Der praktische Nutzen ökonomischer Theorie, so die landläufige Annahme, sollte sich in Anlageempfehlungen ausdrücken. Dass die Österreichische Schule der Ökonomik langsam aus der völligen Versenkung in die äußersten Ränder medialer Rezeption eingeladen wurde, lag wohl im Wesentlichen daran, dass sich um 2007/08 der Eindruck verdichtete, damit konträren und doch lukrativen Anlageerfolg erzielen zu können. Tatsächlich ist diese Österreichische Schule jene ökonomische Tradition, die am ehesten beim Verständnis moderner Wirtschaftskrisen hilft. Unter dem Druck der Rezeption sowie ökonomischer Anreize wurde man als Vertreter dieser Tradition nun geradezu genötigt, Anlageempfehlungen abzugeben.
In Phasen von Vertrauenskrisen erwacht stets das “barbarische Relikt” Gold kursmäßig zum Leben, denn als Relikt ist es eben nicht Gegenstand der pyramidalen Vertrauensstrukturen moderner Finanzsysteme. Es ist kein Schuldtitel, hat keine Gegenseite und setzt keine Institution voraus. Manche haben diese gewiss richtige Erkenntnis so überdehnt und breitgetreten, dass daraus eine “ökonomisch fundierte” Verkaufsmasche wurde, die kontextunabhängige Nominalgewinne suggerierte. Diejenigen, die solchen Empfehlungen zur falschen Zeit folgten – und das sind der Zyklenlogik folgend stets die allermeisten –, stehen nominal betrachtet nun heute unter Wasser. Das drängte die “goldbugs” , die lange synonym mit den “Austrians” waren, in ihre kleine Nische zurück.
So stellte sich bald medial und wirtschaftlich die Frage, ob sich mit der Österreichischen Schule nicht noch anderes verkaufen ließe. Der Sarkasmus ist dabei nicht auf die Österreichische Schule und ihre Vertreter gemünzt, zu denen ich selbst zähle, sondern Ausfluss der nüchternen Betrachtung von Anreizen und den Übertreibungen und Gegenübertreibungen, die sie stets heraufbeschwören – die anderen, etablierteren und lukrativeren, ökonomischen Schulen stecken noch tiefer im Sumpf der Interessen.
Nach einer Goldaffinität ließ sich als Nächstes am ehesten eine Affinität der Österreichischen Schule zum sogenannten Value Investing begründen (und als Übernächstes deuten sich schon die Kryptowährungen an). Auch diese Erkenntnis ist nicht falsch, läuft aber Gefahr, als dogmatische Anlageempfehlung überdehnt zu werden. “Dogmatisch” meint hier kontextunabhängig, dogmatisch-theoretisch begründet anstatt empirisch-praktisch. Als Gegenreaktion, die das lobenswerte Ziel verfolgt, einen überdehnten Enthusiasmus etwas zu bremsen, erschien vor kurzem ein Artikel im Quarterly Journal of Austrian Economics (). Darin bezweifeln die Autoren Rapp, Olbrich und Venitz eine Deckungsgleichheit zwischen Value Investing und Österreichischer Schule und weisen auf die Unterschiede hin.
Dabei unterliegen sie allerdings dem selben Irrtum, der auch hinter einer möglichen Überdehnung des Value Investing durch “Austrians” steht. Eine Anlage”theorie” ist etwas gänzlich anderes als eine ökonomische Theorie. Ersteres ist ein Konzept, das im Wesentlichen durch Heuristiken die menschlichen Instinkte überlisten soll und zu einer “rationaleren” Anlage führt, das heißt, Gier und Angst durch allgemeine Regeln diszipliniert. Auch wenn solche “Theorien” vermeintlich hochwissenschaftliche Modelle und komplizierte Formeln verwenden und von Charts und Zahlen wimmeln, bleiben diese letztlich in der Funktion Heuristiken, das heißt Daumenregeln – allgemein und so grob (“Daumen”), wie es die Komplexität der Welt gebietet. Scheinbare Präzision und Objektivität wirkt dabei als Disziplinierungsinstrument als Teil der Heuristik und hat keine erkenntnistheoretische Bedeutung.
Im Gegensatz dazu ist eine ökonomische Theorie der Versuch, durch deduktive Reflexion, die sich stets an induktiver Erfahrung und Beobachtung reiben muss, die Logik und Dynamik menschlichen Handelns besser zu verstehen – zielt also auf ganzheitliche Erkenntnis ab und nicht auf konkrete Anwendung, die pragmatischere Regeln für das Tun, nicht die tieferen Regeln der Welt, sucht. So wird auch das von Rapp et al. mehrfach zitierte Buch “Österreichische Schule für Anleger” (Taghizadegan, Stöferle, and Valek 2014) oft missverstanden als Anlageratgeber für Fans der Österreichischen Schule; gedacht war es als systematische Sammlung von Essenzen der ökonomischen Theorie für Anleger jeder Couleur.
Rapp et al. stehen der Österreichischen Schule freundlich gegenüber, daher fällt ihnen zunächst auf, dass diese ja viel tiefgehendere Einsichten böte als das schnöde “Value Investing”. Das ist richtig, aber der Vergleich irreführend – eben Theorie gegen Heuristik. Die Vorliebe für einfache Daumenregeln, die etwa der Value Investing -Guru Benjamin Graham komplizierten Formeln vorzog, führen sie als Analogie zur Österreichischen Schule an; aus den selben Gründen, aus denen der Unterschied nicht trägt, hält auch die Analogie nicht.
Im Weiteren listen die Autoren vier Unterschiede zwischen Value Investing und Österreichischer Schule auf:
- “Valuation versus appraisement”
Hier handelt es sich nur um ein begriffliches Detail, das im Deutschen nicht einmal einheitlich und klar wiederzugeben ist. Die Werturteile, die Ökonomen der Österreichischen Schule beschreiben, sind ordinale Präferenzreihungen. Natürlich hat dies weder etwas mit Werten im philosophischen bzw. ethischen Sinne zu tun noch mit der Bewertung von Vermögenswerten ( appraisement ). Letzteres kann nie mehr sein als eine Heuristik bei der Wirtschaftsrechnung. Damit steht solches appraisement aber keinesfalls außerhalb der ökonomischen Theorie, sondern letztere sagt voraus, dass solche Heuristiken in einer Katallaxis – einer Tauschordnung mit Preisen, die Wirtschaftsrechnung ermöglicht – notwendige praktische Navigationsversuche sind.
- “Irrationality versus rationality”
Unterschiede zwischen den aktuellen Marktpreisen von Anlagegütern und ihren künftigen diskontierten Erträgen kann es in der neoklassischen Modelltheorie unter der Markteffizienzypothese nicht geben. Sowohl Value Investing als auch gute (“österreichische”) Theorie widersprechen dem – aus unterschiedlichen Gründen. Anlage ist überhaupt nur dann ein relevantes Thema, wenn die Markteffizienzhypothese nicht hält. Das bedeutet aber nicht, dass Märkte nicht funktionieren oder die Menschen unfähig wären. Leichtfertig wird diese vermeintliche “Ineffizienz” oft der “Irrationalität” der Menschen zugeschrieben. Ludwig von Mises wehrte sich dagegen, weil er den Begriff für moralisch aufgeladen hält. Tatsächlich ist diese “Irrationalität” der Unterschiedlichkeit der Menschen, ihrer Freiheit – die stets die Freiheit zu Irren ist – und der fundamentalen Ungewissheit der Zukunft geschuldet. Wenn Value Investoren dies kurz und salopp unter “Irrationalität” subsumieren, so ist das auch eine Heuristik, denn sie konzentrieren sich auf verdichtete Unterschiede in Massenmärkten. Erkenntnistheoretische Implikationen bzw. eine Aussage über den Menschen in seiner ganzen Realität enthält dies nicht. An der Stelle zeigt sich aber auch, dass Mises’ scharfe Formulierung, dass menschliches Handeln und rationales Handeln immer dasselbe seien (Mises 1940: 14), sehr missverständlich ist. Natürlich schließt Zweckrationalität im anonymen Markttausch nicht Irrtümer, Illusionen, Gier oder Angst aus. Menschen können sich über ihre Ziele und die gewählten Mittel irren, und dennoch blieben sie in diesem eingeschränkten, Mises’schen Sinne zweckrational.
- “Intrinsic value versus subjective value”
Obiges Missverständnis wird im nächsten Punkt noch verstärkt. Value Investoren würden davon ausgehen, dass der Marktpreis eines Anlagegutes sich irgendwann seinem “inneren Wert” annähern müsse – das kontrastieren die Autoren mit der subjektivistischen Wertlehre der ökonomischen Theorie. Diese wird oft als “subjektiv” und damit beliebig missverstanden. “Subjektivistisch” bedeutet in diesem Kontext nur, dass der Bewertungsakt im obigen Sinne notwendig durch die wirtschaftenden Subjekte erfolgt und (ökonomischer) Wert daher eine Relation zwischen Subjekten und der Welt ist und keine von diesen unabhängig bestehende objektive Tatsache oder materielle Erscheinung. Kern der Katallaxis aber ist die Praxis der Wirtschaftsrechnung, bei der die Geldwerte von Alternativen betrachtet werden – nicht erkenntnistheoretisch, sondern praktisch, daher mangelhaft und heuristisch. Die Neoklassik ist weniger Gegensatz als Verkürzung der Ökonomik. Sie entspricht der Newtonschen Physik: gewiss falsch, aber in bestimmten engen Bereichen ein Näherungswert. Perfekte Auktionen können neoklassischen Märkten ähneln – je anonymer, liquider und transaktionsgünstiger Märkte sind, desto eher zeigen sie in der Tendenz die “Rationalität”, welche die Neoklassik als “Gleichgewicht” beschreibt. Natürlich kann es auf liquiden Börsen Tendenzen geben, dass unterbewertete Anlagegüter sich dem Durchschnitt annähern, wenn dort die meisten Marktakteure Orders als Mittel und nicht als Selbstzweck durchführen. Diese Mittelrationalität führt zu einer Korrelation zwischen den diskontierten künftigen Erträgen und den Gegenwartspreisen. Heuristische Versuche, unterbewertete Einkommensströme zu finden, widersprechen keiner ökonomischen Theorie, schon gar nicht der Österreichischen. Die Österreichische Theorie unterscheidet sich von der Neoklassik dadurch, dass sie den Menschen auch außerhalb anonymer Marktrationalität verstehen kann; aber natürlich umfasst sie auch dieses Verständnis jener engeren Bereiche, in denen zweckrationale Wettbewerbe um Renditen stattfinden, die andere Motive in den Schatten stellen.
- “Reliable past versus uncertain future.”
Schließlich versuche Value Investing , aus vergangenen Daten etwas über die Zukunft abzuleiten, was im Gegensatz zum fundamentaleren Anerkennen von Ungewissheit durch die Österreichische Schule stünde. Ja, streng genommen, aus erkenntnistheoretischer Perspektive, ist Wirtschaftsrechnung gar nicht möglich, denn Preise sind ja stets Daten aus der Vergangenheit. Auf diesen potentiellen Widerspruch der Österreichischen Schule haben schon andere hingewiesen. Joseph Salerno wirft insbesondere Hayek vor, das Wissen im Rahmen der Wirtschaftsrechnung zu sehr zulasten der Ungewissheit übertrieben zu haben (Salerno 1993). Doch auch bei Mises spielt die Wirtschaftsrechnung eine tragende Rolle. Diese tragende Rolle ist aber eine praktische und heuristische, was auch Mises deutlicher hätte ausdrücken können. Erkenntnistheoretische Gewissheit kann kein Preis bieten, denn er dokumentiert nur vergangene Austauschverhältnisse oder gegenwärtige Angebote und determiniert in keiner Weise die Zukunft. Veränderung ist allgegenwärtig, aber nie total und instantan. Daher funktioniert Wirtschaftsrechnung, um Rückschlüsse auf die menschlichen Präferenzen zuzulassen – Wissen im engeren Sinne bietet sie nicht. Wieder handelt es sich um einen Scheingegensatz:
Letztlich beziehen Value Investing und die Österreichische Ökonomik diametral entgegengesetzte Positionen über die Bedeutung der Zukunftsorientierung in der Entscheidungsfindung. Um das Thema der Unsicherheitsbewältigung in einem zukunftsorientierten Prozess zu umgehen, stützen Value-Investoren in der Regel ihre Investitionsrechnung und damit Investitionsentscheidung auf vergangene oder (bestenfalls) gegenwärtige Daten. (RAPP, OLBRICH, and VENITZ 2017)
Jeder handelnde Mensch stützt sich auf vergangene oder gegenwärtige Daten und vertraut darauf, dass sich nicht alles sofort und vollständig verändert. Der Theoretiker kann genausowenig wie der Praktiker mit Gewissheit vorhersagen, was sich ändern wird und was nicht. Der Praktiker aber hat nicht den Luxus, sich auf Ungewissheit auszureden, er muss handeln und damit die Ungewissheit schultern. Kenntnis der Vergangenheit und Gegenwart ist dabei natürlich hilfreich. Es kommt bloß auf die Heuristiken an, die aus der unendlichen Fülle an Daten die relevanten filtern. Vielleicht sind die Heuristiken reine Zufallstreffer. Dann spielen sie dennoch eine psychologisch wichtige Rolle. Ob Zufall, Einsicht oder magische Vorahnung ist letztlich – ökonomisch – für die Praxis egal. Die Theorie wird immer versuchen, diese zu trennen – als gute Theorie wird sie dem Menschen aber niemals seine unzulänglichen Behelfsmittel, um im Dunklen der Zukunft nicht in Angst zu erstarren, und seine notwendigen Irrtümer und kühnen Wagnisse absprechen.
Dennoch: Die Intention des kritisierten Artikels ist verständlich und lobenswert. Sie kommt zur rechten Zeit, um vor einer Überdehnung des Value Investing zu warnen. Spätestens wenn die Massen auf Renditesuche nach den Values drängen oder Fonds jedermann die Vermittlung der besten Values anbieten, kollabiert die Prämisse des Value Investing , dass es systematische, dauerhafte Unterbewertungen gäbe. Die verzerrten Märkte der Gegenwart arbeiten unter Prämissen, die sich dramatisch vom Gewohnten abheben und bislang kaum verstanden sind. Das empirische Urteil geht aktuell schon dahin, dass Value Investing totgelaufen sei (Hargreaves 2017). Hype-Unternehmen bemühen sich darum, ungebremste Geldfluten in digitale Netzwerkeffekte umzumünzen, und kehren dabei die gewohnte unternehmerische Ertragslogik um.
Welche Heuristiken diese Umwertung der Werte überleben werden, ist offen. Gute ökonomische Theorie ist heute wichtiger denn je. Wir können nur hoffen, dass zumindest diese den Renditedruck überlebt und sich nicht für kurzfristige Anlagehypes prostituiert. Außerhalb der Subventionen und Renditen von big government und big business ist das Überleben aber nicht leicht – da grenzt es schon an ein Wunder, dass Reste der Österreichischen Schule überhaupt überlebt haben. Artikel als PDF