Die Vermögensanlage ist angesichts der verzerrten Bedingungen heute ein fast unlösbares Problem, jedenfalls eines, das die Intelligenz nicht nur des durchschnittlichen, sondern sogar des professionellen Anlegers übersteigt. Da drängt sich die Frage auf, ob man sich als Anleger nicht höhere Intelligenzen zu Nutze machen sollte. Der erste Versuch, die kombinierte Intelligenz von „Nobelpreisträgern” in lukrative Anlagen umzumünzen, scheiterte kolossal. Aktuell werden in zwei Bereichen neue Versuche gewagt, die Anlageintelligenz zu erhöhen, die eine nähere Betrachtung lohnen: Die einen setzen Hoffnungen auf die Massenintelligenz, die wisdom of crowds, die anderen auf künstliche Intelligenz, die AI.
Im Widerspruch zu dem dummen Buchtitel des Bestsellers von James Surowiecki sind Weisheit und Masse Gegenteile. Die wahre Massenintelligenz ist nicht die Intelligenz der Masse, sondern das Big Data einer großen Anzahl von Versuchen und Irrtümern. Datensammlung bedeutet fast immer Plattformen und damit Netzwerkeffekte. Die Plattform ist das heute dominante Geschäftsmodell, in dem Sinne, dass es die größten Unternehmen ermöglicht. Aufgrund des Netzwerkeffektes hängt der Wert einer solchen Plattform für beide Marktseiten – Unternehmen und Nutzer – eben auch entscheidend von der Größe ab. Ein Beispiel für eine missglückte Plattform zeigt dies: Windows Mobile konnte den Teufelskreis nie durchbrechen, dass zu wenige Nutzer zu wenige Applikationen bedeuten, und zu wenige Applikationen zu wenige Nutzer.
Positive Netzwerkeffekte sind insbesondere in den letzten Jahren von neuen Unternehmen in vielen Marktbereichen ausgenutzt worden. Auch der Finanzbereich hinkt nun nach. So gibt es mittlerweile Plattformen wie wikifolio, auf denen jeder – die „Masse” (daher der Bezug zu wiki) – ein Portfolio erstellen kann, um damit um die Gunst der Anleger zu konkurrieren. Letztere können sich nach der dargestellten Handelsstrategie richten oder sie vertrauen auf die harten Zahlen: die ausgewiesene Wertsteigerung.
Doch wie aussagekräftig sind vergangene Wertsteigerungen? Schon bei einer rein zufällig verteilten Masse an Portfolios werden notwendig einige durch große Wertsteigerungen vom Durchschnitt abweichen. Der Anleger hat keine Möglichkeit, die statistischen Zufallstreffer von wirklich guten Strategien zu unterscheiden. Zudem hat die Masse von Laienanlegern einen gewichtigen Nachteil: Die öffentlich verfügbaren Daten über den Finanzmarkt reichen womöglich nicht aus, um vernünftige Anlageentscheidungen zu treffen.
Die meisten Menschen gehen davon aus, dass eine gute Strategie Nachrichten und Informationen richtig gewichten und danach bessere Entscheidungen als der Zufall treffen kann. Doch die öffentlichen Finanznachrichten sind ein großer Bluff. Wer sie länger verfolgt, erkennt, dass diese bloße Übersetzung von bereits eingepreisten Marktveränderungen in Prosa sind. Ihr Zweck ist, das Anlageuniversum zu legitimieren und die Massen durch Wissensillusion an die Börsen zu locken. Der Wert von Unternehmensinformationen schließlich liegt allein in der Rechenschaft gegenüber bisherigen Eigentümern. Die Effizienz der Märkte sorgt dafür, dass jede öffentlich zugängliche Unternehmensinformation in kurzer Zeit eingepreist wird. Die Finanzmarktdaten, welche Hedgefonds und andere professionelle Trader verwenden, sind privaten Ursprungs und teuer zu lizenzieren. Wenn Anlage funktioniert, in dem Sinne, dass die Wertsteigerungen statistisch signifikant über der Geldentwertung liegen, dann aufgrund von Massendummheit, nicht von Massenintelligenz.
Die an sich wünschenswerte Absenkung von Schwellen zur Anlage, die einer größeren Masse Investitionen ermöglichen soll, hat dies zur Nebenfolge: sinkende Markteffizienz, die automatisch aber wieder Anreize zur Effizienzverbesserung schafft. Ein aktuelles Angebot für die Masse, das als Nebenfolge auch Massendaten möglich macht, ist der Anbieter mit dem kämpferischen Namen Robinhood. Die App gleichen Namens ermöglicht das Trading ohne Kommissionen, für jedermann, direkt vom Smartphone. Der wesentliche Durchbruch liegt wohl darin, dass damit auch kleine Anleger schnell reagieren können. Im besten Falle kann so spezifisches Wissen – man hat gerade ein relevantes Detail, eine relevante Information aufgeschnappt – sofort an die Börsen weitergegeben werden, zum Vorteil des Wissenden. Doch dass dies in Masse „Weisheit” schafft, ist wohl eine naive Annahme. Vielmehr kommt es zur Verstärkung von Masseneffekten. Denn die Information, die der kleine Anleger für hochaktuell, relevant und rar hält, ist in aller Regel nichts davon, sondern ein Durchsickern von den höheren Rängen der Pyramide an die Basis. Smart phone ist eben nicht smart money, sondern meist das Gegenteil davon. Je geringer die Schwelle zum Trade, ob zeitlich, technisch oder finanziell, desto mehr Disziplin ist beim Trader nötig, um nicht mit der Masse mitzulaufen. Wir unterschätzen im Zeitalter der völligen Vernetzung meist unsere Blasen und überschätzen unsere Position in der Informationspyramide.
Wenn die Massenintelligenz nicht ausreicht, wie steht es dann um die künstliche Intelligenz? Viele sehen die Zukunft der Kapitalanlage derzeit im sogenannten machine learning. Gemeint ist das iterative Ableiten von Algorithmen aus großen Datensätzen. Die Anstellungen von data scientists – dem neuen Typus des Datenverarbeiters – nehmen bei Hedgefonds und Banken deutlich zu. Das ist ein erster Schritt der Annäherung des Know-Hows an das für Investitionen nötige Kapital, das bei großen Anlegern, Banken und Unternehmen liegt. Um nun in diesem Bereich Netzwerkeffekte zu nutzen, bedarf es einer Plattform, welche die Algorithmen der Programmierer den Investoren zur Verfügung stellt. Für die Kalibrierung der Algorithmen werden jedoch die Finanzmarktdaten benötigt.
Bevor man mögliche Lösungen für dieses Problem betrachtet, stellt sich die Frage, ob machine learning überhaupt für die Erstellung einer Finanzmarktstrategie sinnvoll ist. Zur Beantwortung muss man zwischen Trading, das heißt dem kurzfristigen Handeln, welches aus Fehlallokationen und starken Marktschwankungen Profit schlägt, und Investment, langfristigeren Beteiligungen, unterscheiden. Aufgrund des großen Anlagehorizonts und der daher wenigen Modellpunkte stellt der Investmentbereich einen wesentlich schwierigeren Bereich für das automatische Lernen dar. Im Bereich des Trading ist es jedoch durch maschinelles Lernen und somit immer weiter optimierten Anlageentscheidungen möglich, im Durchschnitt besser als der Markt zu sein, da die Effizienz der Märkte nicht vollständig ist. Durch verschiedene Ansätze probieren neue Unternehmen, diese Probleme im Bereich des Trading zu lösen.
Quantopian stellt seinen Plattformnutzern Finanzmarktdaten zur Verfügung. Diese können nicht außerhalb der Plattform genutzt werden, somit handelt es sich nicht um öffentliche Daten. Die Menge der kostenlosen Daten ist allerdings relativ gering. Für größere Mengen ist ein Abonnement notwendig, und auch dann ist das Angebot nicht umfassend. Der große Vorteil ist hier die bereits vorgenommene Sammlung, Systematisierung und Strukturierung der Daten. Diese können somit ohne großen Aufwand direkt in den Algorithmen verwendet werden. Ein Nachteil ist die Vorauswahl in manchen Datenbereichen. Auf der Plattform wird nun ein Wettbewerb um aus den Daten „erlernte” Algorithmen für Trading inszeniert. Die besten erhalten Kapital von Investoren zur Verfügung gestellt. Der Programmierer erhält eine Gewinnbeteiligung, sollte sein Algorithmus erfolgreich sein. Der Algorithmus gehört dabei weiterhin dem Programmierer und muss nicht veröffentlicht werden.
Numerai probiert, das Datenproblem auf andere Weise zu lösen – nämlich, indem sie Finanzmarktdaten verschlüsselt an die Plattformnutzer weitergeben, sodass die Programmierer nicht wissen, was die Daten repräsentieren. Die Programmierer konkurrieren um Vorhersagen für von Numerai bestimmte Größen. Ein Meta-Algorithmus kombiniert dann die Vorhersagen gewichtet zu einer Anlagestrategie.
Da Numerai nur einen kleinen Ausschnitt an Daten für die Vorhersage einer bestimmten Größe zur Verfügung stellt, ist zum einen die Aussagekraft der Vorhersagen eingeschränkt. Zum anderen erfolgt vor der Verteilung der Daten eine Vorauswahl, welche eine tendenzielle Verschiebung der Vorhersagen verursachen kann. Da die Daten anonymisiert sind, ist eine Einordnung und weitere Verknüpfung für den Programmierer nicht möglich, dies schließt zwar „human biases and overfitting” (menschliche Irrtümer) aus, versperrt aber auch die Möglichkeit, nicht numerische Daten und solche, die nicht finanzmarktspezifisch sind, in die Prognosen einfließen zu lassen.
Beide Systeme haben einen entscheidenden Nachteil: die wahrscheinliche negative Auslese. Gute Algorithmen werden durch ihre Programmierer erkannt, da sie im Durchschnitt die besseren Ergebnisse erzielen. Allerdings lässt sich mit guten Algorithmen – also einem zuverlässigen System von Kapitalmarktprognose – auf den Märkten wesentlich mehr Geld verdienen als in den geschlossenen Systemen von Numerai oder Quantopian. Dieses Problem stellt sich freilich auch bei Angestellten. Es wäre also verwunderlich, wenn sich die besten Programmierer nicht selbstständig machen würden und ihre Algorithmen aus dem System abziehen.
Man könnte also zu dem Vorwurf kommen, und er wird gewiss erhoben werden, dass es sich hierbei nur um eine Möglichkeit für den Finanzmarkt handelt, Programmierer auszubeuten. Dann übersieht man aber die Möglichkeiten, die so eine Plattform für die Ausbildung und das Training bietet. Junge, motivierte Programmierer könnten die Plattformen gezielt nutzen, um ihre Algorithmen zu entwerfen und zu trainieren, um sie dann im richtigen Moment abzuziehen und sich selbstständig zu machen. Somit ist die „Ausbeutung” der Plattformen durch Programmierer wohl wahrscheinlicher. Bei freiwilligen Arrangements sollte man sich aber den moralisch aufgeladenen Begriff der Ausbeutung ohnehin sparen.
Für den Anleger relevant ist die Frage, ob durch die genannten Anreize für die Programmierer, die Performance solcher Plattformen nicht stets nach oben beschränkt ist – durch das laufende Abwandern der besseren Algorithmen könnte das Ergebnis erst recht wieder ziemlich nahe an der Falle des Zufallswertes liegen, der in inflationären Zeiten zwar nominell meist positiv, aber dennoch nicht erfreulich ist.
Das Investing ist der im Vergleich zum Trading wesentlich kompliziertere Bereich, aber auch der ertragreichere. Ziel ist meist das Investieren in unterbewertete Unternehmen, um diese Aktien so lange zu halten, bis sich dieser Wert auch im Marktpreis widerspiegelt. Das heißt, man geht davon aus, dass bei einem bestimmten Unternehmen die Effizienz des Marktes stark versagt hat bzw. der Markt das Unternehmen bisher nicht so wertvoll einschätzt, wie es „in Wirklichkeit” ist. Hierzu ist es nötig, einen „wirklichen Unternehmenswert” zu bestimmen, welcher von einer Unmenge von Faktoren beeinflusst wird: Management, Mitarbeiter, Konkurrenz, Technologie, Patente, Handelspartner, …
Nun stellt sich die Frage, ob künstliche Intelligenz auch in diesem Gebiet Vorteile bringen kann. Hierbei stoßen wir auf mehrere Probleme. Einerseits sind die Anlagehorizonte beim Investing sehr lange. Dies führt dazu, dass nur wenige Daten über erfolgreiche Investments vorliegen. Heutige AI-Algorithmen benötigen jedoch eine Menge an training sets – Übungsdaten – als Grundlage. Andererseits ist der Schritt vom Aktienuniversum, welches dem Investor zur Verfügung steht, hin zur gewählten Aktie ein sehr großer. Der Algorithmus wird hier vermutlich nie einen sinnvollen Zusammenhang herstellen können.
Eine andere Vorgehensweise verspricht mehr Erfolg: wenn man den Algorithmus nicht für die Aktienauswahl aus dem Aktienuniversum trainiert, sondern für den Auswahl- und Gewichtungsprozess der Informationen. Der Algorithmus sammelt also selbstständig alle Informationen über ein Unternehmen, interpretiert und gewichtet diese, um Auffälligkeiten einem menschlichen Investor vorzulegen. Hier ist eine steile Lernkurve bei den Algorithmen zu erwarten. Die Anzahl möglicher Verknüpfungen von Daten ist nahezu endlos. Allerdings ist auch hierzu eine Trainingsgrundlage notwendig, das heißt, die Auswahlprozesse von erfolgreichen Value Investoren müssen zusammengefasst, systematisiert und implementiert werden. Das macht in erster Linie eine vertiefte Zusammenarbeit von Data Scientists und Investoren nötig.
In Zukunft wird wahrscheinlich kein Weg mehr daran vorbei führen, Algorithmen über Daten laufen zu lassen, zumal immer mehr Daten über Unternehmen und deren Mitarbeiter verfügbar werden. Noch bleiben diese Daten meist innerhalb des Unternehmens, doch es sind Geschäftsmodelle denkbar, die diese Datenfülle anzapfen können. Unternehmen könnten verschlüsselte, anonymisierte Datensätze verkaufen. Die Sammlung und Auswertung solcher Daten könnte eine der größten Aufgaben der nächsten Jahre im Investing werden und ist nur mit Hilfe von künstlicher Intelligenz möglich. Schließlich können unmöglichste Zusammenhänge größte Relevanz für Anleger haben: Die relative Veränderung der Anzahl getippter Buchstaben in bestimmten Unternehmensbereichen könnte zeitnahe Informationen über neue Marktdynamiken liefern, noch bevor sie die Unternehmen selbst verstanden haben – denn diesen fehlt der Vergleich zu der Datenentwicklung in anderen Unternehmen.
Abgesehen von diesem Aspekt, der die wachsende Bedeutung von künstlicher Intelligenz bei der Anlage nahelegt, wiegt noch ein anderer Aspekt schwer: Algorithmen lassen sich nicht von Gefühlen leiten und reagieren nicht irrational. Erfolgreiche Anlagestrategien sind oft „algorithmisch” in diesem Sinne; sie enthalten klare und strenge Anweisungen, die Anlagedisziplin erfordern. Eine Übersetzung von Anlagestrategien in Algorithmen wäre also schon lohnend, wenn der Handel nicht elektronisch erfolgte. Die Verbindung der Algorithmen an die vorhandenen Schnittstellen (die meisten professionellen Handelsplattformen bieten APIs an) wird die meisten Fondsmanager wohl arbeitslos machen. Umso besser für die Anleger. Insgesamt wird die Verwendung von künstlicher Intelligenz zu einer Effizienzsteigerung der Märkte führen, das heißt, es findet eine bessere Kapitalallokation statt. Hiervon profitieren dann nicht nur einzelne Unternehmen und Investoren, sondern auch die Produktivität der gesamten Wirtschaft. Wenn nicht die massiven Verzerrungen wären, die dieses optimistische Bild trüben – aber diese Leier wollen wir an der Stelle kurz halten.