Die relative Kursschwäche zum US-Dollar und die erneut aufflammende Bankenkrise in Italien lassen die Zukunft der Europäischen Währungsunion derzeit wieder in düsterem Licht erscheinen. Dabei drohen allerdings Symptom und Ursache verwechselt zu werden. Leider befindet sich die Europäische Währungsunion nicht bloß in einer Währungskrise; die Krise reicht viel tiefer. Sie kann auch nicht durch einen „Italexit” bewältigt werden.
Stimmen werden laut, die die Rückkehr zur Lira ersehnen. Manche eurokritischen Ökonomen stützen diesen Wunsch, denn er würde eine Abwertung der Währung nach italienischem Gusto und in italienischer Dimension erlauben. Auch Griechenland hatten Systemkritiker schon eine sich abwertende Drachme empfohlen. Doch Abwertung ist kein Allheilmittel, sondern kaum mehr als Umverteilung von den Sparern zur Exportindustrie. Nur ein kurzfristiger Vorteil kommt noch hinzu: Abwertung ist ein Täuschungsmanöver für all diejenigen, die der Nominalwertillusion anhängen.
Wie schon seinerzeit Keynes richtig erkannt hatte, lassen sich auf diesem Weg reale Lohnsenkungen durchsetzen, um sich der realen Grenzproduktivität wieder anzunähern und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. In der langen Frist jedoch, in der wir leben und Keynes tot ist, wiegt der Nachteil von Jahrzehnten des Täuschens nach. Der politisch begünstigte Nominalwertfetisch drängt allerorts zu inflationärer Politik.
Auch die EZB-Politik ist hochinflationär – zumindest der Intention und der Geldschöpfung nach –, ihre Wirkung aber verpufft, da Kredite schneller faulen, Einlagen schneller abgezogen werden und die Geldpolitik schneller antizipiert wird, als Geld geschöpft werden kann. Eine italienische Lirainflation wäre gewiss wirkungsvoller. Schließlich hinkt die EU, trotz großen Bemühens, dem altehrwürdigen italienischen Filz noch etwas nach. Die enge Verbindung von Konzernen, Banken und Politik schuf gut geölte Kanäle für neues Geld. Hierin freilich liegt die italienische Malaise, kein Lösungsrezept für die Eurokrise. Bessere Umsetzung schlechter Politik bleibt schlechte Politik. Nur die Dimension ändert sich.
Die Liranostalgie ist Sehnsucht nach den kleineren, überschaubareren Dimensionen. Sie stellt keine Systemalternative dar. Denn bis auf die Dimension sind die Ähnlichkeiten überwältigend. Der Kontrast zwischen Nord- und Süditalien wird im Ausland unterschätzt, er ähnelt dem zwischen Deutschland und Griechenland. Die Lira entstand im Rahmen einer Währungsunion, wurde großnationalistisch aufgeladen und doch in einem – von einer ideologisierten Fremdherrschaft abhängigen – Klientenstaat eingeführt. Der Euro ist dasselbe, nur noch größer, noch ideologischer: ein symbolpolitisches Projekt, das die Einigung im Rahmen einer neuen EU-Nation mit Flagge, Hymne und quasireligiösen Einheitsappellen vorantreiben soll.
Systemkritiker schlagen heute einen Nord- und einen Südeuro vor, weil das Wettbewerbsgefälle so groß wäre. Tatsächlich ist die Nutzung derselben Währung ein Weg zum Abbau von Gefällen. Das Problem ist keineswegs das Zahlungsmittel, sondern die politische Zentralisierung in heterogenen Gebieten. All der inneritalienische „Ausgleich” infolge des Rom-Zentralismus hat das Land weiter gespalten und den Filz wuchern lassen, bis ins Kriminelle hinein. Ebenso ist der Euro das Gegenteil eines echten Einigungsprojekts, er ist eben ein „symbolpolitisches” bzw. gesinnungsethisches Projekt, bei dem vorgegebene Intention und reale Wirkung auseinanderklaffen: Der Euro wird der Spaltpilz sein, der die mit viel Mühe erst in den letzten Jahrzehnten zugeschütteten Gräben zwischen europäischen Nationen wieder aufreißt. Der deutsche Ökonom Roland Baader, einer der wenigen prophetischen Warner vor der Eurokrise, hatte einst so treffend erkannt: Wirtschaft verbindet, Politik trennt.
Statt Italien zu europäisieren, wird die EU zu einem großen Italien. Kein Wunder, dass die Italiener da lieber bei ihrem kleinen Italien bleiben, mit 500 000-Lira-Scheinen, Löchern in den Straßen und Mafia – aber eben der eigenen Inflation, den eigenen Mängeln und der eigenen Mafia. Ähnlich wird es nach und nach in den anderen europäischen Ländern klingen. Auspresser in fremden Diensten könnte das Schicksal eines Giuseppe Prina ereilen, napoleonischer Finanzminister, der sich immer neue Steuern ausdachte, bis dem Mailänder Mob der Kragen platzte.
Auf der anderen Seite stehen die panischen Beschwichtigungsversuche der Systemerhalter, die mit Geldspritzen von vielen Milliarden Euro alternativlose Banken mit vielen zig Milliarden fauler Kredite in den Bilanzen am Leben halten wollen und – so versichern sie – müssen. Auch hier ist die Politik das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Der größte Teil der Geldschöpfung läuft heute über Geschäftsbanken, doch ohne Privilegien, Zentralbanken und politische Milliardenjongleure hätte marktwirtschaftlicher Wettbewerb mit realen Zinsen längst zu höherer Liquidität geführt und die Geldschöpfungsblasen beschränkt.
Krisen sind der notwendige Prozess zur Bereinigung von Blasen. Der einzige alternative Bereinigungsprozess ist Enteignung. Um die Form dieser Enteignung dreht sich die aufziehende Währungskrise, wobei fiskalpolitische Enteignung mit geldpolitischer Enteignung konkurriert. Momentan nimmt der Druck auf ersterem Wege zu. Um das Kartenhaus der Verschuldung aufrechtzuerhalten, müssen Länder wie Italien und Griechenland rentabler gemacht werden. Dabei geht es nur sekundär um steigende Produktivität, primär geht es darum, deutsches Plünderniveau zu erreichen. Das bedeutet Enteignung durch neue Abgaben, höhere Grundsteuern und totale Überwachung. Bargeldabschaffung, Goldverbote und Reichsfluchtsteuern befinden sich bereits in der Planungsphase. Die Schweiz ist sowohl Nutznießer der einsetzenden Kapitalflucht als auch unmittelbar bedroht, dadurch für die Systemerhalter zum Feindesland zu werden.
Es kann sein, dass die europäische Geldpolitik mit der wachsenden Uneinigkeit den fiskalpolitischen Druck durch geldpolitische „Innovationen” wie Negativzinsen und Helikoptergeld nicht „entschlossen” und zeitgerecht genug dämpfen kann. Dann wird die Sehnsucht nach den überschaubareren Einheiten inflationär befeuert und in einem als Gegenreaktion wieder erstarkenden Nationalismus der Wirtschaftsprotektionismus um Währungsprotektionismus ergänzt werden.
Dieser vermeintliche „Protektionismus” wird jedoch weder Wirtschaft noch Währung schützen. Am Ende steht sinkender Wohlstand durch geringere Arbeitsteilung und inflationäres Notgeld. Wenn tatsächlich die Lira wiederkehrt, dann – wie einst – wohl als Biglietti di Stato des Finanzministeriums. Es würde sich dabei wohl um „Vollgeld” handeln, es würde aber im Zuge der damit finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen rapide an Wert verlieren und dem italienischen Filz zu neuer Blüte verhelfen – nicht aber der italienischen Wirtschaft.
Eine solche Episode würde die europäischen Systemerhalter bestärken, denn die Einäugigen erfreuen sich an wachsender Blindheit. Der Euro brachte gewiss Wachstumseffekte, da ein einheitliches Zahlungsmittel eine bessere Nutzung komparativer Vorteile erlaubt. Leider ist die Wirtschaft monetär schon so verzerrt, dass Wachstumseffekte stets mit einer Verstärkung der Blaseneffekte einhergehen, mit steigender Ungleichheit, Hässlichkeit und Arroganz. Das wiederum bestärkt die nationalistische Gegenreaktion. Die zunehmende Polarisierung wird den Totgesagten wohl noch leben lassen: Der Euro könnte länger halten als die europäischen „Demokratien”.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.