Die Inflationsrate gilt als einer der wichtigsten Indikatoren für Anleger. Dass sie schon lange nicht mehr so hoch war, mag Sparer bedrücken. Ihre eigentliche Bedeutung ist heute aber indirekt: Zentralbanken nutzen sie als Indikator für die Geldpolitik. Daher kann eine hohe Inflationsrate auf drohende Entschleunigung der geldpolitischen Bilanzverlängerung hinweisen. Eine solche Pausierung der Politik des billigen Geldes fürchtet der heutige Anleger weit mehr als teurere Alltagsgüter.
Jerome Powell, Vorsitzender des US-Fed, hatte derartige Ängste bislang vom Tisch gewischt, indem er die hohen Inflationsraten als «vorübergehend» relativierte. Doch nun klingt es bedrohlich nach Tapering – Zügel anziehen. Das hat wohl mehr Druck auf den Börsen ausgelöst als die Omikronvariante. Christine Lagarde hingegen spricht noch von einem «Buckel», der keine Änderung der Geldpolitik nötig mache, auch wenn sie wisse – so die zynisch klingende Ergänzung –, wie schmerzhaft das für Menschen mit niedrigem Einkommen sei.
Die Inflationsrate ähnelt dem Bruttoinlandprodukt: Beide sind Masszahlen, denen grosse Aufmerksamkeit geschenkt wird, deren Relevanz aber vor allem darin liegt, zur Begründung von Politik herangezogen zu werden. Ihre Definition ist willkürlich, ihre Erhebung veränderlich und lückenhaft, sie übergewichten gegenwärtigen Konsum, und die begründeten Kausalitäten sind so verzögert und zweifelhaft, dass sich jeder die gewünschten Narrative weben kann. Beide Masszahlen sollen dieselbe Kernfrage beantworten helfen, eine der wichtigsten Fragen empirischer Ökonomik überhaupt: Steigt oder fällt unser Wohlstand?
Von Realeinkommen zu Nominalvermögen
Wenn Masszahlen solch existenzielle Wichtigkeit erlangen, wird ihre Definition und Relevanz zum Politikum. Weil steigender Wohlstand noch positiv konnotiert ist, geht der politische Anreiz dahin, das Bruttoinlandprodukt hoch und die Inflationsraten niedrig auszuweisen. Die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Wohlergehen realer Menschen und den zwei dominantesten Masszahlen wird daher stetig grösser. Kapitalkonsum, Verschwendung und Geldschöpfung mehren das Bruttoinlandprodukt, während langfristige Externalitäten wenig Berücksichtigung finden. Gleichartige Massenprodukte, Substitutionseffekte, technischer Fortschritt und Globalisierung mindern die Inflationsrate, während die langfristige Umverteilung von Realeinkommen zu Nominalvermögen wenig Berücksichtigung findet.
Welche Güter wann wie viel teurer werden, zeigt keine Kristallkugel. Die aktuell grössten Preisausschläge bei Alltagsgütern sind der steigenden Volatilität geschuldet aufgrund der künstlichen Ungewissheit, die politische Interventionsspiralen erzeugen. Die grössten Preisausschläge für Anlagegüter sind der Volatilität der Momentumanlage geschuldet, die durch die Geldpolitik genährt wird.
Sollten wir statt auf das Preisniveau unser Augenmerk auf die Geldmenge richten? Das war die ursprüngliche Bedeutung von Inflation: Aufblähen der Geldmenge, die einen Kaufkraftverlust der Geldeinheiten und damit Teuerung verspätet und ungleichmässig nach sich zieht. Diese Perspektive ist zwar hilfreicher, aber ebenso unzureichend. Die heutige Geldmenge ist überwiegend Kreditmenge und diese Kreditmenge überwiegend eine Schöpfung der Banken. Wann wie viel mehr Kredite wofür vergeben als zurückgezahlt werden, zeigt auch keine Kristallkugel. Das Gelddrucken der Zentralbanken hat für die Entwicklung der Geldmenge schon lange an Relevanz verloren. Es ist hauptsächlich dazu da, die Preise von Staatsanleihen zu stützen.
Die relativen Geldflüsse zählen
Für die eigentliche Kernfrage nach Wohlstandswachstum oder Verarmung sind die relativen Geldflüsse wichtiger als die aktuelle Teuerung bestimmter Güter, die stets verzögert ist. Staatsanleihen und Immobilien sind deshalb so konservative Anlagen, weil ihnen neue Kreditschöpfung zufliesst. Wichtiger als die Menge dieser Kreditschöpfung und das konkrete Kaufverhalten ihrer Begünstigten, die dann bestimmte Preise treiben, ist ihre Relation zur Produktion – zur Schöpfung neuen Wohlstands.
Wenn per politischem Dekret Billionen an digital nahezu kostenfrei geschöpften Nominalwerten ausgeschüttet werden, wie es etwa die Europäische Zentralbank EZB ankündigt, steigen dann die Preise? Langfristig ist es unwahrscheinlich, dass das eherne Gesetz der Kaufkraftsenkung einer inflationierbaren Währung gebrochen wird. Die Inflationsrate ist stets verspäteter und unzureichender Indikator dafür. Die Spirale einer Hyperinflation ist zwar unwahrscheinlich für eine Währung, in der globale Anlagegüter und die eigenen Schulden denominiert sind, doch weiter schwindendes Vertrauen in die Währungen vereitelt mangels Vertrauen in die Recheneinheit die gesellschaftliche Kooperation und untergräbt damit auch das gesellschaftliche Vertrauen.
Die Pandemie ist auch eine des Misstrauens und der Polarisierung. Das Vertrauen in die Institutionen sinkt, besonders in Europa. Die Verlautbarungen der Zentralbanken in den sozialen Medien stossen fast ausschliesslich auf Spott und Wut. Die Polarisierung ist genauso wenig neu wie der Kaufkraftverlust, neu ist die offene Sichtbarkeit.
Trotzreaktion der Kleinanleger
Dauerhaft höhere Teuerung für Alltagsgüter trifft die Ärmeren, allerdings macht sie eben auch das Inflationsphänomen sichtbarer. Weiterer Teuerungsdruck wird zu weiterer Spekulation aus Anlagepanik treiben, allerdings sind Vermögenswerte nicht allen gleich zugänglich. Kleinanleger reagieren auf diese Diskriminierung zugunsten bereits Vermögender immer öfter mit einer Trotzreaktion und treiben in der Masse pyramidenspielartige Meme Stocks oder Crypto-Jetons zu Kursspitzen. Das kann die geldpolitisch verursachte Umverteilung aber für die breite Masse nicht umkehren, die sich nur damit trösten kann, dass höhere Inflationsraten immerhin öffentliche Anerkennung für die relative Verarmung bringen.
Wir gehen von der Phase schleichenden Kaufkraftverlusts über in eine Phase sprunghafterer Preissteigerungen, die auf die Schäden der globalen Wirtschaftsstruktur hinweisen. Diese krankt am missbrauchten Eurodollar und leidet nun zusätzlich am Pandemie-Interventionismus. Geldschöpfung wird weiter Wertschöpfung ersetzen. Mit etwas Verzögerung zeigt sich dann die relative Verknappung von Produktions- und Konsumgütern. Zuteilung neu geschöpfter Geldrationen mildert die wachsende Ungleichheit kaum, sondern verschärft sie noch.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.