Der methodologische Individualismus der Wiener Schule der Ökonomik ist leicht misszuverstehen und fügt sich dann in einen der falschen Gegensätze unserer Zeit: das Soziale gegen das Individuum. Tatsächlich ging es Carl Menger darum, soziale Phänomene als emergente Ordnungen zu verstehen. Damit war er einer der Pioniere des Studiums komplexer Systeme. Die Implikationen dieses Ansatzes werden erst heute langsam verständlich.
Der erste Irrtum ist, den methodologischen Individualismus für einen normativen zu halten: für die moralische Höherstellung des Einzelnen und des Vereinzelten gegenüber den Beziehungen und der Gesellschaft. Manchmal ist diese Werthaltung als Gegengewicht zu all den überfrachteten Gemeinwohlphrasen nötig. Bernard de Mandeville hatte bereits in seiner „Bienenfabel" erkannt: Der Allerschlechteste sogar für das Gemeinwohl tätig war! Damit meinte er, dass Intentionen, Phrasen und Ergebnisse selten zusammenpassen. Am meisten Gemeinwohlgeschwurbel ist von Zynikern und Naiven zu erwarten, solchen, die ihre schlechten Intentionen maskieren, und solchen, deren Handeln kaum jemals gute Ergebnisse zeigt, weil es der Realität widerspricht. Doch abgesehen von der allgegenwärtigen Pseudomoral des „virtue signaling", der falschen Tugendsignale, ist die freiwillige Kooperation und Beziehung von Menschen höher zu bewerten als die Autarkie, denn letztere würde das menschliche Potenzial auf tiefstem Niveau verkümmern lassen. Bei aller Wertneutralität findet sich eher diese Werthaltung bei den meisten Vertretern der Wiener Schule; sogar Ludwig von Mises appelliert normativ überwiegend zugunsten des Erhalts des sozialen Kontextes der arbeitsteiligen Gesellschaft und nicht zugunsten des gesellschaftsfeindlichen Einzelgängers.
Der zweite Irrtum ist, die Robinson-Crusoe-Ökonomie, die aus didaktischen Gründen am Anfang vieler ökonomischer Darstellungen steht, für eine Blaupause der Gesellschaft zu halten. Sie ist der Anfangspunkt, eben das „In-dividuum" – das unteilbare Element der ökonomischen Analyse. Der methodologische Individualismus konzentriert sich auf die Interaktionen zwischen Individuen. Die Wahrnehmung dieser kleinteiligeren Elemente einer Gesellschaft führt zum Erkennen von Vielfalt und Komplexität. Die historizistischen Kritiker der Wiener Schule erlagen diesen Irrtümern. Sie hielten den methodologischen Individualismus für einen Atomismus, der simplifiziert. Tatsächlich handelt es sich um eine organische Betrachtungsweise: Das Individuum ist eben nicht totes, homogenes Atom, sondern lebendiger Organismus, der eine Vielzahl unterschiedlicher Beziehungen zu anderen Organismen eingehen kann. Wirklich atomistisch sind der Kollektivismus der Historischen Schule und des Sozialismus. Anthropologen hatten in der Sowjetunion mit Erstaunen einen „homo sovieticus" entdeckt – der Inbegriff des atomisierten Einzelnen ohne soziale Bindung. Ein ähnlich unsozialer Typus findet sich in China nach der maoistischen Kulturrevolution. Nicht nur politisch zerstört der Kollektivismus die Gesellschaft. Auch methodologisch führt er zu atomistischen Ergebnissen. Erst die moderne Physik machte das verständlich.
Bis heute hält sich der Trugschluss, Gesellschaften müssten als große Aggregate statistisch betrachtet werden, um ihrer Komplexität Rechnung zu tragen. Nur die Totale, die makroskopische, makroökonomische und weltpolitische Betrachtung könne die Irrtümer individualistischer Betrachtung auflösen. Diese Perspektive entspricht einer naiven Umlegung der frühen Erkenntnisse der Thermodynamik auf die Gesellschaft, ohne ihre jüngeren Erkenntnisse erkannt und verstanden zu haben.
Bei sehr simplen Systemen, die aus gleichartigen Teilchen aufgebaut sind, mittelt sich in der Tat die mikroskopische Ebene statistisch aus, so dass das System über makroskopische Größen wie Druck und Temperatur hinreichend gut beschrieben werden kann. Solche simplen Systeme nennt man „ergodisch". Ergodizität bedeutet, dass ein Teilchen im Laufe der Zeit den gesamten Raum durchschreiten kann (genauer: den gesamten Phasenraum möglicher Zustände) oder eine Stelle des Raums im Laufe der Zeit von jedem Teilchen passiert wird. Es ist also irrelevant, ob man ein Teilchen die ganze Zeit beobachtet oder den gesamten Raum eine kurze Zeit: man kann vom Einzelnen auf das Ganze extrapolieren. Kollektive Phänomene dieser atomistischen Art sind weniger komplex als das Einzelelement.
Menschliche Gesellschaften sind nicht ergodisch. Ihr Komplexitätsgrad liegt noch über den komplexen nicht ergodischen Systemen der Naturwissenschaft, wie etwa turbulenten Strömungen. Komplexität entsteht durch die Unabhängigkeit und Vielfalt der konstituierenden Elemente eines Systems. Friedrich August von Hayek hatte das in seiner wegweisenden „Theorie komplexer Systeme" bereits erkannt, als das naturwissenschaftliche Verständnis dieser Strukturen noch in den Kinderschuhen stand, und dabei die Einsichten von Carl Menger vertieft.
Individuen bringen dank ihrer Beziehungs- und Kooperationsfähigkeit Gemeinschaften und Gesellschaften hervor. Diese Fähigkeit ist zentral, doch Komplexität gebiert sie erst durch die Möglichkeit, sich der Kooperation zu enthalten und die Beziehung abzubrechen. Die Kollektivisten wünschen sich das kohärente Ziehen an einem Strang. Solche künstlich organisierten Gesellschaften sind jedoch atomistisch und fragil, da ihre Komplexität niedriger wird als die des Einzelnen: Die Masse ist dümmer als der Einzelne. Die „Weisheit der Masse" tritt nur dann auf, wenn sie emergentes Phänomen der Weisheiten, Irrtümer, Heuristiken und Versuche der Einzelnen ist.
Nur die Perspektive auf die vielfältigen und unterschiedlichen Beziehungen zwischen einzelnen Menschen erkennt das wahrhaft Soziale. So überrascht es nicht, dass Menger und Mises ihre Disziplin lieber „Soziologie" genannt hätten. Leider wurde der Begriff von asozialen Kollektivisten gekapert, die mit Statistiken und Fragebögen die atomistischen Teilchen herausfangen, von denen sie auf ihre ideologischen Wunschbilder extrapolieren können.