Wenn heute von Steuerwettbewerb die Rede ist, denken wir in aller Regel an die Möglichkeit, liquide Vermögenswerte aus Steuerwüsten in Richtung von Jurisdiktionen zu verschieben, die den Kapitalaufbau weniger bestrafen. Dieser Wettbewerb um mobile Steuerzahler ist eines der wenigen disziplinierenden Elemente gegen kapitalvernichtende Maximalbesteuerung. Insbesondere die Schweiz mit ihrer noch relativ subsidiären Besteuerungsstruktur zeigt auf Gemeindeebene die günstigen Folgen dieses Steuerwettbewerbs. Doch in der europäischen Geschichte zeigt sich auch eine andere Art von Steuerwettbewerb, dessen Folgen wesentlich paradoxer sind. Niall Ferguson weist in seiner epischen Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs des Westens auf einen interessanten Indikator hin:
Gemessen in Gramm Silber pro Kopf waren die Herrscher von England und Frankreich während der gesamten Periode von 1520 bis 1630 in der Lage, weit mehr an Steuern einzuheben als chinesische Herrscher.
Seit dem 13. Jahrhundert bewegt sich etwas in der europäischen Staatsfinanzierung, und diese Dynamik wird in der Neuzeit unübersehbar. Bis heute ist eines der deutlichsten Unterscheidungsmerkmale nach westlichem Zuschnitt „entwickelter” Staaten die Fähigkeit, durch Steuereintreibung, Verschuldung und Inflationierung in historisch einmaligen Dimensionen Gelder staatlichen Zwecken zuzuführen.
Ferguson verweist auf den zunächst kriegerischen Wettbewerb der ca. 1000 europäischen Herrschaften, die im 13. Jahrhundert noch bestanden. Diese Kleinräumigkeit ist einer der wesentlichen Faktoren hinter dem europäischen Sonderweg. Vermutlich wurde diese Kleinräumigkeit durch geographische Zufälle begünstigt:
China hatte drei große Flüsse, den Gelben Fluss, den Jangtsekiang und den Perlfluss, die alle von Westen nach Osten fließen. Europa hatte zahlreiche Flüsse mit unterschiedlichen Fließrichtungen, zudem eine Reihe von Gebirgsketten wie die Alpen und Pyrenäen sowie die dichten Wälder und Sumpfgebiete von Deutschland und Polen. Es war für die plündernden Mongolen wohl einfacher, China zu durchdringen; Europa war einer berittenen Horde weniger leicht zugänglich – und hatte daher weniger Einigungsbedarf.
Eine Folge dieser Konkurrenz war, dass Herrscher stärkere Anreize zur Ertragsoptimierung hatten – immerhin ist das Wirtschaftsprinzip einer Gewaltherrschaft das stationäre Banditentum (nach Mancur Olson). Diese Konkurrenz begünstigte wohl mehrere Innovationen in der europäischen Staatsfinanzierung. Die erste Innovation geht schon auf das alte Rom zurück: Die Gewaltherrschaft überträgt an Privatleute die Steuereintreibung. Die Römer sprachen von „publicani“, was darauf hinweist, dass sich das Plündern schon damals hinter dem beliebten Euphemismus der „öffentlichen Aufgaben” versteckte. Der stationäre Bandit setzt also auf die Kooperation des Steuersubstrats. Wer sind die Steuereintreiber? Finanzkräftige, unternehmerische, gut vernetzte Vertreter führender Familien. Diese treten nun gewissermaßen als Vermittler zwischen der plündernden Gewalt und den Interessen der Geplünderten auf. Mehrfache Verhandlungsebenen optimieren hierbei den Steuerertrag. Das Problem jedes Plünderers liegt darin, dass die Geplünderten ausweichen: Sie verstecken und vergraben ihre liquiden Reserven, täuschen Armut vor und entziehen sich nach Möglichkeit dem Steuerzugriff. Da es keinen historischen Hinweis darauf gibt, dass jemals eine Gewaltstruktur aus einem Gesellschaftsvertrag entstanden ist, müssen wir davon ausgehen, dass diese normale Ausweichreaktion stets die Steuererträge beschränkt hat. Sanktionen wiederum schädigen das Steuersubstrat, denn gefolterte und geköpfte Untertanen lassen sich eben nur einmal plündern, nicht dauerhaft und „stationär”.
Der private Steuereintreiber wird in einem ersten Verhandlungsverfahren ermittelt, das einer Auktion gleichkommt. Dabei schätzen Privatleute unternehmerisch die Zahlungsfähigkeit und Entziehungsbereitschaft des Steuersubstrats ein und bieten um den Zuschlag durch den Gewaltmonopolisten (der historisch eher einer Gewaltführerschaft entspricht, die einem Legitimationskartell angehört). Sie bieten Pauschalbeträge bis zum abdiskontierten antizipierten Steuerertrag minus Erhebungskosten. Dadurch erzielt die Herrschaft vorab große Summen und damit de facto Steuervorschüsse, die zwar kurzfristig unter den Erträgen einer gewaltsamen Plünderung liegen, aber langfristig zu höheren Erträgen kumulieren. Diese höheren Erträge werden dadurch möglich, dass die Eintreiber untereinander konkurrieren und damit zahlreiche, dezentrale Verhandlungsebenen eröffnen: Diese Art von Steuerwettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren im Hayek’schen Sinne, um den Punkt maximal tragbarer Steuerlast herauszufinden. Diese Steuereintreiber treten nun eben sekundär als Vermittler auf und handeln mit den Untertanen Pauschalbesteuerungen aus. Dabei agieren sie als Arbitrageure, Treuhänder, Notare, Interessensvertreter und Gläubiger für die Besteuerten. Als schlagendes Argument dient in ihren Verhandlungen stets der Verweis auf die drohende Maximalplünderung bei Folter und Mord am Untertanen. Da dieses einseitige „Angebot” nicht abgelehnt werden kann – es sei denn, eine Gegengewalt formierte sich zu einer Sezession und fügte den 1.000 Herrschaften eine weitere hinzu – versuchen die Untertanen, durch Zahlungsangebote und -versprechen ihre Steuerlast zu optimieren. Sie verhalten sich also kooperativ, zumal auch der Steuereintreiber in seiner Advokatenrolle Kooperation nahelegt.
Auf der Grundlage dieser optimierten Steuereintreibung konnte dann die zweite große Innovation der europäischen Staatsfinanzierung gedeihen:
Beginnend im Italien des 13. Jahrhunderts begannen die Europäer mit neuen Methoden der Staatsverschuldung zu experimentieren, wobei sie die Keime des modernen Anleihenmarktes pflanzten. Staatsverschuldung ist eine Institution, die im China der Ming vollkommen unbekannt war und erst im späten 19. Jahrhundert unter europäischem Einfluss eingeführt wurde.
Die Folgen dieser Innovation waren extrem weitreichend und können an dieser Stelle nicht weiter analysiert werden. Diese Sekundärinnovation setzte aber eben die effizienten Mechanismen der Steuereintreibung voraus, die Folgen jener paradoxen Form von „Steuerwettbewerb” waren. Das Paradox entsteht dadurch, dass es sich um zwei verschiedene Arten des Steuerwettbewerbs handelt. Im klassischen Steuerwettbewerb konkurrieren die Staaten um potentielle Steuerzahler, mit der Folge, dass die Steuersätze sinken. Im „Steuerwettbewerb” ausgelagerter Eintreiber sind die Steuerzahler nicht mobil, d.h. sie können ihren Standort nicht an den steuerpolitisch günstigsten Ort verlagern. Daher besteht primär ein Anreiz, die Steuereintreibung effizienter zu machen und den Steuerertrag langfristig zu maximieren. Da die Herrschaften ein Monopol auf ihre Steuerzahler innehaben, geht es im Wettbewerb mit den anderen Jurisdiktionen nur darum, die vorhandenen Quellen möglichst effizient auszuschöpfen. Während ersterer Steuerwettbewerb ein Steuersenkungswettbewerb ist, ist letzterer Steuerwettbewerb ein Steuereintreibungswettbewerb.
Die dritte große Innovation war die Übertragung von Handelsmonopolen und anderen Privilegien an Aktiengesellschaften gegen Profitanteile (heute Körperschaftssteuer) und militärische Hilfsdienste (heute geopolitische Manöver). Diese weitreichende Kooperation privater Interessen bei der Staatsfinanzierung hatte allerdings auch – zumindest teilweise – positive Folgen:
Nichts, das diesen überraschend dynamischen Institutionen vergleichbar war, entwickelte sich im Orient. Und, obwohl sie die Staatseinnahmen steigerten, minderten sie auch die staatliche Vorherrschaft, indem sie neue nachhaltige Stakeholders im neuzeitlichen Staat schufen: Bankiers, Anleihenbesitzer und Konzerndirektoren. Schließlich hatten Generationen an Konflikten sichergestellt, dass kein europäischer Monarch jemals die Macht hatte, Überseefahrten gänzlich zu verbieten. Selbst als die Türken in Osteuropa einfielen […], gab es keinen paneuropäischen Kaiser, der den Portugiesen befehlen konnte, ihre Entdeckungsfahrten zugunsten einer Konzentration auf den östlichen Feind hintanzustellen. Im Gegenteil begünstigten die europäischen Monarchen Handel, Entdeckung und Kolonisierung im Zuge ihres Wettbewerbs gegeneinander.
Allerdings ermöglichten die langfristig höheren Steuererträge in der Neuzeit auch die Ausrüstung kostspieliger und riskanter Entdeckungsfahrten. In den frühesten Schiffsaktiengesellschaften hatten die staatsnahen Investoren aus den Kreisen des Hofes oft großes Gewicht. Es bleibt der bittere Beigeschmack, dass der europäische Sonderweg – bei allen günstigen Folgen des Wettbewerbs kleinerer Strukturen – oft auch ein Wettbewerb von Füchsen um Gänse war, der in die traurige Einsicht von Colbert mündete: Die Kunst der Steuereintreibung sei es, die Gans so zu rupfen, dass sie dabei am wenigsten kreischt. Diesen Vorsprung hat sich Europa gehalten; ob es sein letzter Vorsprung sein wird?
[Alle Zitate eigene Übersetzungen aus: Ferguson, Niall. Civilization: The West and the Rest. New York: Penguin Press, 2011.]