Anlässlich des Marx-Jubiläums ist es in Deutschland zu einer Pflichtübung geworden, in paradoxem und unpassendem Patriotismus den großen Deutschen zu würdigen. Jeder, dem etwas daran liegt, akademisch, medial oder politisch als seriös, zurechnungsfähig und moderat zu gelten, hat mit einem positiven Bezug zum „Vordenker" und berühmtesten „Revolutionär" aufzuwarten. Um auch diese Zeitschrift über jeden Verdacht zu erheben, sei also festgehalten: Es war nicht alles falsch bei Karl Marx. Ausgerechnet ein Element der marxistischen Analyse hilft, die postume Akklamation quer durch das vermeintlich bürgerliche Spektrum zu erklären.
Um das Pflichtlob des Meisters aus Trier aber gleich zu relativieren: Was nicht falsch war bei Marx, ist nicht von Marx. Seine Analyse übernahm ein Element gewisser bourgeoiser Vorläufer, denen er natürlich nicht Tribut zollen konnte – denn er setzte ja alles auf eine andere „Klasse", die in historischem Determinismus die Bourgeoisie überwinden würde. So verbog er eine wichtige Einsicht zur deterministischen Formulierung: Das (gesellschaftliche) Sein bestimme über das Bewusstsein. In dieser Zuspitzung ist der Sachverhalt verfälscht, denn zum Glück gibt es im menschlichen Handeln keine Vorbestimmtheit. Doch die Essenz ist richtig: Für die meisten Menschen dienen Ideen, also Bewusstseinsinhalte, zur Rationalisierung und Legitimierung ihrer Interessen, also ihres gesellschaftlichen Daseins.
Diese Einsicht geht auf die großen französischen Liberalen Charles Dunoyer und Charles Comte zurück, die nur den Vornamen mit ihrem Plagiator gemein haben, sonst aber vormarxistische Antimarxisten waren. Was Marx als Klassenkampf deutet, ist der Interessengegensatz zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Wessen Bewusstsein dazu nicht willens und in der Lage ist, legitimierende Ideen der Herrschaft zu tragen, wird die Herrschaft früher oder später verlieren. Darum gibt es stets eine Konvergenz zwischen Herrschaft und den sie legitimierenden Ideen. Es ist der Klassengegensatz, der – so die spätere Analogie eines marxistischen Pragmatikers – nach der Position vor oder hinter den Gewehrläufen scheidet.
Weder die Würdigung von Marx noch die Kritik der Würdigung haben etwas mit den Verdiensten oder Mängeln des marxistischen Denkens zu tun. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten die marxistischen Ideen zu den vermeintlich siegreichen. Das half bei der Legitimierung zu Herrschaftsideen. Der Widerspruch zur Realität führte zwar zum Zusammenbruch der Planwirtschaften. Doch mit diesem Scheitern hielten dann nur noch die Naivsten und Zynischsten am klassischen Marxismus fest, all die durchaus klugen und wohlmeinenden Weggefährten, die im Marxismus ein Instrument der Infragestellung obsoleter und ungerechter Strukturen gesehen hatten, wachten auf. Damit wurde die marxistische Lyrik zum Refugium von Machtzynikern und ihren nützlichen Idioten.
Die ursprüngliche Essenz des Marxismus, nämlich die deterministische Prophezeiung, wurde ausgetauscht. Aus einer progressiven, modernistischen, technik- und industriefreundlichen Ökonomik wurde eine reaktionäre, romantisierende Ideologie. Nachdem sich letztlich die Marktwirtschaft in allen materialistischen Kategorien dem „wissenschaftlichen Materialismus" als überlegen erwiesen hatte, setzte die postmaterialistische Wende im Marxismus ein – ein verzweifelter Versuch, Deutungshoheit und Herrschaftsanspruch zu wahren.
Der Neomarxismus ist nicht modern, sondern „postmodern", er richtet sich gegen Aufklärung, Vernunft und Fortschritt. Zur Legitimierung benötigt er dazu Opfergruppen der Moderne, die sukzessive ideologisch bewirtschaftet werden, bei sinkenden Grenzerträgen: Beim einträglichsten Reservoir der Ressentiments beginnend, hat der Neomarxismus nun schon Dritte Welt, Natur, Frauen und Rassen durch. Die neuesten Opfergruppen werden immer kleiner und absurder, wodurch die Herrschaftslegitimierung ihren Bezug zur Bevölkerungsmehrheit zu verlieren droht. Das Ziel der neomarxistischen Herrschaftslegitimierung ist, gerade so viel Unmut zu adressieren, um die weltlichen Erlöser der politischen Klasse zu legitimieren, aber auch nicht allzu viel, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Möglichst unklare, aber wortreiche Analysen, möglichst leere Phrasen, möglichst große Allianzen sollen dabei helfen, die gerade nötige Grundstimmung alternativenloser Untertänigkeit durch billiges Opferdasein zu erzeugen.
Es war nicht alles falsch bei Marx. Von Marxisten hielt er selbst nicht viel. Doch die Würdiger und Gratulanten machen sich verdächtig, als Zyniker oder nützliche Idioten ein billiges, da mit keinen Nachteilen verbundenes Bekenntnis zur herrschenden Klasse abzugeben – ein augenzwinkernder Schulterschluss.
Gewiss waren ähnliche Bekenntnisse einst ein mutiges Erkennungszeichen von unbequemen, radikalen und revolutionären Charakteren. Sie lagen wohl in vielem falsch, doch ein Recht auf Irrtum ist jedem zuzugestehen. Die herrschende Klasse hat den Revolutionär appropriiert, und das Kokettieren mit diesem zeigt heute die ideologische Verlässlichkeit.
Die vormarxistische Klassentheorie unterschied nicht deterministisch nach Herkunft, sondern funktionell nach Beziehung zur Herrschaft. Der einzig universelle Klassenunterschied ist der zwischen Nutznießern und Leidtragenden der Gewalt, zwischen Geplünderten und Plünderern, zwischen Bürgern und Staatsapparat, zwischen denen, deren Angebote man ablehnen kann, und denen, die auf Kosten der anderen leben.
Verkommen zu einer der Legitimierungsideologien des totalen Staates, dient der Neomarxismus der Aufrechterhaltung der Fiktion, durch die alle versuchen, auf Kosten aller anderen zu leben. In der Realität geht das natürlich nicht gut, deshalb müssen die tatsächlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse durch sophistische Rhetorik verschleiert werden. Die an sich berechtigte postmoderne Modernitäts- und Vernunftskepsis nach dem schrecklichen letzten Jahrhundert lieferte dafür den perfekten Schleier.