Im 19. Jahrhundert konnten viele Unternehmer ihren Kreditbedarf über Wechsel decken. Diese stellen eine Art Universalgutschein dar. Der Unternehmer bezahlt seine Zulieferer durch diese Wechsel, die ersterer begleicht, sobald er die fertigen Konsumgüter verkauft und damit Erlöse erzielt hat. Der Zulieferer kann die Wechsel bei einer Diskontbank schon im Vorhinein einlösen, die Bank nimmt dafür einen Abschlag vor – den Diskontsatz. Dieser hängt von der Einschätzung der Gewissheit der Verkaufserlöse ab – Konsumgüter mit gewiss hoher und schneller Nachfrage oder besonders wertstabile Konsumgüter erlauben die günstigsten Wechsel, sodass solche Unternehmer ihre Geschäftstätigkeit sogar rein wechselfinanziert ausweiten können, ohne weitere Kredite aufzunehmen oder Unternehmensanteile abzugeben. Diesen Mechanismus sieht der ungarische Ökonom Antal Fekete als wesentlich an, um eine rein marktgetriebene Flexibilität der Geldmenge zu erlauben, die sich stets selbst bereinigen würde.
Die nähere historische Analyse weist jedoch auf einige Schwierigkeiten und problematische Anreize dieser Wechselfinanzierung hin, die uns helfen, die Entwicklung des heutigen Finanzsystems etwas besser zu verstehen. Ein detaillierter Blick auf das Wien des 19. Jahrhunderts erklärt die damalige Dynamik der Unternehmensfinanzierung:
Ein Fabrikant hat einen Posten Waren hergestellt, die einen gewissen Wert darstellen, da sie jederzeit verkauft werden können. Der Verkauf erfordert aber Zeit, während der die Warenerzeugung in der Fabrik weitergeht. Es müssen daher die Löhne und anderen Produktionskosten bezahlt werden. Der Unternehmer verfügt aber nicht über soviel Geld, er muß sich für die Zwischenzeit, bis der Erlös der gefertigten Waren eingeht, Geld ausborgen. In der gleichen Lage ist der Großkaufmann, der Ware zum Weiterverkauf übernahm. Die Bank aber sammelt die freien Gelder und gibt sie an den Handel und an die Industrie weiter. Verfügt auch die Bank nicht über genügend Bargeld, so leiht sie sich Geld bei der Notenbank aus, der sie dafür einen Handelswechsel ausstellt. Die Notenbank druckt neues Papiergeld, übergibt es der Privatbank und nimmt als Deckung für die ausgeliehenen Banknoten den Wechsel der Bank. Dieser Wechsel ist ja letzten Endes nichts anderes als die fertige, aber noch nicht verkaufte Ware in anderer Form. Die Privatbank verlieh das Geld, das sie von der Notenbank übernommen hatte, an die Unternehmer weiter, wobei sich eine recht beträchtliche Gewinnspanne ergab. Denn der Zinsfuß der Nationalbank betrug meist 4 Prozent, das heißt, die Privatbank mußte für das geliehene Geld eine vierprozentige Verzinsung leisten. Für die Kunden der Privatbanken stellte sich der Zinsfuß auf 8 bis 12 Prozent und unter Umständen sogar noch mehr. Da die Notenbank nur an die Privatbanken Geld ausborgte, waren alle kreditsuchenden Kaufleute und Gewerbetreibenden auf die Privatbank angewiesen, der so hohe Zwischengewinne zuflossen. Die Fabrikanten des Vormärz stammten mit wenigen Ausnahmen aus dem Handwerkerstand. Sie hatten ihre Betriebe immer mehr vergrößert und ausgebaut, bis aus den handwerksmäßigen Unternehmungen Manufakturen und Fabriken wurden. Um Politik haben sich die Industriellen des Vormärz nicht viel gekümmert. Sie hatten mit dem Auf- und Ausbau ihrer Betriebe genug zu tun. Die hohen Steuern, die zahlreichen bürokratischen Vorschriften, die Erzeugung und Absatz hemmten, die Abhängigkeit von den Privatbanken waren ihnen wohl lästig, da aber […] die Geschäfte blühten, nahmen sie das in Kauf. Erst die Wirtschaftskrisen der vierziger Jahre trieben auch die industrielle Bourgeoisie in die Reihen der Unzufriedenen.
Hier wird die Lage des Vormärz beschrieben – der Zeit vor der Märzrevolution, in der soziale Gegensätze anhand wirtschaftlicher Krisenverwerfungen politisiert wurden. Das Geldwesen war schon damals monopolisiert, der Kapitalmarkt aber noch nicht voll funktionsfähig. Der Wechsel erlaubte in der Tat eine Finanzierung auch für Unternehmer, die nicht dem politischen Klüngel angehörten, aber attraktive Güter hervorbrachten. Damit wurde aber eine Schieflage sichtbar, die nicht dem Wechsel oder den Unternehmern anzulasten ist, sondern ihren Grund im unentwickelten, politisch beschränkten Kapitalmarkt findet. Bei der Wechselfinanzierung haben die Produzenten teurer Konsumgüter einen Vorteil. Größere und längerfristige Investitionen, die der breiten Masse zugute kämen, lassen sich über Wechsel nicht finanzieren. So trat die systemische Ungleichheit der Verhältnisse bei der Finanzierung offen zutage, was den Unmut der Proletarier befeuerte und sie gegen die fiktive Klasse der „Unternehmer” aufbrachte. Denn während die Kaufhäuser voll von Luxusgütern waren, stockte der Bau:
Die Bautätigkeit war damals ausschließlich privater Initiative überlassen. Nun war für die Zeit nach 1816 Geldknappheit kennzeichnend. Durch den Staatsbankrott von 1811 waren zahlreiche Vermögen zerstört worden […]. Nun hatte sich aber die Bevölkerung der Stadt Wien von 1827 bis 1847 um 123.131 Köpfe vermehrt. Der Zuwachs der einheimischen Bevölkerung machte dabei nur 14.000 Menschen aus, 109.000 waren zugewandert. Noch weit stärker aber war der Zuzug nach den Vororten außerhalb des Linienwalls und nach den neuen Fabrikdörfern in der Umgebung Wiens. In der gleichen Zeit wurden in Wien innerhalb des Gürtels 900 Häuser gebaut. Das Bevölkerungswachstum betrug somit 42,5 Prozent, der Zuwachs an Wohnraum aber nur 11,4 Prozent.
Das führte zur verhängnisvollen Wahrnehmung, dass das Unternehmertum beim Wohnbau gescheitert wäre – tatsächlich war die Finanzierung gescheitert, weil die Geldmengenausweitung vorrangig in Staatsausgaben floss und mangelnde Währungsstabilität Anleihen unterminierte. So wurde Wien zum Vorreiter des „sozialen Wohnbaus”. Diese Finanzierungslücke am Markt zu schließen, wäre wohl nach einigen Anlaufschwierigkeiten bald gelungen. Doch dabei machten sich bereits verheerende Anreize durch die leicht verzerrten Rahmenbedingungen bemerkbar. Die Banken drängten zur Kreditmengenausweitung.
Vor den Möglichkeiten der digitalen Giralgelder war das nicht so einfach möglich. Banken halfen sich mit der Ausgabe von Banknoten und Bankakzepten. Letztere sind heute kaum noch ein Begriff, doch ihre Rolle bei der frühen Kreditmengenausweitung war erstaunlich groß. Bei Bankakzepten handelt es sich um Lückenfüller für Wechsel, eine Art Bankwechsel, welche die Bank dem zu finanzierenden Unternehmen ausstellt, das diese dann wie Wechsel zur Bezahlung von Lieferanten verwenden kann. Eine Bank erzeugt allerdings keine Konsumgüter und ist daher eigentlich vom Handelswechselgebrauch ausgeschlossen. Doch einen anderen Wert schuf die Bank zur antizipierten „Deckung”: Emissionen von Aktien dieser vorfinanzierten Unternehmen. Deckung ist hier in Anführungszeichen gehalten, weil die Antizipation einer Deckung natürlich keine Deckung ist, sondern ein Drahtseilakt über dem Abgrund des Betrugs. Der deutsche Ökonom Heinrich von Rittershausen zitiert einen damaligen Bankier:
„Der Umlauf von Bankakzepten“, sagt der ausgezeichnete Bankdirektor und Praktiker Käferlein, „hatte bei uns riesigen Umfang angenommen. Soweit große, prosperierende Unternehmungen hieran beteiligt waren, bildeten häufig derartige Kredite die Vorläufer von Emissionen. Die Bankengagements pflegten in absehbarer Zeit dadurch ihre Erledigung zu finden, daß die betreffenden Unternehmungen von den Banken veranlaßt wurden, neue Aktien oder Obligationen auszugeben.” Ein großer Teil dieses Akzeptsumlaufs befand sich im Portefeuille der Reichsbank, das vor dem Kriege zeitweise zu mehr als 50 % Privatdiskonten enthalten haben soll. […] Ähnliches sagte der Sachverständige Bernhard in der Reichsbank-Enquete 1929 (Bericht S. 142): „Wenn eine Bank früher mit ihren Mitteln knapp war, und sie hatte Kredite zu gewähren, die sie an sich nicht gut versagen konnte — sie hat das auf die verschiedenen Kunden verschieden verteilt — dann hatte sie schon im Interesse ihrer eigenen Kapazitätsausnutzung ein Interesse daran, die Gewährung ihres eigenen Akzepts an die Stelle von Hergabe von Geld im Kontokorrentverkehr treten zu lassen.” Die Diskontierung von Bankakzepten durch die Reichsbank war also vor dem Kriege der gangbare Weg zur Bereitstellung der Banknoten und des Bargeldes
Rittershausen war ein begeisterter Verfechter dieser Bankakzepte und der damit verbunden Kreditmengenausweitung. Sie ging auch relativ gut, wenn man von der Verstärkung der systematischen Ungleichheiten absieht, die letztlich die antimarktwirtschaftlichen Gegenreaktionen von internationalem und National-Sozialismus befeuerten. Wirtschaftlich gingen diese Drahtseilakte in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert deshalb oft gut, weil es einerseits eine Phase rasanten Aufholwachstums war, in der unternehmerische Ansätze aus Großbritannien zum Teil einfach übernommen wurden – den jeweils ersten Unternehmen war dadurch oft vorgezeichneter Erfolg beschieden. Wettbewerb hätte diesen Erfolg freilich ungewisser gemacht, doch das Bankenkartell schuf gerade durch die selektive Kreditgewährung künstliche Monopolpositionen. Im Zusammenspiel von staatlichen Privilegien für wenige Großunternehmer und wenige Bankiers wurde so das unternehmerische Risiko gedrückt – bezahlen musste dafür die breite Masse. Schon in ihren Anfängen war Marktwirtschaft also in unseren Breiten eine stark verzerrte Angelegenheit.
Die Bankakzepte, so wie parallel dazu auch die Banknoten, waren Instrumente eines Teilreservebankensystems. Das bedeutet, dass die Deckung dieser Wertpapiere nicht durch bereits vorhandene geschaffene und gesparte Güter gewährleistet wurde, sondern dass Papiere in Antizipation von erst zu produzierenden Gütern ausgegeben wurden. Die Bank konnte also ihre Bilanz verlängern, ohne Gegenwerte aufzuweisen – was für die Bank natürlich günstig war, allerdings das Risiko einer Zahlungsunfähigkeit der Bank nach sich zog. Die Bank agierte als Investmentbank – insbesondere im deutschen Raum spielten solche Industriebanken eine besonders große Rolle.
Welche Anreize steckten hinter der Ausweitung der Bankakzepte? Deuten diese auf einen marktwirtschaftlichen Ursprung des Teilreservebankensystems hin? Könnte sich Ähnliches auf Blockchain-Basis entwickeln? Welche unternehmerischen und politischen Schlüsse lassen sich daraus ziehen?
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