In der heutigen Blasenwirtschaft erscheint die Subjektivität von Werten oft als Beliebigkeit. Zufälle entscheiden über den Verkaufserfolg, Aufmerksamkeit pflanzt sich „viral” fort, und der Hype von gestern ist morgen schon ein alter Hut. Nicht nur bei den Konsumgütern und Dienstleistungen verstärkt sich dieser Eindruck, sondern auch beim wichtigsten Gut von allen, dem Geld. Auf die Frage, woher der Wert eines Euros oder Dollars komme, reagieren meine Studenten meist erstaunt und perplex. So wie die Preise ihrer alltäglichen Konsumgüter scheint der Preis des Geldes, also dessen Kaufkraft, beliebig. Unser Geld habe den Wert der Dinge, die wir dafür kaufen können. Doch warum und wie viel können wir dafür kaufen? Der Zirkelschluss ist spürbar, wird aber meistens bloß als Hinweis auf Beliebigkeit interpretiert.
Interessanterweise scheinen junge Menschen immer weniger Probleme mit Zirkelschlüssen und logischen Widersprüchen zu haben. Sie sind tief geprägt von der Widersprüchlichkeit des „ironistischen” Zeitalters, der Mehrschichtigkeit, die in augenzwinkernder Ironie aufgehoben wird. Die Werbung, die sich über sich selbst lustig macht, ist kein Widerspruch mehr, sondern noch werbewirksamer. Die neue Generation gibt sich ganz bewusst den Illusionen der Zeit hin und nimmt sie paradoxerweise ernst, ohne an sie zu glauben – oder glaubt an sie, ohne sie ernst zu nehmen. Das gesamte Wirtschafts- und Geldsystem erscheint ihnen ebenso irreal wie ein Computerspiel, in dem sich zwar verbissen und ernsthaft um Boni, Aufstiege und Goodies wetteifern lässt, das aber quasi nur als Konvention besteht, durch willkürliche Festsetzung von Spielregeln. Was die Menschen „liken”, ist erfolgreich, was allen gefällt, setzt sich durch, woran alle glauben, das hat Wert.
So sei es auch beim Geld und dem damit verbundenen Wirtschaftssystem: Weil die Menschen daran noch glauben, habe Geld Kaufkraft, und sobald sie ihren Glauben verlieren, fallen Kurse ins Bodenlose und schießen die Preise in die Höhe.
Diese Auffassung ist zwar weit verbreitet und wird von Systemskeptikern genährt, doch ist sie nur die halbe Wahrheit. Realistische Ökonomik würdigt zwar die Subjektivität unserer Wünsche und Einschätzungen und die zentrale Bedeutung des Irrtums und der Illusion im menschlichen Handeln. Doch die reale Welt gesellschaftlichen Austausches ist nicht beliebig, sie enthält Realitäten abseits beliebiger Glaubensvorstellungen. Realistische Ökonomik folgt dem methodologischen Individualismus, das heißt, sie verfolgt wirtschaftliche Phänomene empathisch aus den Augen der handelnden Menschen. Dadurch unterscheidet sich gute Ökonomik vom ahnungslosen Moralisieren und Pauschalisieren. Wenn wir das Handeln der Menschen nachverfolgen, sehen wir, dass der Glaube im Sinne beliebiger Wunschbilder gar keine so große Rolle spielt, sondern allenfalls „Glaube” im Sinne von Erwartungen, die auf Erfahrungen basieren. Man muss nicht an den Euro glauben, um ihn zu verwenden – das ist ja gerade die Paradoxie des Ökonomischen. Wenn ein Außerirdischer ohne jedes irdische Vorurteil und Vorwissen Güter im Besitze von Menschen durch freiwilligen Tausch erhalten wollte, würde er bald herausfinden, dass sich dafür bestimmte Güter besser eignen. Denn Güter unterscheiden sich – ganz real, ohne jede „Gläubigkeit” vorauszusetzen – hinsichtlich ihrer Marktgängigkeit bzw. Absatzfähigkeit. Seltsamerweise sind bunt bedrucktes Papier bzw. die Einträge in virtuellen Verzeichnissen absatzfähiger als „realere” Güter. Doch diese Verwendung des Begriffs „real” ist irreführend. Die für den Menschen zugängliche Realität ist nicht bloß physisch angreifbar, sondern besteht in der ganz konkreten und realen Lebenserfahrung zu großen Teilen aus Geistigem: Erfahrungen und Erinnerungen, Beziehungen und Ideen, Zuneigung und Vertrauen, Wissen und Versprechen, Plänen und Worten …
Das heutige „Geld“, die Währung, krankt nicht daran, „nur fiktiv” zu sein. Es hat reale, wenngleich schwindende Kaufkraft. In einer anonymen Gesellschaft mit durch Geld vermittelter Arbeitsteilung ist die Realität wirtschaftlicher Beziehungen unmittelbar zu spüren. Wer reiner Wunschökonomik folgt, wird reale Folgen spüren, gegen Mauern anrennen, in Fallen tappen und in Abgründe gleiten. Auch der beispielhafte Außerirdische wird, ohne jedes Wissen über unsere Währungen, gar ohne jedes Interesse daran, feststellen, dass diese Scheine und Buchungen real mehr Güter schneller und leichter freiwillig zugänglich machen als andere Alternativen.
Es gibt zwei Gründe für diese reale Kaufkraft, und es ist die verwaschene Überlagerung dieser zwei Gründe, welche die Illusion der Beliebigkeit, der Konvention und der Gläubigkeit nährt. Einerseits steht hinter heutigen Währungen ein historischer Prozess wechselseitig entdeckter Absatzfähigkeiten im Tausch. Überlagert war und ist dieser gesellschaftliche Entdeckungsprozess, bei dem Menschen aus Erfahrung lernten und ihre Glaubensvorstellungen sukzessive an die Realität anpassten, durch Zwang: Die einseitige Festsetzung einer Währung als Einheit für abgepresste Steuerzahlungen. Letzteres begründet die reale Mindestnachfrage nach einer Währung, nämlich die Nachfrage, die nötig ist, um die Steuerlast zu begleichen.
Es ist gesetzlich und praktisch möglich, alle freiwilligen Transaktionen mit anderen Menschen in alternativen Gütern als der Einheitswährung durchzuführen. Kontraktionszwang besteht noch keiner. Ein Unternehmer könnte z.B. ausschließlich Kunden dienen, die ihm Bitcoin als Währungsersatz im Tausch anbieten, und alle anderen Kunden ablehnen. Dieser Unternehmer könnte die eigene Kostenrechnung auch vollständig in Bitcoin führen. Bis zu einer bestimmten Umsatzhöhe gäbe es nicht einmal einen Bilanzierungszwang in der staatlichen Währung. Doch zu festgesetzten Terminen müsste auch dieser Unternehmer eine Umrechnung in die Einheitswährung durchführen, seine Steuerlast daraus errechnen und die nötige Summe zur Überweisung an das Finanzamt in der zwangsprivilegierten Giralwährung nachfragen – er müsste also eine tauschwillige Gegenseite finden, die ihm diese Giralwährung bietet. Durch Usurpation und dadurch Überlagerung der absatzfähigsten Güter und deren Verdrängung hat diese Währung die hohe Absatzfähigkeit völlig in sich aufgesogen. Darum steht neben dieser Zwangsnachfrage auch eine reale, freiwillige Geldnachfrage. Zwang und Absatzfähigkeit wirken so in verwirrender Weise zusammen: Ohne den Zwang würden andere Tauschmittel wohl bald die privilegierte Währung an Absatzfähigkeit übertreffen, ohne die aufgesogene Absatzfähigkeit hingegen würden die Menschen nur kurz vor der Steuerzahlung ihre Güter in die Währung tauschen und diese nicht mehr für freiwillige Transaktionen verwenden. Durch diese Überlagerung treten Geld und Währung zusammen, Absatzfähigkeit und Zwang, gesellschaftliche „Konvention” durch wechselseitige Entdeckung und politische „Konvention” durch Setzung. Das erklärt, warum Geld und damit wirtschaftliche Werte heute den Eindruck merkwürdiger Illusionskonventionen machen: Jene ungläubige Gläubigkeit geteilter Lügen, bei denen alle die anderen für die Belogenen halten, aber eigentlich sich selbst belügen.
Die realistische Ökonomik, die eine Katallaxie verstehen hilft, also die Ordnung der Arbeitsteilung und des Tausches zwischen überwiegend Fremden, kommt ohne Wertmystik aus. In einer Katallaxie spielt Glaube für wirtschaftliche Phänomene eine geringe Rolle, was zu viel Missverständnis und Unverständnis von religiösen Menschen führt. Doch eine Katallaxie ist eine Ordnung der Mittel, nicht der Ziele. Die eigenen Ziele, Wünsche und Glaubensvorstellungen entscheiden über die individuelle Motivation, doch sie können die Tauschverhältnisse eben nicht einseitig festlegen. Freiwilliger Tausch bedeutet Wechselseitigkeit, die zur laufenden Korrektur, Veränderung und Anpassung der individuellen Wünsche, Erwartungen und Pläne führt. Eine Katallaxie oder Marktordnung ist eine Ordnung ständiger Rückmeldungen, die zwar von Mitmenschen kommuniziert werden und auf die Subjektivität dieser Mitmenschen gegründet sind, doch dabei den Eindruck unpersönlicher Objektivität machen: zu teuer! zu wenig Nachfrage! kein Platz mehr frei! ausverkauft! führen wir nicht mehr! unterqualifiziert! überqualifiziert! Dieser Eindruck ist oft frustrierend. Marktprozesse sind Prozesse ständiger wechselseitiger Enttäuschungen, aber auch Überraschungen – jedenfalls relativ gleichgültig gegenüber Glaubensinhalten. Entsprechend falsch ist die Deutung von Wirtschaftsblasen als Glaubensblasen, als plötzliche kollektive Fantasiegebilde. Diese sind leider viel realeren Ursprungs und nicht durch gute Vorsätze, Moralpredigten und Suggestion zu verhindern.