem Handelssystem der WTO (zunächst GATT) und dem Finanzsystem des Bretton Woods-Abkommens. Insbesondere letzteres war von überragender Bedeutung für die Steuerung der Weltwährungen über die Koppelung an den US-Dollar. Wie Murray Rothbard in seinem Buch „Das Scheingeldsystem” nachzeichnete, hat insbesondere die Hochinflationspolitik der USA, die jene zur Finanzierung weltweiter Kriege notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt hat, den realen Außenwert des US-Dollars unter Druck gesetzt. Entstehende Handelsbilanzdefizite gegenüber den Ländern Westeuropas, die sich nach dem Krieg wirtschaftlich rasch erholten, führten zur Anhäufung großer US-Devisenreserven – eine Entwicklung, die allen voran die französische Regierung skeptisch betrachtete. Präsident De Gaulle forderte mit Nachdruck die Einlösung der Devisenreserven in Gold, und auch andere Länder stellten Teile ihrer Reserven „fällig”. Es war der Beginn vom Ende des Nachkriegswährungssystems von Bretton Woods, und im August 1971 erklärte der damalige US-Präsident Nixon die temporäre Aussetzung der Bindung des Dollars an Gold – wie wir heute wissen, war diese jedoch endgültig. Die USA standen vor einem finanzpolitischen Trümmerhaufen, und die Sorge war berechtigt, dass nun der Dollar lediglich grün bedrucktes Papier wäre, seines Vertrauens als kaufkräftige Währungseinheit beraubt. Was zunächst als Nachteil interpretiert wurde, entwickelte sich für die USA jedoch zum entscheidenden Durchbruch auf dem Weg zum Weltimperium. Liang gibt folgende Einschätzung:
Wenige Menschen hatten von den Vorgängen [Lösung der Goldbindung, Anm.] ein klares Verständnis. Bürger und auch Ökonomen und Finanzexperten haben nicht realisiert, dass das wichtigste Ereignis im 20. Jahrhundert nicht die Beendigung des Ersten oder Zweiten Weltkrieges oder der Fall des Sowjet-Imperiums war, sondern die am 15. August 1971 stattgefundene Lösung des Dollars von Gold. (Liang, 2015)
Der Zynismus dieser Aussage ist wohl nur verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie von einem chinesischen Armeegeneral kommt, der die geopolitische Realität als Schachspiel interpretiert, in dem die Opfer von verheerenden Feldzügen und totalitären Regimen als unwichtiger angesehen werden als die Manipulation des Weltfinanzsystems. Vor dem Hintergrund seiner Wahrnehmung und der zeitgeschichtlichen Analyse aus asiatischer Sicht ist die Aussage jedoch verständlich. Was ist also am 15. August 1971 wirklich passiert?
Der erwartbare Vertrauensverlust in den US-Dollar blieb aus. Die Menschen waren den US-Dollar im internationalen Handel noch immer gewöhnt (wenn auch skeptisch, was seine zukünftige Kaufkraft betrifft, da seine Deckung in Gold ja gelöst ist), und viele US-Devisenreserven aus den Leistungsbilanzüberschüssen der Handelspartner suchten nach attraktiver Veranlagung im amerikanischen Kapitalmarkt. Dies erklärt den Unterschied zwischen Leitwährung und Reservewährung: Während erstere die Abrechnung von Güterströmen in einer einheitlichen Währung bedeutet, ist zweitere die Veranlagung von Devisenüberschüssen an einem hochliquiden Kapitalmarkt, wie beispielsweise an der Wall Street. Für manche Handelsströme könnte der Euro als Leitwährung interpretiert werden, die europäischen Kapitalmärkte sind aber, was ihre Liquidität und das Handelsvolumen betrifft, mit jenen der USA nicht zu vergleichen. Die USA nutzten das Restvertrauen in den Dollar und festigten ihn als Leit- und Reservewährung im internationalen Handel in führender Stellung durch die erfolgreiche Anbindung an das OPEC-Kartell. Seit 1973 wird der internationale Ölhandel ausschließlich in Dollar abgewickelt (später folgten alle anderen wichtigen Industrierohstoffe). Da alle Industrienationen sowie Entwicklungsökonomien auf Öl als Rohstoff angewiesen sind, entstand eine permanente Nachfrage nach Dollar. Die Dollar-Hegemonie entstand – in den Augen von Liang ein genialer Schachzug der USA:
Die Amerikaner waren in ihrer Sache klar: Die Menschen mögen dem Dollar ablehnend gegenüber stehen, aber sie können nicht ohne Energie leben. Jedes Land brauchte für seine Entwicklung Energie. Somit übersetzte sich die Nachfrage nach Energie in eine Nachfrage nach Dollar. […] Seit diesem Tag ist das erste wahre Finanzimperium der Weltgeschichte entstanden. US Staatsschulden sind die einzige Deckung des Dollar. Die US machen somit Profit vom Rest der Welt, in dem sie reale Güter durch Produktion von grün bedrucktem Papier erhalten. (Liang, 2015)
Die inhärente Logik des globalen US Finanzimperiums, das mit dem Dollar Leit- und Reservewährung stellt, unterscheidet sich in der Tat diametral von allen anderen Ökonomien. Während normale Handelspartner reale Güter und Dienstleistungen miteinander tauschen, wobei Geld als Transmissionsmechanismus genutzt wird, tauschen die USA reale Güter gegen den Transmissionsmechanismus selbst – ein unschlagbarer Vorteil, Reales für Nominales zu bekommen!
Die unbeschränkte Geldproduktion läuft natürlich Gefahr, massive Teuerung im Inland nach sich zu ziehen, jedoch muss hierbei bedacht werden, dass rund zwei Drittel der Dollar-Geldmenge im Ausland zirkulieren und die USA einen Anreiz haben, die Welt-Devisenüberschüsse ins eigene Land zurückzuholen, da diese über financial engineering an den Börsen weiter gehebelt werden können und somit enorme nominelle „Wertschöpfung” für die US-Finanzwirtschaft bedeuten. Im BIP der USA von 2015 in Höhe von $18 Billiarden werden nur noch $5 Billiarden von der Realwirtschaft erbracht. Der Zyklus von Dollar-Produktion, Dollar-Export (aufgrund der Leitwährungsfunktion) und späterem Rückimport der Devisenüberschüsse stellt die Vormachtstellung des Dollars sicher.
Der massive Export des Dollars in den Rest der Welt (angezeigt durch einen fallenden Dollarindex) bringt nicht notwendigerweise nur Nachteile für die „Empfängerländer” im Dollar-Nexus mit sich. Zunächst befeuert der Export von Kapital die Konsum- und Investitionstätigkeit in den Transformationsökonomien, jedoch zum Preis finanzwirtschaftlicher Abhängigkeit und letztlich geopolitischer Nachteile. Am besten lässt sich dies an den Krisen in Südamerika zu Beginn der 1980er-Jahre und der Asienkrise 1998 zeigen. In Südamerika prosperierte aufgrund der beschriebenen Kapitalflüsse die Wirtschaft, gleichzeitig zog in den USA jedoch die Inflation an, was die Zentralbank dazu veranlasste, schrittweise die Zinsen zu erhöhen. Dies bedeutete, dass immer weniger Dollar-Kredite in Südamerika vorhanden waren, was letztlich zum Crash führte. Investoren zogen das Kapital systematisch ab und investierten in den US Finanzmarkt, was zu einem massiven Bullenmarkt bis 1986 führte. Interessanterweise nutzten einige Investoren die Gunst der Stunde und kauften mit ihren Dollarüberschüssen zu Ausverkaufspreisen die Assets der südamerikanischen Wirtschaft auf. Liang deutet dies so:
Die Amerikaner begnügten sich nicht mit der Partizipation an ihrem eigenen, inländischen Bullenmarkt. Einige nahmen das leicht verdiente Geld und kauften damit die Assets in Südamerika, deren Preise gerade ins Bodenlose gefallen waren. Die USA ernteten großzügig von der danieder liegenden südamerikanischen Wirtschaft.
Er meint hier den Beginn eines wiederkehrenden Handlungsmusters nach dem Ende des Bretton Woods-Systems zu erkennen. Nach den Jahren eines US-Bullenmarktes (1981-1986) sah die Finanzwelt wieder eine Phase der Inflationierung und des Fallens des Dollarindex für mehr als zehn Jahre. Wieder wurde die Welt – in diesem Fall im Wesentlichen die Tigerstaaten Süd-Ost-Asiens – mit frischen Kapital geflutet. Als die USA die Finanzströme umzuleiten begannen, indem wieder die Geldmenge reduziert wurde, stürzten die asiatischen Tigerstaaten in eine tiefe Rezession. Daraufhin begannen die Investoren, Geld aus Asien abzuziehen und am Dollar-Heimmarkt zu investieren; ähnlich wie in Argentinien in den 1980er Jahren nutzten geschickte Investoren die Gunst der Stunde und sicherten sich zu Dumping-Preisen Assets in Südostasien. Das wäre nach Liang als „Erntesaison” zu interpretieren, die periodisch auf die Saat des billigen Geldes folge.
Liangs Ausführungen deuten das Wirtschaftsgeschehen der jüngeren Geschichte also als Verschwörungen zugunsten der USA und den US-Wohlstand zumindest teilweise als Beute eines verdeckten Wirtschaftskrieges, bei dem Finanzkapital letztlich wichtiger sei als Flotten. Handelt es sich hier also um eine „Verschwörungstheorie”? Wie lässt sich Chinas Strategie in diesem Kontext deuten? Welche Konflikte drohen?
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