Nach der Spaltung zwischen Pandemie-Panik und Plandemie-Wut kehren wir nun zu einer altbekannten Spaltungserscheinung zurück: Putingegner gegen Putinversteher. Die Epidemiologie-Auskenner müssen schnell auf Geopolitik umschulen. Wir werden uns wieder Fakten gegenseitig an die Köpfe werfen. Doch Gesellschaften sind noch komplexer als Organismen, Geschichte und Sozialwissenschaft daher noch mehrdeutiger als die Medizin. Es zeigen sich zwar Muster, doch diese führen oft in die Irre.
Ein Muster ist die für viele erschreckende Häufung von Putinverstehern im Segment der „Libertären“ – ähnlich wie davor die Häufung von Impfgegnern. Für die meisten Beobachter drängt sich der Eindruck auf: Wer in einem Bereich falsch liege, greife auch in anderen Bereichen mit höherer Wahrscheinlichkeit daneben.
Doch bei den Pandemiemaßnahmen ist kein Schwinden dieser vermeintlichen Irrläufer zu bemerken: Ganz im Gegenteil griff die Skepsis auf einen Teil der Bevölkerung über, der die Anzahl der „Libertären“ um Größenordnungen übersteigt. Wir können nicht einmal ausschließen, dass die Maßnahmenskepsis im Nachhinein mehrheitsfähig werden könnte, sobald die Kosten sichtbarer werden. Dann hätten die „Schwurbler“ teilweise recht behalten, was natürlich unbedingt vermieden werden muss, um nicht die Vertrauensbasis unserer Institutionen zu untergraben.
Man kann die russische Invasion der Ukraine als überraschende einseitige Aggression einer imperialen Macht betrachten. Man kann sie aus einer geopolitischen Zwangslage herleiten. Doch es wäre eine Illusion zu glauben, dass die Uneinigkeit rein aus Unwissen oder böser Absicht gespeist wird. Die Fakten mögen für viele offensichtlich sein. Doch Wertungen lassen sich nicht allein aus Fakten ableiten.
„Impfgegner“ ist so wie „Putinversteher“ ein verkürztes Etikett. Die meisten „Impfgegner“ lehnen tatsächlich nicht pauschal Impfungen ab, sondern den spezifischen Impfdruck in der aktuellen Pandemie, der bis zum Zwang geht. Die meisten „Putinversteher“ sind eher Kritiker der US-Außenpolitik als Bewunderer des russischen Staates.
Tatsächlich gibt es eine eklatante Überlappung zwischen diesen zwei Gruppen. Es handelt sich natürlich genauso wenig um reale Gruppen – Gemeinschaften oder Organisationen – wie bei jenen, die unter das Etikett der „Libertären“ gefasst werden oder sich damit identifizieren. Was Impfgegner, Putinversteher, Libertäre – und tatsächlich auch Spinner – eint, ist das Misstrauen in die Institutionen ihrer eigenen Gesellschaften. Sie sehen jene, die sie führen, informieren und unterrichten sollen, zunehmend als Feinde an. Feinden traut man kein Wort, denn man muss ihnen stets Täuschungsabsicht unterstellen. Im Überlebenskampf schließlich gilt sogar: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Diese Minderheit von den Fakten überzeugen zu wollen, sie durch „fact checking“ aufzuklären und zu belehren, ist genauso naiv wie die Vorstellung, man könne die Mehrheit aufklären und belehren über die bösen Absichten und Täuschungen ihrer vermeintlichen oder versteckten Eliten. Aber auch die Erzählung vom autonomen Wissenssammler, welcher dem Motto „Do your own Research“ folgt und sich damit den Durchblick verschafft, ist eher ein Märchen. Die Wissensteilung einer komplexen Gesellschaft setzt stets Vertrauen voraus. Sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wie die schöne Aufklärungslosung fordert, führt in der Regel nicht zu Gewissheit, sondern zu Zweifeln.
Was, wenn es in der Auseinandersetzung zwischen Mehrheitsmeinungen und „Leugnern“ gar nicht um Fakten geht? Was, wenn die Befürwortung oder Ablehnung von Pandemiemaßnahmen nicht vorrangig eine Frage der Gesundheit, die Befürwortung oder Ablehnung von Sanktionen nicht vorrangig eine Frage der Geopolitik oder Sicherheit ist? Was, wenn „Libertäre“ gar nicht vorrangig eine ideengeschichtliche Beziehung zum klassischen Liberalismus eint? Vielleicht sind sogar die Freiheit und der Frieden nur Nebenthemen? Immerhin bemühten die meisten Kriege Freiheit oder Frieden als Losung, wurden zur Befreiung oder Befriedung geführt.
Angesichts medial sichtbar gemachter Toter Pandemiemaßnahmen abzulehnen oder dem Aggressor Verständnis entgegenzubringen, ist für die meisten Menschen Hinweis auf Charaktermängel. In dieser moralischen Empörung wird „alternativen Fakten“ kaum Gehör geschenkt. Letztlich ist die evolutionäre Hauptfunktion von Moral Gruppenkohäsion durch Normenübernahme und Sanktion von Abweichlern. Empörung hat allerdings auch einen Preis: Sie ist eine Anklage, die Kooperation zugunsten des Konflikts aufgibt. Sie lenkt ab von eigenen Fehlern und konkreten Möglichkeiten der Verbesserung.
Wut über Putin und Putinversteher ist nachvollziehbar. Sich über Geopolitik zu empören, ist aber Zeitverschwendung. Noch sinnloser ist nur Wut über jene „Contrarians“, die tendenziell mehr Sympathie für einen fremden Autokraten als für eigene Politiker aufbringen.
Deutschland hat aktuell eine Außenministerin und eine Verteidigungsministerin, deren einzige Qualifikation für ihre Ämter ihr Geschlecht ist. Das relativiert keinen Krieg, und womöglich ist Kompetenz in der Politik ohnehin gefährlich oder fehl am Platz. Doch es zeigt als Symptom: Eine massive Institutionenkrise, in der zentrale Institutionen wie Parteien, Medien und Universitäten nicht mehr in der Lage sind, den Aufstieg völlig ungeeigneter Personen zu verhindern. Die Schwäche der NATO, bei der sinkende Wehrfähigkeit der Mitgliedsstaaten mit zunehmender Abwendung der USA von Europa einhergeht. Eine Gesinnungsethik, die Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland vergrößert hat.
In einer solchen Lage sollte man sich mit Empörung über andere zurückhalten. Eine Debatte zwischen Putingegnern und -verstehern läuft ins Leere. Gegenüber stehen sich jene, die jedes Vertrauen in ihre Institutionen verloren haben, und jene, die den Vertrauenskollaps fürchten, weil die Alternativen noch schlimmer scheinen. Für beide Seiten spricht jeweils weit mehr, als der Disput um die „Fakten“ erkennen lässt.
(als Artikel veröffentlicht in eigentümlich frei)