Die Spaltung der Gesellschaft zeigt sich zunehmend auch in Fragen der Anlage. Was für die einen zukunftsweisende Dynamik, ist den anderen Gaunerei: die Täuschung eines Anlagepublikums unter dem Druck von Negativzinsen und Kaufkraftsorgen. Besonders drastisch zeigt sich das derzeit bei dem Thema NFT. Diese Non Fungible Tokens werden als zeitgemässe Alternative zur alten Anlagekategorie Kunst gehandelt. Kann eine Anlage zugleich visionär und trügerisch sein?
Die grosse Beschleunigung unserer Zeit, durch die Pandemie verstärkt, entzieht immer mehr Menschen das Verständnis unserer komplexen Welt. Wenn wir erkennen, dass die Vergangenheit, an der wir festhalten, obsolet wird, reagieren wir oft mit Torschlusspanik. Es ist genau diese Diskrepanz zwischen mangelnder Vision und verspäteter panischer Reaktion, die so viel Platz für Trügerisches lässt – in Politik wie Wirtschaft.
Nur eine winzige Minderheit hatte die monetäre Innovation von Bitcoin früh erkannt. Mehr und mehr Investoren bemerkten im Laufe der Zeit, dass hier ein historisch einmaliger Vermögenswert geschaffen worden war, der aus dem Nichts eines digitalen Experiments ohne Marktwert hin zu den atemberaubenden Bewertungshöhen der Marktkapitalisierung internationaler Anlagegüter einer geldgefluteten Welt wuchs. Die Torschlusspanik trieb dann in den Blockchain-Hype, bei dem der Welt panisch hinterherlaufende Bankiers und Manager grosse Summen in wertlose Software steckten, die Datenbanken nachbaute, nur langsamer, ineffizienter und komplizierter. Nach der Bereinigung dieses Unsinns wird ein enges Feld übrig bleiben, auf dem Dezentralität wirklich die Ineffizienzen wert ist, und die Blockchain-Technologie wird ihre wahre Würdigung erfahren.
Torschlusspanik
Im Anlagebereich kulminierte die Torschlusspanik, heute meist als Fomo – Fear of Missing out – bezeichnet, im ICO-Hype 2017. Projekte, die oft nicht mehr als ein grobes Konzeptpapier vorweisen konnten, sammelten insgesamt mehr als 20 Mrd. $ ein. 2017 begannen auch Experimente mit NFT, damals noch von den meisten als verrückte Spielerei betrachtet. Zu den Pionieren der Branche zählen die CryptoKitties, Tamagotchi-artige Cartoon-Katzen zum Sammeln.
Vier Jahre später ist nun bei NFT Fomo angesagt. Wieder werden vor allem diejenigen verspätet hineindrängen, die Bitcoin, Blockchain-Hype und ICO-Hype verpasst haben und auch endlich ein Stück vom magischen Kryptokuchen haben wollen. Die Mehrheit aber, die noch immer nicht den Anschluss an diese digitale Anlagewelt gefunden hat, wird sich bestätigt sehen: Die Anlagethemen scheinen immer absurder zu werden. Katzenbilder neben «Meme Stocks» – ein untrüglicher Indikator für verrückt gewordene Finanzmärkte und bevorstehende Korrektur?
Dieses Schmähen der digitalen Welt ähnelt oft dem Schmähen der Trauben durch den Fuchs, noch öfter aber zeigt es schlicht, dass wesentliche Veränderungen und Dynamiken unserer Welt in grossen Teilen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft unverstanden bleiben. Die pauschale Ablehnung von NFT zeugt genauso von Ahnungslosigkeit wie das verspätete Aufspringen auf einen Hype, ohne ihn zu verstehen.
Grösser als die Filmindustrie
Digitale Welten sind, ob wir es wollen oder nicht, ein wachsender Teil der Lebensrealität vieler Menschen. Natürlich werden auch diese Welten gestaltet, persönlich angeeignet und als Spielwiese menschlicher Grundbedürfnisse genutzt: Zugehörigkeit, Identität, Selbstverwirklichung und vor allem Status. Die vielleicht bedauerliche Gründung der digitalen Welt auf völliger Kopierbarkeit hatte stets Versuche der Verknappung nach sich gezogen, um völliger Entwertung digitaler Inhalte zu entkommen. Diese Versuche, auch wenn sie den Endnutzer nicht immer erfreuen, sind wichtig, um neue und bessere Formen der Monetisierung im Digitalen zu finden als das heute dominante Modell der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung für Werbung.
Es ist leicht zu unterschätzen, wie wirtschaftlich bedeutsam virtuelle Lebenswelten, Erlebnisse und Identitäten mittlerweile sind. Diese Industrie ist heute deutlich grösser als die Filmindustrie, erfolgreiche Welten wie Fortnite stellen finanziell jeden erfolgreichen Filmtitel in den Schatten. Die Monetisierung findet schon lange vor allem durch die interne Wirtschaft solcher Welten statt: Nicht der Zutritt wird verkauft, sondern es wird am Marktplatz für digitale Güter verdient. Diese Güter erlauben die persönliche Gestaltung der Avatare – zur Selbstverwirklichung, zum kreativen Ausdruck von Identität und Zugehörigkeit und vor allem als Statussignal.
Digitale Güter können fungibel sein als digitale Wertmarken (Tokens), die Währungen, Guthaben oder Aktien darstellen. Sie können semifungibel sein als limitierte Auflagen nicht fungibler Serien fungibler Inhalte. Oder eben völlig unfungibel: Dann handelt es sich um digitale Einzelstücke. Aufgrund der freien Kopierbarkeit von Information muss die Knappheit algorithmisch auf der jeweils genutzten Plattform vorgesehen werden. Bitcoin ist seine eigene Plattform und hat höchst erfolgreich monetäre Knappheit durch eine steigende Stock to Flow Rate (Gesamtbestand durch Neuschürfung) algorithmisch synthetisiert. Unfungible Wertmarken erfordern Plattformen – einerseits einen Wertmarkenstandard mit algorithmischer Spezifikation, andererseits eine Plattform zur Anzeige oder zur Interpretation der durch die Wertmarken repräsentierten digitalen Inhalte.
Digitale Welten
Diese Präsentationsplattformen sind digitale Welten. Fälschlicherweise werden sie meist für Börsen oder Galerien gehalten. In eine ähnliche Richtung geht der häufige Irrtum, dass ein NFT die digitale Ausführung eines Kunstwerks sei. NFT ist nicht mehr als eine Wertmarkenkonvention synthetischer Knappheit. Das in dieser Hinsicht grösste Manko lebender Künstler ist, dass sie noch am Leben sind. Am ehesten ist ein NFT ein digitales Autogramm, doch das Potenzial und damit die potenzielle wirtschaftliche Bedeutung von NFT sind viel grösser.
Die wirtschaftliche Bedeutung ist allerdings auch Grössenordnungen geringer als die von Bitcoin als geldartigem, da fungiblem Vermögenswert. Ether als zweitbekannteste Kryptowährung ist zwar die häufigste Plattform für NFT, doch hat er einerseits massive Skalierungsprobleme (die sich in frustrierend hohen Gebühren zeigen), andererseits ist dieser Aspekt von Plattform – der Wertmarkenstandard – von viel geringerer wirtschaftlicher Bedeutung als der andere Aspekt: eine virtuelle Welt, die nicht nur Marktplatz für virtuelle Güter ist, sondern ihre Wertgrundlage.
Die persönliche Gewissheit, ein digitales Einzelstück zu halten, mag einen gewissen Wert haben. Dieses Einzelstück ist allerdings nur digitale Signatur, denn abseits einer Blockchain mit synthetischer Verknappung gibt es eben keine Knappheit dieser digitalen Inhalte. Die dargestellten «Kunstwerke» hängen nur kraft Konvention an solchen Signaturen.
Märkte für digitale Inhalte
Innerhalb des trügerischen Bereichs haben das grösste Potenzial semifungible Wertmarken, wie sie etwa für die Tokenisierung von Kunstwerken nötig sind. Dieser Bereich ist trügerisch, denn inhomogene Güter fungibel zu machen, ist der gleiche Trug, der einst Assignaten zur Falle naiver Anleger werden liess.
Das nachhaltigste Potenzial bieten Standards, die Märkte für digitale Inhalte entstehen lassen, die mehrere virtuelle Welten übergreifen. Der Hauptwert wird in diesen Welten liegen, nicht in den Signaturen, und bei denjenigen, die als Pioniere in diesen Welten die Sehnsucht der Menschen nach der Zugehörigkeit, Selbstverwirklichung und Anerkennung befriedigen, die ihnen die analoge Welt versagt.
Zuerst erschienen bei Finanz & Wirtschaft