Scholien
Währungsunion – wie lange noch?
Stimmen werden laut, die die Rückkehr zur Lira ersehnen. Manche eurokritischen Ökonomen stützen diesen Wunsch, denn er würde eine Abwertung der Währung nach italienischem Gusto und in italienischer Dimension erlauben. Auch Griechenland hatten Systemkritiker schon eine sich abwertende Drachme empfohlen. Doch Abwertung ist kein Allheilmittel, sondern kaum mehr als Umverteilung von den Sparern zur Exportindustrie. Nur ein kurzfristiger Vorteil kommt noch hinzu: Abwertung ist ein Täuschungsmanöver für all diejenigen, die der Nominalwertillusion anhängen.
Wie schon seinerzeit Keynes richtig erkannt hatte, lassen sich auf diesem Weg reale Lohnsenkungen durchsetzen, um sich der realen Grenzproduktivität wieder anzunähern und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. In der langen Frist jedoch, in der wir leben und Keynes tot ist, wiegt der Nachteil von Jahrzehnten des Täuschens nach. Der politisch begünstigte Nominalwertfetisch drängt allerorts zu inflationärer Politik.
Auch die EZB-Politik ist hochinflationär – zumindest der Intention und der Geldschöpfung nach –, ihre Wirkung aber verpufft, da Kredite schneller faulen, Einlagen schneller abgezogen werden und die Geldpolitik schneller antizipiert wird, als Geld geschöpft werden kann. Eine italienische Lirainflation wäre gewiss wirkungsvoller. Schließlich hinkt die EU, trotz großen Bemühens, dem altehrwürdigen italienischen Filz noch etwas nach. Die enge Verbindung von Konzernen, Banken und Politik schuf gut geölte Kanäle für neues Geld. Hierin freilich liegt die italienische Malaise, kein Lösungsrezept für die Eurokrise. Bessere Umsetzung schlechter Politik bleibt schlechte Politik. Nur die Dimension ändert sich.
Die Liranostalgie ist Sehnsucht nach den kleineren, überschaubareren Dimensionen. Sie stellt keine Systemalternative dar. Denn bis auf die Dimension sind die Ähnlichkeiten überwältigend. Der Kontrast zwischen Nord- und Süditalien wird im Ausland unterschätzt, er ähnelt dem zwischen Deutschland und Griechenland. Die Lira entstand im Rahmen einer Währungsunion, wurde großnationalistisch aufgeladen und doch in einem – von einer ideologisierten Fremdherrschaft abhängigen – Klientenstaat eingeführt. Der Euro ist dasselbe, nur noch größer, noch ideologischer: ein symbolpolitisches Projekt, das die Einigung im Rahmen einer neuen EU-Nation mit Flagge, Hymne und quasireligiösen Einheitsappellen vorantreiben soll.
Systemkritiker schlagen heute einen Nord- und einen Südeuro vor, weil das Wettbewerbsgefälle so groß wäre. Tatsächlich ist die Nutzung derselben Währung ein Weg zum Abbau von Gefällen. Das Problem ist keineswegs das Zahlungsmittel, sondern die politische Zentralisierung in heterogenen Gebieten. All der inneritalienische „Ausgleich” infolge des Rom-Zentralismus hat das Land weiter gespalten und den Filz wuchern lassen, bis ins Kriminelle hinein. Ebenso ist der Euro das Gegenteil eines echten Einigungsprojekts, er ist eben ein „symbolpolitisches” bzw. gesinnungsethisches Projekt, bei dem vorgegebene Intention und reale Wirkung auseinanderklaffen: Der Euro wird der Spaltpilz sein, der die mit viel Mühe erst in den letzten Jahrzehnten zugeschütteten Gräben zwischen europäischen Nationen wieder aufreißt. Der deutsche Ökonom Roland Baader, einer der wenigen prophetischen Warner vor der Eurokrise, hatte einst so treffend erkannt: Wirtschaft verbindet, Politik trennt.
Statt Italien zu europäisieren, wird die EU zu einem großen Italien. Kein Wunder, dass die Italiener da lieber bei ihrem kleinen Italien bleiben, mit 500 000-Lira-Scheinen, Löchern in den Straßen und Mafia – aber eben der eigenen Inflation, den eigenen Mängeln und der eigenen Mafia. Ähnlich wird es nach und nach in den anderen europäischen Ländern klingen. Auspresser in fremden Diensten könnte das Schicksal eines Giuseppe Prina ereilen, napoleonischer Finanzminister, der sich immer neue Steuern ausdachte, bis dem Mailänder Mob der Kragen platzte.
Auf der anderen Seite stehen die panischen Beschwichtigungsversuche der Systemerhalter, die mit Geldspritzen von vielen Milliarden Euro alternativlose Banken mit vielen zig Milliarden fauler Kredite in den Bilanzen am Leben halten wollen und – so versichern sie – müssen. Auch hier ist die Politik das Problem, für dessen Lösung sie sich hält. Der größte Teil der Geldschöpfung läuft heute über Geschäftsbanken, doch ohne Privilegien, Zentralbanken und politische Milliardenjongleure hätte marktwirtschaftlicher Wettbewerb mit realen Zinsen längst zu höherer Liquidität geführt und die Geldschöpfungsblasen beschränkt.
Krisen sind der notwendige Prozess zur Bereinigung von Blasen. Der einzige alternative Bereinigungsprozess ist Enteignung. Um die Form dieser Enteignung dreht sich die aufziehende Währungskrise, wobei fiskalpolitische Enteignung mit geldpolitischer Enteignung konkurriert. Momentan nimmt der Druck auf ersterem Wege zu. Um das Kartenhaus der Verschuldung aufrechtzuerhalten, müssen Länder wie Italien und Griechenland rentabler gemacht werden. Dabei geht es nur sekundär um steigende Produktivität, primär geht es darum, deutsches Plünderniveau zu erreichen. Das bedeutet Enteignung durch neue Abgaben, höhere Grundsteuern und totale Überwachung. Bargeldabschaffung, Goldverbote und Reichsfluchtsteuern befinden sich bereits in der Planungsphase. Die Schweiz ist sowohl Nutznießer der einsetzenden Kapitalflucht als auch unmittelbar bedroht, dadurch für die Systemerhalter zum Feindesland zu werden.
Es kann sein, dass die europäische Geldpolitik mit der wachsenden Uneinigkeit den fiskalpolitischen Druck durch geldpolitische „Innovationen” wie Negativzinsen und Helikoptergeld nicht „entschlossen” und zeitgerecht genug dämpfen kann. Dann wird die Sehnsucht nach den überschaubareren Einheiten inflationär befeuert und in einem als Gegenreaktion wieder erstarkenden Nationalismus der Wirtschaftsprotektionismus um Währungsprotektionismus ergänzt werden.
Dieser vermeintliche „Protektionismus” wird jedoch weder Wirtschaft noch Währung schützen. Am Ende steht sinkender Wohlstand durch geringere Arbeitsteilung und inflationäres Notgeld. Wenn tatsächlich die Lira wiederkehrt, dann – wie einst – wohl als Biglietti di Stato des Finanzministeriums. Es würde sich dabei wohl um „Vollgeld” handeln, es würde aber im Zuge der damit finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen rapide an Wert verlieren und dem italienischen Filz zu neuer Blüte verhelfen – nicht aber der italienischen Wirtschaft.
Eine solche Episode würde die europäischen Systemerhalter bestärken, denn die Einäugigen erfreuen sich an wachsender Blindheit. Der Euro brachte gewiss Wachstumseffekte, da ein einheitliches Zahlungsmittel eine bessere Nutzung komparativer Vorteile erlaubt. Leider ist die Wirtschaft monetär schon so verzerrt, dass Wachstumseffekte stets mit einer Verstärkung der Blaseneffekte einhergehen, mit steigender Ungleichheit, Hässlichkeit und Arroganz. Das wiederum bestärkt die nationalistische Gegenreaktion. Die zunehmende Polarisierung wird den Totgesagten wohl noch leben lassen: Der Euro könnte länger halten als die europäischen „Demokratien”.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.
Blockchain – Hype oder Rettung?
Der Vorteil einer Blockchain gegenüber alternativen Lösungen ist, dass sie ohne zentrale Steuerungsinstanz auskommt. Das ist eine bedeutende Innovation mit zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten.
Beruhend auf diesem Prinzip lassen sich etwa „Smart Contracts” erstellen, „intelligente Verträge“, die ohne Juristen auskommen sollen. Diese Verträge sind eigentlich Algorithmen, die wiederum dezentral überprüft werden und so vor Manipulationen sicher sein sollen. Man könnte Verträge dieser Art auch als „dumme Verträge” bezeichnen, da der spezifizierte Algorithmus stur ausgeführt wird.
Was man sich an Juristen erspart, könnte man für Informatiker aufwenden müssen. Die programmierten Vertragsinhalte sind für alle Teilhaber der jeweiligen Blockchain einsehbar, und damit auch potenzielle Lücken im Code, die schneller zum Nachteil von Vertragsparteien ausgenützt als korrigiert werden könnten.
Mit der Zeit wird es aber wohl bewährte Standardverträge geben und kombinierbare Musterlösungen. Da überraschend viel Informatikkompetenz aus Idealismus frei verfügbar ist, dürften „Smart Contracts” eine ökonomischere Lösung für Vertrauensprobleme darstellen: Die technische Infrastruktur entsteht durch geeignete Anreize spontan und ersetzt zwangsbasierte Institutionen und teure Juristen.
Die Innovationskraft, die ökonomische Tragweite und der futuristische Charme machen solche Ansätze attraktiv. Klugerweise hat sich die Schweiz einen gewissen Vorsprung gesichert und zieht besonders in Zug junge Unternehmen in diesem Bereich an. Auch die Banken zeigen großes Interesse, und jede Bank, die etwas auf sich hält, hat schon mindestens eine Arbeitsgruppe zum Thema Blockchain im Einsatz. Dabei findet allerdings eine lukrative Verwechslung statt, die auf einem Missverständnis der Blockchain beruht.
Die Technik der Blockchain ist nicht bloß eine weitere „Cloud-Lösung” für verteilte Datenspeicherung. Essenziell ist die Notwendigkeit verteilter Anreize und Hürden durch reale Kosten – und diese realen Kosten gehen zulasten der Effizienz. Eine Blockchain wäre eine völlig unökonomische Lösung für Datenverteilung, wenn es nicht darum ginge, ein Vertrauensproblem ohne zentrale Institution zu lösen.
Die verteilte Überprüfung der Bitcoin-Blockchain erfordert derzeit mehr Energie, als der Reaktor Beznau insgesamt produziert. Will eine Bank Transaktionsdaten verteilen, um vor Serverausfällen sicher zu sein, so gibt es dafür wesentlich ökonomischere Lösungen. Die Blockchain-Technik ist nur dann sinnvoll und notwendig, wenn man auf eine Bank gänzlich verzichten möchte.
Schaufeln sich die Banken also gerade ihr eigenes Grab? Im Gegenteil, es handelt sich eben bloß um eine lukrative Verwechslung – lukrativ für Programmierer und Banken, und für beide aus demselben Grund: Marketing. Dabei wird „Blockchain” als zeitgeistiges Synonym für Datenbankentwicklung verwendet; über diese Fehlbezeichnung wird zu beidseitigem Nutzen hinweggesehen.
Der Wert von Bitcoin liegt derzeit hauptsächlich darin, ein unkorreliertes Asset zu sein. Der überwiegende Teil der Nachfrage ist spekulative Anlegernachfrage, das Zahlungsvolumen im Alltag ist verschwindend gering gegenüber dem Börsenvolumen. Das spricht nicht gegen Bitcoin; immerhin leistet es auch die Zahlungsfunktion problemlos. Besonders für Zahlungen im Rahmen der Schattenwirtschaft (vor allem Rauschmittel) und zur Umgehung von Kapitalverkehrskontrollen erweist Bitcoin schon heute gute Dienste.
Dass dennoch der Anlageaspekt überwiegt, ist dem aktuellen wirtschaftlichen Umfeld geschuldet. Die exponentielle Geldmengenausweitung treibt Sparer vor sich her, die immer verzweifelter nach Anlagemöglichkeiten suchen. Das macht unkorrelierte Assets zu seltenen Gütern; die steigende Volatilität macht sie zusätzlich attraktiv.
Daher zieht sogar ein digitales Asset ohne jeden dinglichen Hintergrund, das nur eine kleine Minderheit tatsächlich versteht, beachtliche Anlegergelder an. Aufgrund der asymptotisch beschränkten Gesamtmenge jemals verfügbarer Bitcoin und der eingeschränkten Kontrollier-, Regulier- und Manipulierbarkeit sowie der hohen Fungibilität konkurriert Bitcoin innerhalb derselben Anlageklasse wie Gold.
Bislang waren Banken, nach dem Staat, die Hauptprofiteure der Geldmengenausweitung. Das erklärt ihre hohe nominelle „Produktivität” bei geringer realer Innovationskraft. Die wachsende Regulierungsdichte infolge der bloß an den Symptomen ansetzenden Symbolpolitik nach der letzten Finanzkrise schränkt allerdings die Möglichkeiten der Banken massiv ein, weiterhin so einfach zu profitieren. Wirklich kreative Nutzung der durch Geldmengenausweitung geschaffenen Profitmöglichkeiten ist nur noch potenten nichtinstitutionellen Investoren möglich, während der Staat als einziger direkter Nutznießer der Schuldenaufblähung verbleibt.
Es ist allerdings relativ unwahrscheinlich, dass nun innerhalb des Bankenkartells plötzlich unternehmerischer Geist aufkommt. Die hohen Summen, die in Blockchain-Projekte fließen, dürften überwiegend als PR-Aufwand abzuschreiben sein. Da sowohl bei der Geldproduktion als auch im Bankensektor Privilegien anstelle von Wettbewerb herrschen, stellen Peer-to-Peer-Ansätze, wie die Blockchain sie möglich macht, eigentlich die Antithese dar.
Nicht bloß im ideologischen Sinn, sondern im viel relevanteren wirtschaftlichen Sinn: Geldsystem und Bankensystem sind eng korreliert. Blockchain-basierte Titel auf Assets sind daher potenzielle Rettungsboote, die diejenigen aufnehmen, die das Sinken der Finanzschiffe als mögliches Szenario betrachten.
Diese Konkurrenzsituation spüren Banken und Behörden, darum handelt es sich bei viel vermeintlichem Engagement rund um die Blockchain um „Feindbeobachtung”. Da Bitcoin aber auch mit Gold und Bargeld konkurriert, den anderen zwei schwer regulierbaren Assets außerhalb des Bankensystems, erscheint es auch als mögliche Blaupause eines digitalen Zeichengeldes. Manche sehen in der Blockchain einen Weg, die immer häufiger geforderte Bargeldabschaffung als Innovation auszugeben.
Das allerdings ist Teil der lukrativen Verwechslung, die somit eine sinistre Wendung nimmt: Zentral erfasste und erfassbare Assets benötigen keine Blockchain, der Begriff wäre bloße Fassade für ein zentrales Vermögensregister. Dieses als Blockchain umzusetzen, wäre völlig absurd.
Verteilte Datenbanken mit zentraler Überprüfung, ohne kostenintensives „Mining”, die konzeptuell von Blockchain-Lösungen zu unterscheiden sind, können durchaus sinnvolle Angebote sein, sofern sie sich dem Wettbewerb stellen. Denn Wettbewerb ist eine andere Lösung des Vertrauensproblems: Die Möglichkeit, Angebote abzulehnen, diszipliniert die Anbieter.
Abseits des Wettbewerbs, dort, wo sich heute die privilegierte Geldproduktion durch Zentralbanken und Geschäftsbanken abspielt, lässt sich das Vertrauensproblem aber keinesfalls technisch auflösen, es lässt sich nur durch PR-Bluffs überdecken. Im schlimmsten Fall verkommt „Blockchain” dann zum Propagandabegriff für die digitale Auflösung analoger Freiheit in der „Big Data Cloud”.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.
Interview zum Buch Helden, Schurken, Visionäre
Rahim Taghizadegan: Der Konjunkturzyklus ist im Wesentlichen ein Täuschungszyklus – Wirtschaftskrisen bedeuten die Aufdeckung gehäufter Unternehmerirrtümer, deren Häufung und zeitliche Verdichtung nur durch Täuschung erklärbar ist. Insofern sind heutige Unternehmer in Gefahr, zu wenig renitent zu sein und sich zu stark von verzerrten Marktsignalen sowie Politik- und Prestigesignalen in die Irre führen zu lassen.
THE ESSENTIALIST: Welche Rolle sollte eine zukunftsgerichtete unternehmerische Elite ausführen?
Rahim Taghizadegan: Die Funktion des Unternehmertums ist, die Zukunft reibungsloser hervorzubringen, indem sie knappe Produktionsmittel entgegen aktueller Interessen im Sinne der zukünftigen Präferenzen, Nöte und Möglichkeiten der Menschen umordnen. Während Politik aktuellen Mehrheits-Präferenzen nachläuft und damit die Zukunft für die Gegenwart opfert, verhilft langfristiges Unternehmertum der Zukunft zu ihrem Recht.
THE ESSENTIALIST: Wie unterscheiden sich die Begriffe Contrepreneur und Visionär? Und wie sind im Gegensatz dazu mittelständische Familienunternehmer in Zukunft zu sehen, die zwar nicht innovativ sind, aber auch keine Pseudo- oder Zeitgeist-Entrepreneure, sondern realen Wert an konkrete Kunden liefern?
Rahim Taghizadegan: Visionen können auch Utopien oder Wahnvorstellungen sein. Unternehmerische Umsetzung auf eigene Kosten ist mehr als schöne Worte und große Pläne. Doch in der Gegenwart, insbesondere, wenn sie so verzerrt ist wie heute, geht die konkrete Umsetzung des Neuen oft gegen den Strom – der Contrepreneur ist der Andersmacher, im Gegensatz zum Mitläufer oder bloßem Andersdenker. Ich schlage den Begriff vor, denn es könnte sein, dass der Entrepreneur oder Unternehmer bald durch subventioniertes, verzerrtes und kurzfristiges Pseudounternehmertum diskreditiert wird.
THE ESSENTIALIST: Welche Eigenschaften sollten Contrepreneure und Entrepreneure in ihrer Ethik und Wertehaltung haben?
Rahim Taghizadegan: Entrepreneure stehen für die alte Tugend des Maßhaltens, des effizienten Mitteleinsatzes, der Produktion anstelle des Konsums. Doch diese Tugend ist zu wenig ohne die vorgelagerten Tugenden der Weisheit und des Mutes, die in Zeiten des Wahnsinns und der Feigheit renitent erscheinen: um diese Tugenden zu betonen, spreche ich vom Contrepreneur.
THE ESSENTIALIST: Sehen Sie Globalisierung und wachsende internationale Vernetzung als Chance oder Bedrohung für europäische Unternehmer?
Rahim Taghizadegan: Internationale Arbeitsteilung bedeutet stets mehr Chancen und Möglichkeiten, ob für Unternehmer oder Konsumenten. Es gibt auch ein davon unabhängiges Phänomen der „Globalisierung”, die eine Nivellierung der Welt durch monetäre Verzerrung und Politik bedeutet. Diese Angleichung, die nicht den freiwilligen Präferenzen der Menschen entspricht, geht ihrem Ende zu und löst starke Gegenreaktionen und Sehnsüchte aus. Europäische Unternehmer, sofern sie sich nicht mit dem Status quo allzu sehr arrangiert haben, sind dafür prädestiniert, von der steigenden Sehnsucht nach Vielfalt und Authentizität zu profitieren.
THE ESSENTIALIST: Sie fragen, „Muss man wahnsinnig sein, um in Europa noch Unternehmer zu werden?” Warum erwähnen Sie spezifisch Europa?
Rahim Taghizadegan: Europa steht für die Weltregion mit der höchsten Kapitaldichte, insbesondere, wenn man kulturelles Kapital berücksichtigt. Von diesem Kapital leben wir nachwievor sehr gut, doch es hat auch zu einer unglaublichen Anspruchsmentalität geführt, hinter der erschreckender Kapitalkonsum abläuft. Dieser Kapitalkonsum beruht vor allem darauf, dass Unternehmern die undankbare Funktion zukam, de facto als Finanzbeamte zu wirken und als Sündenböcke für die Geldentwertung und Arbeitsbelastung herhalten zu müssen. Mit dem abgeschöpften Wohlstand konnten sich ganze Generationen leisten, in einer Parallelwelt eingelullt zu werden, in der Wohlstand vom Staat kommt und nur verteilt werden muss. Als Unternehmer hat man sich entweder als Systemprofiteur arrangiert oder steht mit einem Fuß im Gefängnis oder am Pranger. Es braucht also eine ganze Menge Wahnsinn oder Leichtsinn, um in Europa – besonders in Westeuropa – noch Unternehmer zu werden. Da man Wahnsinn im Vorhinein nicht von Genialität unterscheiden kann, sollten wir für diese Wahnsinnigen dankbar sein.
THE ESSENTIALIST: Wie heißt das? Wenn die Welt untergeht, soll man nach Wien gehen. Da passiert alles fünf/zehn/zwanzig Jahre später. 🙂
Rahim Taghizadegan: Ja, die größere Schlampigkeit, Korruption und Mauschelei gehören zu den letzten Assets in Wien. Je gründlicher, kälter und geradliniger der politische Apparat wird, desto unerträglicher wird Wien. Bis heute gilt: Österreichs Totalitarismus ist fünf Jahre sanfter als der in Deutschland. Kein großer Unterschied, aber immerhin.
THE ESSENTIALIST: Sie sehen Start-Ups oft als mediale Projektionsfläche. Brauchen wir Start-Ups überhaupt oder ist das nur ein Hype? Was wäre eine Alternative?
Rahim Taghizadegan: Subventionierte Start-ups sind aktuell ein Hype der Symbolpolitik. Dabei nimmt die Idee des Unternehmertums so großen Schaden, dass wir uns wohl bald vom Unternehmerbegriff verabschieden müssen. Die Alternative nenne ich daher Contrepreneurship – wie diese Alternative aussehen kann, warum sie notwendig ist und welche spannende Geschichte dahinter steht, zeige ich in meinem Buch.
Veröffentlicht in englischer Fassung in der Publikation THE ESSENTIALIST.
Die Zähmung der Untertanen
Die „politische Korrektheit” wird durch grundverschiedene Annahmen und Motive genährt, einige davon lösen Gegenreaktionen aus, die wiederum neue Motive begründen. Als systematischer Versuch der Denkveränderung durch Sprachveränderung ist sie die logische Konsequenz behavioristischer Zugänge zur Politik, die auf eine Veränderung des Menschen durch Veränderung der Institutionen, darunter der Sprache, abzielen. Nahezu alle utopischen Ideologien beruhen, in ihrer modernen Spielart, auf behavioristischen Annahmen.
Diese betonen die „Nurture” im Gegensatz zur „Nature“, die soziale Prägung, Bildung, Beeinflussbarkeit und Formbarkeit im Gegensatz zu beständigerer menschlicher Natur, die gar eine genetische Komponente haben könnte. Im Selbstverständnis sind diese Ansätze emanzipatorisch. Ihre Attraktivität und Problematik hat bereits Goethe in einer tiefen Einsicht dargelegt. Er schrieb: „Wenn wir […] die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.”
Die Problematik liegt in der „emanzipatorischen” Unaufrichtigkeit, die das Sein der Menschen ausblenden muss, um jede normative Kraft des Faktischen zu verhindern. Das mag ein erzieherischer Zugang sein – und er hat durchaus suggestive Kraft –, doch gefährlich wird dieser Zugang nicht nur im paternalistischen Extrem, in dem sich Menschen als Erziehungsberechtigte ihrer Mitmenschen aufspielen, sondern auch und besonders, wenn man ihn erkenntnistheoretisch auffasst. Dann haben wir es mit systematischer Lüge zu tun, die sich in ihrer emanzipatorischen Zielsetzung auch noch als Kind der Aufklärung wähnt und moralisch auf der Siegerseite sieht – daher immunisiert ist.
Im Schatten dieser moralischen Gewissheit konnten sich unmoralische Interessen breitmachen. Aus der emanzipatorischen Gesinnung wurde ein geistiger Opferkult, der menschliche Schicksale zur individuellen Bereicherung und Prestigemehrung missbraucht. In einem umgekehrten Sexismus und Rassismus werden Frauen, Schwarze und bestimmte Minderheiten zu Schutzbefohlenen degradiert, die Sittenwächter bräuchten, um sie vor Beleidigungen zu bewahren. Das Beziehen von „politisch korrekten” Positionen täuscht heroische Gesinnung vor, ohne dass man persönliche Nachteile riskiert: So wurde „politische Korrektheit” zum Duckmäusertum von – durchaus bürgerlichen – Karrieristen, die kontroverse Positionen scheuen.
Den aus Anpassungsdruck wachsenden Tugendterror hat bereits G. K. Chesterton vor mehr als hundert Jahren vorausgesagt: „Die moderne Welt ist voll von den alten christlichen Tugenden, bloß sind diese vollkommen verrückt geworden. Die Tugenden sind verrückt geworden, weil sie von einander isoliert worden sind und nun alleine umherwandern. So sorgen sich manche Wissenschaftler um die Wahrheit, doch ihre Wahrheit ist ohne Barmherzigkeit. So sorgen sich manche Humanitäre um die Barmherzigkeit, doch ihre Barmherzigkeit ist oft ohne Wahrheit.” Diese vermeintliche Barmherzigkeit ohne Wahrheit gibt vor, den Schwachen zu helfen, versteckt aber eigene Unzulänglichkeit hinter einem unaufrichtigen Helfersyndrom, das panisch immer neue Opfergruppen zur Selbstwertsteigerung sucht und braucht.
Die „Humanitären mit der Guillotine” nannte diesen Menschenschlag Isabel Paterson, eine der starken Frauen der Freiheitsidee, gegen die heute ausgerechnet im Namen der Frauen opponiert wird. Diese vermeintlich armen, schwachen Wesen bräuchten nämlich Sprachdiktat, Zwangsquoten, „Programme” und Behörden, um ihren Weg gehen zu können. Neben den Frauen leidet v. a. die Wahrheit unter diesem verkehrten Sexismus: Da wird der grammatikalische Genus aus Unkenntnis der Sprache zu einem Sexus sexualisiert, das generische zum gegnerischen Maskulinum aufgeladen und die Wirklichkeit selektiv skandalisiert: Nur der Mangel an Unternehmerinnen und Managerinnen wird beklagt und sinistren Verschwörungen zugeschrieben, niemals der Mangel an Vergewaltigerinnen und Gefängnisinsassinnen.
Diese Wirklichkeitsflucht, die ständig korrigierend beschönigen und beschwichtigen, im Notfall gar zensieren und verfolgen muss, erinnert an die ursprüngliche Bedeutung von „politischer Korrektheit“, die wesentliches Element des Stalinismus war. Gedankenverbrechen galten als Verrat, da sie Zweifel säten und dem Klassenfeind dienten. Es war auch Stalin, der die Losung ausgab, alle Gegner unterschiedslos als „Faschisten” zu bezeichnen, den Begriff Nationalsozialismus aufgrund seiner enttarnenden Begriffsnähe zum Sowjettotalitarismus völlig durch den Begriff Faschismus zu ersetzen und gewaltbereite, intolerante Totalitäre, sofern sie nur dem eigenen Lager dienlich sind, als „Antifaschisten” zu adeln.
Die heutige „politische Korrektheit” ist allerdings zum überwiegenden Teil Konfliktscheu und Gegenreaktion. Beide Motive sind verständlich. Digital vernetzte heterogene Massengesellschaften ohne gemeinsame Wert- und Erkenntnisgrundlage, die das Vertrauen in ihre Deutungseliten verlieren, ähneln reizbaren Bestien. Die Sorge um ein Durchbrechen der Konflikte von den digitalen Schmierwänden in die Straßen ist berechtigt. Sehr oft ist „politische Korrektheit” schlicht eine Frage der Umgangsform: Im persönlichen Umgang ist Sensibilität zu Recht gefordert. Die wachsende biografische Vielfalt, der Meinungsdruck und die divergenten Deutungen machen Toleranz zu einer schwierigen Übung. Doch ohne ein Minimum an Toleranz kann eine heterogene Gesellschaft nicht bestehen.
Leider gerät die Toleranz in eine Schieflage, wenn sie nicht auch den wachsenden Unmut über die sich zu „Erziehungsberechtigten” Aufschwingenden empathisch nachvollziehen kann, die den Menschen immer öfter korrigierend und sanktionierend ins Wort fallen. In der Tat – die Worte werden schärfer, die Wut sieht oft nach Hass aus. Die „politische Unkorrektheit” ist ein Ventil, und es sind nicht die Besten, die sich ihrer in einfältiger Spiegelung aus Trotz bedienen. Es ist ein Trotz der Untertanen gegen ihre Obertanen. Die „politisch Unkorrekten” gehören eher der Unterschicht an, es sind Leute, die weniger zu verlieren haben. Ein bürgerlicher Karrierist wird sich tunlichst jeder Unkorrektheit enthalten, die durch die typische Hysterie in den „unsozialen Medien” sein Karriereende bedeuten könnte.
Mit der wirtschaftlichen Stagnation wird damit Provokation wider die Korrektheit zum massentauglichen Erfolgsrezept. Die Unkorrekten bemerken, dass sich stets die Richtigen gereizt fühlen, und erhöhen langsam die Dosis. Propaganda endet stets in beißendem Spott. Auch das ließe sich von der Sowjeterfahrung lernen. Die Obertanen, die gleicheren Gleichen, haben sich bequem in einer Parallelwelt eingerichtet. Es ist eine Parallelwelt ohne reaktionäre Zweifel, voll moralischer Überheblichkeit, aber ohne jede reale Verantwortung. Ausbaden dürfen die Konsequenzen der bequemen Illusionen stets die Untertanen.
Dieser Artikel erschien in der Zeitung „Finanz und Wirtschaft”.