1. Hallo Rahim, deine Heimatstadt Wien wurde vom britischen Economist gerade wieder zur „lebenswertesten Stadt der Welt“ gekürt. Was machen die Österreicher besser, und was können wir Deutschen von euch lernen?
Es gibt nicht viel, was man von der Stadt Wien lernen könnte, außer der Erkenntnis, dass in der Politik Lob und Tadel oft fehlgeleitet und ungerecht zugeteilt werden, da Ursache und Wirkung meist zeitlich weit voneinander getrennt und auf paradoxe Weise miteinander verflochten sind.
Österreich ist besser als Deutschland, weil es heute kleiner und ländlicher ist, damals weniger fortschrittlich war und sich einst das Bürgertum weniger der Politik widmen konnte, daher mit Kultur, Wissenschaft und Unternehmertum Vorlieb nehmen musste.
2. Du hast Physik und Wirtschaft studiert. Gibt es gewisse Gemeinsamkeiten bei diesen auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlichen Studienfächern?
Meine Faszination für komplexe Phänomene hat mich sowohl zur Physik als auch zur Wirtschaft geführt. Die Physik schützte mich vor dem Physikneid der Ökonomen, die Wirtschaft schützte mich vor dem Weißkittelphänomen überzogenen Wissenschaftlerstolzes und der Ungeduld mit realen Menschen.
3. Du bist Leiter der vor über 15 Jahren gegründeten, privaten Bildungseinrichtung scholarium. Was ist das Ziel eurer Arbeit, und hat sich der Schwerpunkt seit dem Bestehen verschoben? Wie läuft so ein Seminar im scholarium praktisch ab?
Das Hauptziel besteht darin, die Wiener Schule in ihrer ursprünglichen Form – interdisziplinär, praxisorientiert und unideologisch – weiterzuführen. Dieser Fokus hat sich nicht verlagert, er hat sich aber stetig erweitert und wurde auf einer immer solideren Basis verankert. Neben dem ursprünglichen Hauptthema Vermögensanlage, das insbesondere nach der großen Finanzkrise eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die Wiener Schule lenkte, wurden eine Vielzahl von Themen, Expertisen und Erfahrungen hinzugefügt: Unternehmertum, Geopolitik, Erkenntnistheorie, Bitcoin, Wirtschaftsgeschichte, Thymologie, politische Theologie, Bildung, Technologie und vieles mehr.
Die Seminare im scholarium zeichnen sich durch kritische Auseinandersetzungen aus, die auf dichter Lektüre oder realen Erfahrungen basieren, und unterscheiden sich fundamental vom universitären Betrieb, von politisch-ideologischen Echokammern oder oberflächlichen Online-Kursen. Wir stützen unsere Arbeit auf extrem konzentrierte Exzerpte aus der weltweit umfangreichsten Bibliothek zu den zahlreichen Wiener Schulen, wobei stets alles interdisziplinär hinterfragt und mit der Realität sowie der Praxis abgeglichen wird.
4. Du wirst als „der letzte Wiener Vertreter der Wiener Schule der Ökonomik in direkter Tradition“ beschrieben. Hendrik Hagedorn hat vor einigen Jahren den ersten Studiengang der Österreichischen Schule in Deutschland aufgebaut, der unter anderem aufgrund der mäßigen Resonanz und mangelnder Unterstützung wieder eingestellt wurde. Warum hat es die „Österreichische Schule der Nationalökonomie“ gerade im deutschsprachigen Raum so schwer?
Hat sie gar nicht. Sie musste wie viele Wissenschaftstraditionen durch die Brüche des irrsinnigen 20. Jahrhunderts ins Amerikanische auswandern – sprachlich und geographisch. Über meine Lehrer Roland Baader und Hans H. Hoppe blieb aber ein deutscher Faden bestehen, an dem sich anknüpfen ließ. Das wutbürgerliche Interesse an der Wiener Schule ist im deutschsprachigen Raum überdurchschnittlich groß, und ein Erkenntnisinteresse ist immer und überall ohnedies nur einer winzigen Minderheit vorbehalten.
Die Wiener Schule im eigentlichen Sinn ist allerdings keine Tradition, die zur Berufsausbildung akademischer Wirtschaftswissenschafter befähigt, denn diese werden in der Regel für die Produktion pseudowissenschaftlicher Alibis für Interessengruppen bezahlt. Ein Zertifikat „Österreichische Schule“ ist weitgehend nutzlos. Ich unterrichte seit gut 15 Jahren an Universitäten im gesamten deutschsprachigen Raum; der Fokus auf akademische Würden ist aber eine ungute Verbindung von Staatsprestige und bürgerlichen Minderwertigkeitskomplexen. Der wirklich relevante Teil der ursprünglichen Wiener Schule fand schon damals im Salon, Kaffeehaus und der unternehmerischen, finanziellen und diplomatischen Praxis der Zeit statt.
5. Das Thema unserer aktuellen Ausgabe lautet „Wohlstand für Keinen“. Das klassische Wohlstandsversprechen des Westens, „Vom Tellerwäscher zum Millionär“, scheint die letzten Jahre immer größere Risse bekommen zu haben, gleichzeitig ist es dank des Internets heute so einfach wie nie zuvor, ein Unternehmen zu gründen und selbstständig Geld zu verdienen. Ist der wachsende Unmut der Menschen also berechtigt?
Möglichkeiten gibt es in der Tat viele, aber das führt auch zu einer gewissen Überforderung. Der Unmut kommt daher, dass Möglichkeiten, Gesellschaftsstrukturen, Traditionen und Sinnzuschreibung auseinanderklaffen, und ist daher berechtigt – wenngleich letztlich sinnlos.
6. Umfragen zufolge legen junge Menschen im Westen heute immer weniger Wert auf hohe Gehälter und Karriere, dafür werden „Work-Life-Balance“ und Freizeit höher gewichtet. Auf der anderen Seite stehen hungrige Asiaten und Afrikaner in den Startlöchern, die das materielle Niveau der westlichen Länder erst noch erreichen wollen. Befinden wir uns in Europa auf einem absteigenden Ast?
Ja, der Höhepunkt des Wohlstands in Westeuropa scheint vorerst überschritten zu sein, und es liegt eine gewisse Wohlstandsverwahrlosung vor. Für junge Menschen vorrangig ist aber die Sinnkrise – der Mangel, in ihrem Beitrag zu gesellschaftlicher Kooperation Sinn zu sehen, während sie ihr ganzes Leben bislang nur von Krisen gehört haben.
7. Der Titel eines der erfolgreichsten Sachbücher in Deutschland lautet „Das Ende des Kapitalismus – Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind und wie wir in Zukunft leben werden“. In der 8.(!) Woche nach dem Erscheinen befindet sich das Buch noch immer in den Top 20 der SPIEGEL-Bestseller-Liste. Die Bankkauffrau und Journalistin Ulrike Herrmann plädiert darin für eine an die britische Kriegswirtschaft angelehnte Kreislaufwirtschaft, in der der Staat festlegt, welche Güter produziert und wie sie verteilt werden. Es soll nur noch verbraucht werden, was auch recycelt werden kann. Mit dem Argument des „Klimaschutzes“ lässt sich praktisch jede ökonomisch rationale Maßnahme ablehnen und jeder Eingriff in den Markt rechtfertigen. Steht der freie Markt, bzw. das, was von ihm noch übrig ist, im Westen vor dem Aus?
Der Ansatz des „Degrowth“, der über beschränkte Ressourcen argumentiert, ist spätestens seit dem menschenfeindlichen Neomalthusianismus von Paul Ehrlich und dessen Wette gegen Julian Simon als weltfremder, ideologischer Unsinn entblößt. Der Interventionismus der Geldpolitik und ein kulturelles Vakuum begünstigen zwar in der Tat Kurzfristigkeit, rein quantitatives Wachstum und Konsumorientierung. Doch planwirtschaftliches Abwürgen würde durch Abnahme von Innovationskraft und Verstärkung von Ressourcenmangel die Situation noch verschlimmern. Eine ärmere Gesellschaft hat auch keine Ressourcen mehr für Umweltschutz, schon gar nicht „Klimaschutz“.
Es stimmt, dass der ideologische Drang zum Interventionismus zunimmt, aber das Polster an Wohlstand, das scheinbar folgenlosen Interventionismus ermöglicht, schwindet. Daher werden sich in Europa und den USA marktwirtschaftlich orientierte Regionen gewiss behaupten und wahrscheinlich relativ stärker dastehen.
8. Wie sollte man als Marktwirtschaftler mit radikalen Klimaschützern argumentieren? Aus deren Sicht bedingen die Endlichkeit der Ressourcen und der angerichtete Schaden durch fossilen Rohstoffverbrauch ein anderes Wirtschaftssystem, das den „Raubbau am Planeten“ und die Erderwärmung beendet. Wie sollte ein Libertärer dem argumentativ begegnen?
Ein Libertärer kann sich das Argumentieren sparen, denn wer schon das ideologische Etikett einer winzigen Splittergruppe auf der Stirn trägt, wird nicht mehr aus der Schublade kommen. Argumente setzen ein gewisses Grundvertrauen und Erkenntnisinteresse voraus. Bei den meisten „Argumenten“ geht es um die Rationalisierung von Interessen.
Klimaschutz ist zum einen Teil das aktuelle Geschütz, das gegen eine vermeintliche Ordnung aufgefahren wird, in der man sich selbst als Verlierer sieht. Zum anderen Teil ist es Ausdruck der Statusgier Privilegierter. Und zum geringsten Teil handelt es sich um die Sorge um langfristige Folgen kurzfristiger Handlungen. Diese Motivationen sind zu unterscheiden, und der größte Motivationsteil ist eher theologisch als ökonomisch oder klimatologisch zu diskutieren. Der kleinste Motivationsanteil reflektiert eher positive kulturelle Werte: geringere Zeitpräferenz, stärkeres Gewissen mit Schuldgefühlen und Universalismus statt Clangebundenheit.
9. Deutschland und die Europäische Union befinden sich momentan offiziell in einer Rezession und auch die Zukunftsaussichten sind eher verhalten. Was wären die entscheidenden Reformen, die Wirtschaftsminister Taghizadegan einleiten würde, um die BRD wieder konkurrenzfähiger zu machen und den Wohlstand nachhaltig zu steigern?
Alles tun, was diejenigen Deutschen, die noch Wohlstand schaffen, vor künftigen Wirtschaftsministern zu schützen vermag – Hindernisse aus dem Weg räumen, Insiderinformationen bereitstellen, Desavouieren des Amts. Ergo reine Fiktion. Reformen kommen aus Leidensdruck, nicht aus vorausschauender Genialität derjenigen, die solche Ämter anstreben.
10. Die Inflation grassiert in den westlichen Ländern seit Ende 2021. Die Zentralbanken erhöhen die Leitzinsen so schnell, wie noch nie zuvor – trotzdem scheint man den Deckel nicht mehr auf den Topf zu bekommen. Dennoch: Die Geldmenge M3 stagniert erstmals seit Jahren wieder. Wird die EZB die Inflation weitestgehend in den Griff bekommen? Welche Auswirkung hat diese neue, eher restriktive Geldmengenpolitik auf Wirtschaft und Bürger?
Die Rolle der Zentralbank wird oft überbewertet. Eine stagnierende Geldmenge bedeutet eine stagnierende Verschuldung. Das ist unangenehm für Schuldner mit variablen Zinsen, für Gläubiger schlechter Schuldner und für Neuschuldner – und somit auch für alle Begünstigten staatlicher Neuverschuldung. Die Mehrheit der Deutschen als Nettoempfänger von Transferleistungen fühlt sich zu Recht in ihren Interessen bedroht. Eine Schuldenreduktion würde jedoch in Richtung stabilerer und gerechterer Verhältnisse weisen.
11. Die „soziale Marktwirtschaft“ steht noch immer hoch im Kurs, und Politiker beziehen sich gerne auf das Konzept, wobei vermutlich jeder etwas anderes darunter versteht. Wie stehst du zur „Sozialen Marktwirtschaft“ und wie würdest sie definieren?
Ein politische Begriffsschöpfung, die ihr Ziel verfehlte: Erhard wollte die „soziale“ Funktion der Marktwirtschaft als Motor eines Wohlstands für alle betonen, doch letztlich führte das Wieselwort in die Interventionsspirale.
12. In Deutschland lautet die politische Antwort auf die meisten Probleme „mehr Staat“. Durch die Politik werden Probleme geschaffen, die anschließend angeblich auch nur durch politische Maßnahmen wieder behoben werden können. Aus diesem Grund dehnen sich die meisten politischen Systeme immer weiter aus (in Deutschland zumeist unterstützt von der Mehrheit der Bürger), und der Repressionsgrad steigt. Wie kann diese politische Interventionsspirale durchbrochen werden, bzw. ist das überhaupt möglich?
Langfristig kann auch die größte Macht nichts gegen ökonomisches Gesetz ausrichten – so die etwas missverständliche Devise von Böhm-Bawerk. Obwohl die Folgen von Interventionen selten korrekt erkannt und meist falsch zugeschrieben werden, haben positive Beispiele am Ende eine starke Wirkung. Die maoistische Interventionsspirale kam zu ihrem Ende, als der “Große Sprung nach vorn” im Vergleich zu Hongkong und Singapur als dramatischer und tödlicher Rückschritt entlarvt wurde.
13. Zum Schluss eine kurze Prognose. Wo siehst du Deutschland und Europa in 10 Jahren? Kontinuierlicher wirtschaftlicher Niedergang oder hast du noch die Hoffnung auf eine marktwirtschaftliche, ökonomische Wende?
Für Deutschland besteht in zehn Jahren wenig Hoffnung, da das kulturelle Kapital noch ausreichend ist, um es vermutlich deutlich länger als ein Jahrzehnt weiter zu verbrauchen. In Europa könnte es allerdings, insbesondere an der Peripherie, in zehn Jahren schon klarere Hoffnungsschimmer geben – möglicherweise in Form von Freihäfen, Inseln als Sonderwirtschaftszonen oder anderen Experimenten. Europäer, einschließlich Deutschen und Österreichern, könnten vielleicht global wieder einen überdurchschnittlichen Beitrag zu einer positiven Wende leisten – auch wenn dies vorerst wahrscheinlich nicht in ihrer Heimat geschehen wird.
Zuerst veröffentlicht in Krautzone 34, August 2023