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S2-E20: Identität & Gemeinschaft

Rahim Taghizadegan am 23. März 2022

Folgende Exzerpte wurden besprochen:

  • Luttwak – The myth of Chinese supremacy
  • Abrahamian – Adventure Capitalism!
  • Henrich – The secret of our success: how culture is driving human evolution, domesticating our species, and making us smarter

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S2-E19: Geopolitik

Rahim Taghizadegan am 16. März 2022

Folgende Exzerpte wurden besprochen:

  • Putin – On the Historical Unity of Russians and Ukrainians
  • Karlin – Russia’s Nationalist Turn
  • Karlin – Regathering of the Russian Lands
  • Applebaum – Calamity Again
  • Smith – A moment of clarity
  • Mearsheimer – Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault

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Bitcoin, Putin und die Sanktionen

Rahim Taghizadegan am 10. März 2022

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Eine der merkwürdigsten Marktbewegungen nach dem Kriegsschock in Europa war die Reversion zweier Vermögenswerte, von denen die Märkte noch nicht entschieden haben, ob sie korrelieren oder nicht. Gold und Bitcoin könnten Zwillinge oder Gegensätze sein, je nachdem, ob letzteres eher «digitales Gold» oder ein futuristischer Technologie-Wert ist.

Diese Frage schien entschieden, als nach Putins Invasion der Ukraine am 24. Februar Gold deutlich anzog, während Bitcoin noch deutlicher abrutschte. Doch kurz darauf drehte der Wind, Gold fiel unter den Ausgangskurs und Bitcoin begann einen weiteren Höhenflug. Seitdem ging es etwas hin und her, doch Gewissheit, welches Gut die bessere Krisenanlage ist, gibt es weiter keine. Das hängt auch an der dramatisch neuen Situation eines totalen Finanzkrieges.

Kritiker von Bitcoin werden die positive Kursreaktion damit erklären, dass mit einer Nutzung zur Geldwäsche und Sanktionsumgehung spekuliert würde. Immerhin hatte sich Putin kurz vor der Invasion positiv zu einem russischen Wettbewerbsvorteil beim digitalen Schürfen geäussert und einem vorgeschlagenen Totalverbot widersprochen. Anstelle eines Verbots kam enge Regulierung, die dem Staat und seinen Günstlingen Bitcoin-Nutzung und Schürfung offenlässt, aber der legalen Privatverwendung die meiste Nützlichkeit nimmt.

Doch schon lange vor dieser vermeintlichen «Legalisierung» gehörte Russland zu den Ländern mit der weltweit grössten privaten Bitcoin-Nutzung. 12 Prozent der Russen halten Bitcoin oder andere Tokens. Nur ein Land zeigt eine noch etwas höhere Nutzung – die Ukraine. Mit ausländischen Sanktionen hat dies gar nichts zu tun, nur mit inländischen: Inflation und Kapitalverkehrskontrollen sind die Haupttreiber privater Nutzung. Beim aktuell dramatischen Verfall des Rubels werden noch mehr Russen versuchen, Bitcoin zu erwerben, was jedoch nicht im Sinne Putins und seines Kontrollstaates ist. Schon bisher war, mangels legaler Grundlage, Bitcoin in die inoffizielle Wirtschaft abgedrängt. Doch dieser «Schwarzmarkt» hat nichts mit der Geldwäsche von staatsnahen Oligarchen oder anderen Verbrechern zu tun. Es handelt sich um die Fortsetzung einer langen Tradition gespaltenen Wirtschaftens: In der Sowjetunion erfolgte teilweise bis zu 40 Prozent der realen Wertschöpfung «schwarz».

Die einzig plausible staatliche Nutzung von Bitcoin in einer Öl-Despotie ist Schürfen zum Devisenerwerb. Doch das bietet kaum einen Vorteil gegenüber dem direkten Verkauf der Energieträger. Bitcoin benötigt zwar keine Pipelines, aber Schnittstellen zu Devisen, wenn deren Erwerb der eigentliche Zweck ist. Genau diese Schnittstellen aber sind es, welche die Sanktionen treffen, nicht das Öl. Die Erfahrung zeigt, dass Bitcoin Öl-Despotien eher schwächt, da es lohnende dezentrale Wege der Ölnutzung öffnet: Jeder, der Energie abzweigen kann, ist in der Lage, zu schürfen und damit ein physisches in ein digitales Gut umzuwandeln.

Die Bitcoin-Nutzung selbst ist nicht für Despotien ausgelegt, denn das Eigentum an Bitcoin wird durch pure Information übertragen, ohne jede institutionelle Verankerung oder Einschränkung. Im Gegensatz zu Individuen können Organisationen Bitcoin nur durch Treuhänder oder «Multisig» halten – die Kombination mehrerer Schlüssel. Was, wenn mehrere Informationsträger überlaufen? Sowohl Treuhand- als auch Multisig-Lösung setzen ein gewisses Vertrauen voraus, während Bitcoin selbst kaum auf Vertrauen setzt und deshalb resilient ist, auch gegenüber Despotien. Sicher könnte sich Putin der Verfügung über in seinem Auftrag geschürfte Bitcoin nur sein, wenn er sich selbst die Passphrase zur Generierung seines Schlüsselcodes merkt und alle Aufzeichnungen vernichtet. Damit würde er aber ein dezentrales Kopfgeld auf sich selbst aussetzen, denn sein Tod würde die verbliebenen Bitcoin aufwerten.

Diese Verbindung von freier Information und digitalen Werten erlaubt Untertanen im Gegensatz zu Despoten neue Freiräume. Der einzige grössere Vermögenswert, den ukrainische Flüchtlinge nicht zurücklassen und vielleicht der Zerstörung überlassen müssen, ist Bitcoin. Auch in anderer Weise profitieren Flüchtlinge gerade von Bitcoin und anderen Kryptowerten: Es sind bereits mehr als $50 Millionen an Spenden über Krypto-Wallets eingegangen, ein Vielfaches der UN-Hilfsmittel.

Dass Bitcoin zur Umgehung von Sanktionen in grossem, d.h. staatlichem Massstab genützt werden könnten, wurde erst in den letzten Monaten deutlich widerlegt, als nahezu gleichzeitig der Bitfinex- und der The-DAO-Hacker enttarnt wurden. Keinem der Hacker war es möglich gewesen, trotz Expertise und jahrelanger Geduld, unrechtmässig erworbene Bitcoin oder Ether in nennenswertem Umfang spurlos zu waschen. Blockchain bedeutet Transparenz der Flüsse ohne Verarbeitung von Personendaten. Dieses Prinzip ist der KYC-Regulierung weit überlegen: «Know your customer» bedeutet letztlich Willkür und ständige Verarbeitung von Personendaten, die über Leaks Kriminellen in die Hände fallen können.

Gewiss gibt es Lösungen, Kryptotransaktionen zu verschleiern. Doch was im Kleinen Dissidenten in Russland Hoffnung lässt, Ersparnisse zu retten, funktioniert im Grossen nicht. Kein Schurkenstaat konnte bislang mittels Bitcoin in grossem Ausmass Sanktionen umgehen. Carole House, Direktorin für Cybersicherheit des US National Security Council bestätigte unlängst, dass die nötigen Dimensionen für russische Sanktionsumgehung «nahezu gewiss Kryptowährung zu einem ineffektiven Primärmittel [der Sanktionsumgehung] des Staates machen würden»

Sanktionen werden stets über Drittländer und Barter-Lieferungen übergangen, am ehesten spielt noch Gold eine Rolle. Der Goldtransport ist allerdings riskant, und liquide Goldreserven sind selten souverän, denn sie liegen an Marktplätzen, wo sie eingefroren werden können. Als noch weniger souverän haben sich nun allerdings die Hauptreserven im Finanzsystem herausgestellt: internationale Währungsreserven. Das wird dramatische Folgen haben, das Ende des Dollars als Leitwährung wird sich beschleunigen. Entweder zerfällt die Welt bei starker Verarmung in mehrere abgeschlossene Handelssysteme oder ein neuer Standard kann sich etablieren. Bitcoin wäre ein Anwärter für einen wirklich neutralen und internationalen Standard des Zahlungsausgleichs.

Vor dem «Deplatforming» der russischen Bürger als Druckmittel auf Putin gab es schon andere Anzeichen, dass die Spaltung unserer Zeit auch auf die Finanzen übergreifen wird. Ausgerechnet kanadischen Demonstranten wurden zuletzt Konten gekündigt. Die Reserven der afghanischen Regierung wurden durch die USA nach dem Fiasko der Taliban-Rückkehr glatt enteignet. Die Willkür bei Kontenkündigungen steigt aufgrund wachsender Regulierungslast mit den verbunden Kosten.

Eben schloss der Wallet-Anbieter Metamask Venezuelaner von der Nutzung aus, Russen werden wohl folgen. Das ist bemerkenswert, weil es sich um jene Wallet handelt, die besonders häufig für DeFi – vermeintlich Dezentralisierte Finanz – genutzt wird. Tatsächlich ist das meiste davon Etikettenschwindel.

Die grösste aktuelle Bedrohung für Bitcoin ist, dass Staaten und Interessengruppen den Vorwand von Sanktionen nutzen, digitales Geld als globalen «Social Credit Score» umzufunktionieren und legale Schnittstellen zu schliessen. Der Finanzkrieg wird die finanzielle Repression weiter nähren. Langfristig ist diese allerdings weniger eine Bedrohung für Bitcoin als das wichtigste Argument für dessen Notwendigkeit.

(als Artikel veröffentlicht in Finanz und Wirtschaft)

Filed Under: Bitcoin, Geopolitik, Scholien

Putingegner gegen Putinversteher

Rahim Taghizadegan am 10. März 2022

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Nach der Spaltung zwischen Pandemie-Panik und Plandemie-Wut kehren wir nun zu einer altbekannten Spaltungserscheinung zurück: Putingegner gegen Putinversteher. Die Epidemiologie-Auskenner müssen schnell auf Geopolitik umschulen. Wir werden uns wieder Fakten gegenseitig an die Köpfe werfen. Doch Gesellschaften sind noch komplexer als Organismen, Geschichte und Sozialwissenschaft daher noch mehrdeutiger als die Medizin. Es zeigen sich zwar Muster, doch diese führen oft in die Irre.

Ein Muster ist die für viele erschreckende Häufung von Putinverstehern im Segment der „Libertären“ – ähnlich wie davor die Häufung von Impfgegnern. Für die meisten Beobachter drängt sich der Eindruck auf: Wer in einem Bereich falsch liege, greife auch in anderen Bereichen mit höherer Wahrscheinlichkeit daneben.

Doch bei den Pandemiemaßnahmen ist kein Schwinden dieser vermeintlichen Irrläufer zu bemerken: Ganz im Gegenteil griff die Skepsis auf einen Teil der Bevölkerung über, der die Anzahl der „Libertären“ um Größenordnungen übersteigt. Wir können nicht einmal ausschließen, dass die Maßnahmenskepsis im Nachhinein mehrheitsfähig werden könnte, sobald die Kosten sichtbarer werden. Dann hätten die „Schwurbler“ teilweise recht behalten, was natürlich unbedingt vermieden werden muss, um nicht die Vertrauensbasis unserer Institutionen zu untergraben.

Man kann die russische Invasion der Ukraine als überraschende einseitige Aggression einer imperialen Macht betrachten. Man kann sie aus einer geopolitischen Zwangslage herleiten. Doch es wäre eine Illusion zu glauben, dass die Uneinigkeit rein aus Unwissen oder böser Absicht gespeist wird. Die Fakten mögen für viele offensichtlich sein. Doch Wertungen lassen sich nicht allein aus Fakten ableiten.

„Impfgegner“ ist so wie „Putinversteher“ ein verkürztes Etikett. Die meisten „Impfgegner“ lehnen tatsächlich nicht pauschal Impfungen ab, sondern den spezifischen Impfdruck in der aktuellen Pandemie, der bis zum Zwang geht. Die meisten „Putinversteher“ sind eher Kritiker der US-Außenpolitik als Bewunderer des russischen Staates.

Tatsächlich gibt es eine eklatante Überlappung zwischen diesen zwei Gruppen. Es handelt sich natürlich genauso wenig um reale Gruppen – Gemeinschaften oder Organisationen – wie bei jenen, die unter das Etikett der „Libertären“ gefasst werden oder sich damit identifizieren. Was Impfgegner, Putinversteher, Libertäre – und tatsächlich auch Spinner – eint, ist das Misstrauen in die Institutionen ihrer eigenen Gesellschaften. Sie sehen jene, die sie führen, informieren und unterrichten sollen, zunehmend als Feinde an. Feinden traut man kein Wort, denn man muss ihnen stets Täuschungsabsicht unterstellen. Im Überlebenskampf schließlich gilt sogar: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Diese Minderheit von den Fakten überzeugen zu wollen, sie durch „fact checking“ aufzuklären und zu belehren, ist genauso naiv wie die Vorstellung, man könne die Mehrheit aufklären und belehren über die bösen Absichten und Täuschungen ihrer vermeintlichen oder versteckten Eliten. Aber auch die Erzählung vom autonomen Wissenssammler, welcher dem Motto „Do your own Research“ folgt und sich damit den Durchblick verschafft, ist eher ein Märchen. Die Wissensteilung einer komplexen Gesellschaft setzt stets Vertrauen voraus. Sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wie die schöne Aufklärungslosung fordert, führt in der Regel nicht zu Gewissheit, sondern zu Zweifeln.

Was, wenn es in der Auseinandersetzung zwischen Mehrheitsmeinungen und „Leugnern“ gar nicht um Fakten geht? Was, wenn die Befürwortung oder Ablehnung von Pandemiemaßnahmen nicht vorrangig eine Frage der Gesundheit, die Befürwortung oder Ablehnung von Sanktionen nicht vorrangig eine Frage der Geopolitik oder Sicherheit ist? Was, wenn „Libertäre“ gar nicht vorrangig eine ideengeschichtliche Beziehung zum klassischen Liberalismus eint? Vielleicht sind sogar die Freiheit und der Frieden nur Nebenthemen? Immerhin bemühten die meisten Kriege Freiheit oder Frieden als Losung, wurden zur Befreiung oder Befriedung geführt.

Angesichts medial sichtbar gemachter Toter Pandemiemaßnahmen abzulehnen oder dem Aggressor Verständnis entgegenzubringen, ist für die meisten Menschen Hinweis auf Charaktermängel. In dieser moralischen Empörung wird „alternativen Fakten“ kaum Gehör geschenkt. Letztlich ist die evolutionäre Hauptfunktion von Moral Gruppenkohäsion durch Normenübernahme und Sanktion von Abweichlern. Empörung hat allerdings auch einen Preis: Sie ist eine Anklage, die Kooperation zugunsten des Konflikts aufgibt. Sie lenkt ab von eigenen Fehlern und konkreten Möglichkeiten der Verbesserung.

Wut über Putin und Putinversteher ist nachvollziehbar. Sich über Geopolitik zu empören, ist aber Zeitverschwendung. Noch sinnloser ist nur Wut über jene „Contrarians“, die tendenziell mehr Sympathie für einen fremden Autokraten als für eigene Politiker aufbringen.

Deutschland hat aktuell eine Außenministerin und eine Verteidigungsministerin, deren einzige Qualifikation für ihre Ämter ihr Geschlecht ist. Das relativiert keinen Krieg, und womöglich ist Kompetenz in der Politik ohnehin gefährlich oder fehl am Platz. Doch es zeigt als Symptom: Eine massive Institutionenkrise, in der zentrale Institutionen wie Parteien, Medien und Universitäten nicht mehr in der Lage sind, den Aufstieg völlig ungeeigneter Personen zu verhindern. Die Schwäche der NATO, bei der sinkende Wehrfähigkeit der Mitgliedsstaaten mit zunehmender Abwendung der USA von Europa einhergeht. Eine Gesinnungsethik, die Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland vergrößert hat.

In einer solchen Lage sollte man sich mit Empörung über andere zurückhalten. Eine Debatte zwischen Putingegnern und -verstehern läuft ins Leere. Gegenüber stehen sich jene, die jedes Vertrauen in ihre Institutionen verloren haben, und jene, die den Vertrauenskollaps fürchten, weil die Alternativen noch schlimmer scheinen. Für beide Seiten spricht jeweils weit mehr, als der Disput um die „Fakten“ erkennen lässt.

(als Artikel veröffentlicht in eigentümlich frei)

Filed Under: Geopolitik, Scholien

Nach der Pandemie der Weltkrieg

Rahim Taghizadegan am 10. März 2022

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Als nüchterner und stoischer „Geschichtsschreiber des Niedergangs“ in der Tradition von Ludwig von Mises bin ich überrascht, wie nahe mir das Zeitgeschehen nun doch geht. Die Aussicht auf Atomkrieg in Europa wird aber kaum jemanden kaltlassen. Die Voraussicht hat leider, wie schon beim Pandemieinterventionismus, nur geringen Nutzen, wenn man nicht völlig frei von Verpflichtungen ist. Auf Englisch spricht man bei solcher Voraussicht des Zuschauers vom Zugunglück in Zeitlupe. Der Zusammenprall wirkt dann aber doch stets rasant.

Dass geopolitische Sachzwänge und demografischer Druck in Richtung eines Konfliktes zwischen Russland und USA auf europäischem Boden weisen, war lange klar. Gewiss ist die Geopolitik keine magische Kraft, die determiniert, sondern Ausdruck eines Grundproblems von Politik: die Monopolisierung von legitimierter Gewalt über territoriale Gebilde mit konstruierten Identitäten. Dass Putin die Teilung der Sowjetunion bedauert, ist bekannt.

Die Pandemie verbrachte Putin offenbar mit der Lektüre von Geschichtsbüchern. Lesen bildet! Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen! Lernen Sie Geschichte! Ich kann Kalendersprüche nicht leiden, auch wenn sie in Zeiten des Diskurses innerhalb von 144 Zeichen, als tiefe Philosophie gelten. Lesen ist überhaupt kein Wert für sich, vor allem wenn es schwindenden Kontakt zu realen Menschen bedeutet. Geschichte wiederum ist vorwiegend Glorifizierung von „Geopolitik“, welche reale Menschen weitgehend zulasten großer Narrative ausblendet.

Es kommt stets darauf an, was man liest. Am meisten schockiert mich, dass ich Putins Artikel vom Juli 2021 („On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“) erst kürzlich gesehen und gelesen habe – ausgerechnet in jenem Moment, als die Kreml-Seite, auf der er geteilt wurde, durch Cyberangriffe im Zuge des aktuellen Weltkriegs offline ging. Ich versuche, das Tagesgeschehen zu meiden, was natürlich nicht gelingt. Bei so „spannenden Zeiten“, welche die Chinesen sich für ihre Feinde gewünscht haben, hat man stets die Sorge, etwas zu verpassen, das die eigene Existenz unmittelbar berührt. Und dann verpasst man doch stets das Wesentliche. Hätte die Armada von Journalisten, Experten, Welterklärern mit ihren willigen Verbreitern per like und share den Artikel eher in meinen Stream gespült, hätte ich nicht erst Gewissheit über die anstehende Invasion gehabt, als Putin sie Anfang Februar bei einer Pressekonferenz im Zitat eines Liedtextes subtil andeutete. Verblüffend, dass selbst diese Andeutung fast allen Journalisten entging.

Die Nachkriegsordnung beruht auf dem internationalen Konsens, künstliche Grenzen nicht mehr zu verschieben, um nicht einen Dominoeffekt auszulösen. Außerdem beruht sie auf der militärischen Macht der USA, als globaler Disziplinierer aufzutreten. Doch Kosovo-, Irak- und Afghanistan-Krieg zeigten, dass ihre Rolle nicht darauf beschränkt ist, Souveränitätsverletzungen zu bestrafen, sondern dass sie solche auch aus vermeintlich universalistischen Gründen selbst begeht. Dieser Universalismus ist nachvollziehbar, es handelt sich um säkularisiertes Christentum. Umso schwerer wiegen dann die Zweifel und bei manchen die Abscheu, wenn Heuchelei und gänzlich unchristliche Motive sichtbar werden.

Die große internationale Ablehnung der russischen Invasion durch die allermeisten Nationalstaaten kommt aus dieser Sorge vor dem Dominoeffekt, der die relativ stabile Ordnung von Nationalstaaten gefährdet. Doch das Ende der Pax Americana wird sich nicht durch Symptombekämpfung und Empörung aufhalten lassen.

Die westliche Taktik besteht nun darin, die Kosten des Krieges für Putin so in die Höhe zu treiben, dass er in der Ukraine gestoppt oder für die Endkonfrontation mit der NATO hinreichend geschwächt wird. Dazu wird alles in die Waagschale geworfen, bis hin zum totalen Finanz- und Wirtschaftskrieg gegen alle Russen. Diese Taktik ist hoch gepokert und sie bereitet mir großes Unwohlsein. Der Iran zeigt, dass Sanktionen gegen Bürger kein wirksames Mittel des Regime-Umsturzes sind. In Russland könnten sie sogar die Zustimmung zu Putin vergrößern – je größer der Druck, desto größer der Bedarf an Beschützern und Erlösern.

Wir müssen diese Taktik wohl hinnehmen, denn sie ist nicht bloß der Plan einer kleinen Elite, sondern folgt dem Überlebenstrieb von europäischen Kernnationen als alternativlose Verzweiflungstat. Im dynamischeren Teil Europas, in dem sich am ehesten noch wehrfähige und vor allem wehrbereite junge Männer finden, dominiert die historische Einsicht, dass die Ukraine nur ein Zwischenhalt der ewigen Auseinandersetzung zwischen westlicher Freiheit und östlicher Repression ist. Die Sowjeterfahrung führte dort nicht nur zu stärker geistig verankerter Marktwirtschaft als im Westen, wo diese durch die Intellektuellen weitgehend abgelehnt wird, sondern auch zu stärkerer antirussischer Identitätsbehauptung.

Europa kann kaum neutral bleiben, wenn der aktuell in Identität und Dynamik gewichtigere Teil ein ungebremstes Russland als Existenzbedrohung ansieht. Die Ausdehnung der NATO ist zwar einerseits kalkuliertes Nachrücken der verbliebenen Weltmacht USA ins postsowjetische Vakuum, andererseits aber eigener Drang der ehemaligen Sowjetstaaten, die darin dringend nötigen Schutz ihrer Souveränität sehen, die ihnen eine selbstgewählte Westorientierung erlaubt.

Die Geschichte bestätigt diese Perspektive: Insbesondere die Städte in Polen und dem Baltikum gehören zum Kern der abendländischen Sphäre händlerischer Freistädte, die in Verteidigungsbünden den Flächenstaaten lange standhielten. Im Gegensatz dazu setzte sich im russischen Raum mit dem mehrfachen Massaker und der totalen Auslöschung des freien Nowgorods schon früh der despotische Flächenstaat völlig durch.

Diese wehrhafte Sorge vor Russland ist nachvollziehbar. Die geopolitischen Kalküle, welche die Ukraine als russischen Pufferstaat sehen, würden ein Halten russischer Aggression allenfalls in der Mitte Polens erwarten lassen, nach dem Erringen eines Korridors nach Kaliningrad würde es dann auch für das Baltikum eng werden.

Die Ausdehnung der NATO liefert gewiss einen Grund für russische Konfrontation, doch nicht die Ursache. Die aktuelle Eskalation sehe ich eher ausgelöst durch taktische Gelegenheit: Der Westen vermittelt im Osten ein Bild dekadenter Schwäche, so auch die Mehrheitswahrnehmung der Chinesen („Baizuo“) und Inder. Er ist nun durch die Pandemie geschwächt, tief gespalten und weist teilweise lachhaftes Spitzenpersonal auf. Wann, wenn nicht jetzt – insbesondere angesichts des demografischen Drucks, der Russland langfristig die jungen Männer ausgehen lässt?


Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.

Filed Under: Bitcoin, Geopolitik, Scholien

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