Nach der dekretierten Wirtschaftsschrumpfung der Covid-Jahre ist man in den privilegierteren Ländern auf den Geschmack gekommen: weniger Leistung bei gleichem Gehalt zur Verbesserung der Work Life Balance! Vor allem die deutsche Politik prescht dabei vor, auch nachhaltig jedes Wachstum zu verhindern, um einer überalterten Gesellschaft die ersehnte Entschleunigung zu bescheren.
Ideen dienen in der Regel der Rationalisierung von Interessen. Der ideenkundige Fabelwolf, der die Trauben nicht erreichen kann, leugnet auch jegliches Interesse daran. Fehlt nur noch ein englischer Begriff, bei dem aktuelle Interessenlagen das globale Publikum der Medienblasen bespielen können. So feiert der alte Wein der Décroissance gerade im neuen Schlauch des Degrowth seine Rückkehr in den deutschen Diskurs.
Um diese Welle zu verstehen, müssen wir an ihre Ursprünge zurückkehren. Die seit den Sechzigerjahren wachsenden moralischen Zweifel an der Nachkriegsordnung fanden sich in der ausbrechenden Krisenstimmung der Siebzigerjahre bestätigt. Diese Stimmungslage nutzte der charismatische Manager Aurelio Peccei für eine Kampagne rund um ein Veranstaltungsformat: den Club of Rome, der die «Grenzen des Wachstums» abstecken sollte. Die Ähnlichkeiten zum Manager Klaus Schwab und zu seinem Club von Davos sind frappierend.
Peccei war ein Technokrat, der Weltwirtschaftsplanung zum Ziel hatte. Dazu bediente er sich neuester «kybernetischer» Wirtschaftsmodelle, wie sie auch in der kurzen sozialistischen Planwirtschaft unter Allende in Chile zum Einsatz kamen. Die Modelle waren natürlich falsch und irreführend, doch das war für die Öffentlichkeitswirkung irrelevant. Gewichtiger war das Problem, dass der Bericht eine modellierte Ressourcenknappheit mit ökonomischer Knappheit verwechselte und daher auf Ablehnung der damaligen Ökonomenzunft stiess. Es brauchte also Wissenschaftlichkeit, um die Agenda voranzubringen.
Die Leitautoren des Berichts, das Ehepaar Meadows, fanden einen geeigneten Paten im Vordenker der Décroissance: Nicholas Georgescu-Roegen. Der rumänische Mathematiker war frustriert, dass seine Ansätze einer Neubegründung der Ökonomik auf wenig Widerhall gestossen waren, und suchte ein Publikum für seine immer dringlicheren Warnungen. Er kam aber aus einer gänzlich anderen Tradition und trennte sich bald missmutig vom Club of Rome und von den an Fahrt gewinnenden «heterodoxen» Ansätzen mit Tendenz zum Ökomarxismus.
Georgescu-Roegen ist gewiss der brillanteste Vordenker des Degrowth, an ihm lassen sich aber auch die Widersprüche, Sackgassen und Absurditäten der aktuellen Wiederkehr erkennen. Als Schumpeter-Schüler, der mit Fritz Machlup und Friedrich A. von Hayek in Austausch stand, kommt er aus der altösterreichischen Tradition der Zivilisationskritik. Im agrarischen Rumänien, wie vor ihm Ludwig von Mises in Galizien, empfand er die Spannung zwischen alter und neuer Ordnung als übergross.
Mitteleuropa war das Kerngebiet wissenschaftlich-kritischer Zivilisationsstudien, weil die neue Ordnung einer in den Welthandel integrierten Industriewirtschaft hier besonders spät, fremd, dynamisch und brüchig erschien. Der Wahnsinn des 20. Jahrhunderts führte schliesslich bei vielen altösterreichischen Denkern zu extremer Verdüsterung hin zu einem tiefen Pessimismus, so auch bei Carl Menger, dem Begründer der Österreichischen Schule der Ökonomik.
Bei Georgescu-Roegen wurde dieser Pessimismus noch biografisch verstärkt, hin zu einer verheerenden Nullsummenlogik. Als sein Lieblingslehrer und Mentor im Ersten Weltkrieg fiel, begann seine seelische Verdüsterung: «Meine kindliche Seele wurde gequält von dem Gedanken, dass vielleicht, wie in der alten rumänischen Legende, sein Leben der Preis für meinen Erfolg war.» Am Ende zog er den fatalen Fehlschluss: «Wenn wir über Details hinwegsehen, können wir sagen, dass jedes heute geborene Baby ein menschliches Leben weniger in der Zukunft bedeutet. Aber auch jeder Cadillac, der irgendwann einmal produziert wird, bedeutet weniger Leben in der Zukunft.»
Die Untergangsstimmung in der k.u.k. Monarchie, die Karl Kraus zu den «letzten Tagen der Menschheit» erklärte, machte Wien zur Hauptstadt der Neurosen und brachte drei Wiener Schulen der Psychoanalyse hervor. Sigmund Freud fand den korrekten Begriff bei – wie so oft – falscher Kausalerklärung: Thanatos! Dieser Todestrieb im Gegensatz zum Lebenstrieb Eros verstärkt sich phasenweise in erschütterten Gesellschaften. Die Rationalisierung des Aussterbens einer Gesellschaft in der «letzten Generation», die ihre Kinderlosigkeit zur ökologischen Grosstat erklärt, fügt sich nahtlos ins historische Muster.
Georgescu-Roegen erkannte die Mathematisierung der Ökonomik als Holzweg. Dummerweise war es ausgerechnet der Weg, den er – dem Wiener Kreis und dem falschen Rat von Schumpeter folgend – akademisch eingeschlagen hatte. Das trug gewiss zu seiner zunehmenden Frustration und Ungeduld bei. Er wollte der modernen Physik von der Mechanik zur Thermodynamik folgen und eine nicht mechanistische Neubegründung der Ökonomik wagen, dabei fiel er aber hinter den Wissensstand der neuen Physik zurück. Die statistische Versöhnung zwischen klassischer Mechanik und Thermodynamik konnte er nicht nachvollziehen und überdehnte das Konzept der Entropie zu einer Rationalisierung seines Nullsummendenkens.
Von den Modellen des Club of Rome hielt er jedoch nichts, auch nichts von der technokratischen Selbstüberschätzung von Managern, die das Wachstum der Weltwirtschaft «managen» wollen. Immerhin war er auf einem Schmugglerschiff aus dem kommunistischen Rumänien geflüchtet. Er endete als wütender Moralprediger: Krieg und Mode verbieten sowie die Weltbevölkerung auf das Niveau reduzieren, das sich nichtindustriell ernähren liesse.
Die Konsequenzen eines solchen Welt-Todestriebs zog schliesslich der Degrowth-Denker mit der stärksten Reichweite in den Siebzigern: Paul Ehrlich (ebenfalls mit altösterreichisch-rumänischen Wurzeln). Sein Programm zur Bevölkerungsreduktion sah Zwangssterilisation vor. Immerhin wagte er konkretere Aussagen über die Realität, die in der berühmten Wette gegen den Ökonomen Julian Simon auch Preisvorhersagen enthielten. Das Ergebnis: Es gibt kaum eine Denktradition, die so gründlich empirisch falsifiziert ist wie Degrowth. Alle Vorhersagen und Modelle sowie die vermeintliche naturwissenschaftliche Basis haben sich als Irrtümer erwiesen. Als einzig wahrer Kern bleibt die Seelenerschütterung in Umbruchzeiten.
Wie kommt es dann, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen unlängst im EU-Parlament an einer Degrowth-Konferenz sprach? Das neue Interesse von Laien lässt sich nur theologisch erklären. Es gibt ein einziges soziales Phänomen, bei dem nach Widerlegung durch die Realität die Überzeugung nicht nachlässt, sondern wächst: Endzeitsekten. Vergleichbar mit den Inflationsheiligen der Zwischenkriegszeit, handelt es sich um wiederkehrende historische Muster, die das Interesse an apokalyptischer Askese zyklisch anschwellen lassen.
Aufseiten der Politik freilich handelt es sich um willkommene Freibriefe, auch den letzten Massstab loszuwerden. Aufseiten von Universitäten und Medien handelt es sich um Nutzung eines unverbrauchten Begriffs, der als semantischer Schirm vermeintlich «linken» Utopismus bündeln und in Einfluss, Prestige und Einkommen ummünzen soll – also in rasantes Wachstum der Degrowth-Industrie. Getreu der Nullsummenlogik müssen andere dafür den Platz freischrumpfen. Die Überbevölkerung und die, die zu viel haben, sind schliesslich stets die anderen.
Zuerst erschienen in Finanz und Wirtschaft.