Im Nachspann der letzten Finanzkrise 2008 kam es zu einem regelrechten Revival von Krisenliteratur, einer Gattung die sich in den 1970er Jahren im Zuge einer real existierenden atomaren Bedrohung durch den Ost-West-Konflikt entwickelt hatte. Zeugen damalige Schriften durch Anleitungen zum Bunkerbau und dem Umgang mit radioaktiver Kontamination von der Verunsicherung der Bevölkerung, geben aktuelle Werke Ratschläge, wie man sich am besten gegen zu erwartende Folgen eines Wirtschafts- und Gesellschafts-Zusammenbruches, wie etwa drohende Verarmung, Hunger und das Aufbrechen von Gewalt, schützen kann.
Zu einer realistischen Einordnung und Bewertung hier vorgestellter Szenarien und feilgebotener Vorsorgestrategien zur Abwendung individuellen Unheils, ist es besonders interessant, auf zeitlich nahe Fallbeispiele ökonomischer Brüche zurückzugreifen. Einige Bezüge neuer Krisenbücher verweisen auf die schwere Wirtschaftskrise Argentiniens, die das Land ab 1998 in Beschlag nahm. Tatsächlich ließ diese mit Stadien bis hin zum Bankenchaos und Staatsbankrott wenig Extremes vermissen. Eine erste Erkenntnis im Rückblick mag sein, dass es dort trotz des Zusammenbruches des Finanzsystems 2001 und hoher politischer Instabilität in Folge weder zu plündernden Menschenhorden noch zu einer breiten Verflachung der Arbeitsteilung hinunter auf das Subsistenz-Niveau kam.
Der Krisenratgeber Surviving economic collapse des Argentiniers Fernando Aguirre wirbt damit, als einziges dieser Bücher Tipps nach persönlichen Erfahrungen aus erster Hand zu geben. Aguirre erlebte die Geschehnisse als Jugendlicher in Buenos Aires und verließ erst 2011 das Land. Auf den ersten Blick mag es bestechen, eine solch unmittelbare Sammlung und Analyse von Problemen und ihrer Bewältigung in der Krise zu erhalten. Oft liefert die Betrachtung einer Quelle jedoch noch kein hinreichend realistisches Bild. Wahrnehmungen könnten verzerrt, verfügbare Informationen selektiv sein; der Zufall, das persönliche Umfeld aber die Interessen und Anreize des Beobachters spielen, bewusst oder unterbewusst, eine Rolle.
Diese Problematik soll im Kontrast etwas analysiert werden: Die Ausführungen von Aguirre sollten mit einem Interview eines weiteren Augenzeugen – kurz: Luis – verglichen werden. Beide Männer sind ähnlich alt, lebten zur betreffenden Zeit in der selben Stadt und arbeiteten sogar beide als Dozenten für die Universidad de Buenos Aires. Trotz augenscheinlicher Parallelen vermitteln die Berichte tatsächlich ein unerwartet gegensätzliches und relativierendes Bild.
Für Aguirre bestätigt sich im weiteren Geschehen die Analyse eines Lehrers aus seinem Sozialwissenschaften-Seminar des Jahres 2001: Argentinien ein kollabiertes Land auf Dritte-Welt-Niveau, das über keine nennenswerte Mittelklasse mehr verfügt, weil deren weitgehende Mehrheit in die große Schicht der Armen abfiel. Ihr Frust nähre die sozialen Unruhen in einer Gesellschaft ohne Puffer zwischen vielen Armen und wenigen Reichen. Ihm fällt auf, dass sich die Zahl der eingeschriebenen Studenten rasch halbiert habe. Wie er annimmt, weil sich ein Studium in vielen Fällen nicht mehr ausreichend auf das Einkommen auswirke, aus Geldmangel oder der Notwendigkeit Familien durch Hinzuverdienst zu unterstützen. Dagegen hatte Luis kaum Klassenbewegungen erlebt. Er erklärt, dass der öffentliche Sektor einen großen Teil der Mittelschicht beschäftigt und dieser wesentlich besser vergütet wurde als der private. Beide sprechen von sich vervielfältigten Obdachlosen. Luis schreibt dies dem großen Schwarzmarkt zu, in dem sich viele Arme mit kleinen Gelegenheitsarbeiten als Tagelöhner verdingen und deren Einkommen Wohnungs-Mietverhältnisse meist kaum noch ermöglichen. Von daher scheint es plausibel, dass die Schockwellen des Konjunktureinbruches unmittelbar auf die Löhne dieses Marktes für simple, austauschbare Tätigkeiten in sich rasch vergrößerndem Angebot, durchschlugen und in Folge viele Mieten nicht mehr bezahlt werden konnten. Der mit der Krise einhergehende Wertverlust der Landeswährung Peso entfachte im Land einen zeitweiligen Produktionsaufschwung, der freilich nicht nachhaltig war, sondern dem klassischen Muster des Konjunkturzyklus folgt. Luis benennt diese Zeit zwischen den Jahren 2005 bis 2009 als ökonomischen Sommer, in dem es sogar weniger Obdachlose als vor der Krise gab. Seither stabilisierte sich die Zahl der Wohnungslosen auf Vorkrisenstand.
Aguirre gibt an, dass sich durch das Abwerten des Peso Lebensmittel um das Zwei- bis Dreifache verteuert haben. Dies hätte in ärmeren Nordprovinzen zu Unterernährung geführt, weil die durch hohe Arbeitslosigkeit erniedrigten Einkommen nicht immer ausgereichten, um die erforderliche Mindestmenge an Kalorien zur Ernährung einer Durchschnittsfamilie kaufen zu können. Von dortigen Lehrern festgestellte Konzentrationsprobleme mancher Schüler seien auf Unterernährung zurückzuführen gewesen, wie sich später herausgestellt hätte. Zu der strategischen Ortswahl verweist er auf die schlechte Ernährungslage in den Städten während Krisen:
Diejenigen, die in den Städten leben, müssen sich so gut wie möglich zurechtfinden. (…) Die Leute haben die Ausgaben gekürzt, wo immer sie konnten, damit sie Lebensmittel kaufen konnten. Einige aßen, was sie konnten; sie jagten Vögel oder aßen Straßenhunde und Katzen, andere hungerten. Wenn es um Lebensmittel geht, sind Städte in einer Krise am schlimmsten dran.
Er spricht von sich leerenden Regalen und rationierten Warenausgaben in den Supermärkten in Buenos Aires während der Hyperinflation und von der Angst, diese könnten völlig schließen und seine Familie ohne Nahrung zurücklassen. Sein bestimmt größter Fehler sei es gewesen, das Lebensmittel-Problem übersehen zu haben und nicht mehr haltbare Nahrungsmittel eingelagert zu haben.
Offenbar scheint er aber selbst keinen Hunger gelitten zu haben und bezieht sich wahrscheinlich auf die später verhältnismäßig stark gestiegenen Kosten dieser Produkte und einen erhofften psychologischen Rückhalt angesichts eines gefüllten Vorratslagers, wie folgende Aussagen zu bestätigen scheinen:
(…) wenn TSHTF [The shit hits the fan], vorbereitet oder nicht, wird man ständig an Essen denken. (…) Wenn man es nicht hat, tut man ALLES, um es zu bekommen, und wenn man vorbereitet ist, macht man sich Sorgen darüber, für die Zukunft mehr zu bekommen.
“The shit hits the fan” ist Prepper-Sprech für die nicht näher definierte Katastrophe, den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Graphisch und vulgär verbreitet sich eine missliche Lage in Windeseile. Zumindest in rationalem Widerspruch erscheint zunächst die Feststellung:
Sobald TSHTF, entstehen überall in kürzester Zeit Schwarz- und Graumärkte.
Eine Deutung dieses Gegensatzes mag die angebotene Zeitperspektive stellen: Es muss erst eine gewisse Spanne von Lernprozessen und Entwicklungsschleifen überwunden werden, bis übrig gebliebenes für sich veränderte Sinnzusammenhänge neu entdeckt, in produktiver Weise rekombiniert und die frischen Strukturen so weit ausdifferenziert und gefestigt sind, dass man ihnen vertraut:
In meinem Land wurden die grauen Märkte am Ende sogar akzeptiert. Zuerst ging es um den Handel mit Fertigkeiten oder um handwerkliche Produkte für Lebensmittel. Bezirke und Städte bildeten ihre eigenen Tauschmärkte und schufen ihre eigenen Gutscheine, ähnlich wie Geld, das für den Handel verwendet wurde. Das hat nicht lange gedauert. Diese Gutscheine waren einfach zu machen (…) und schließlich gingen die Leute zurück zu Papiergeld. Diese Märkte wurden in der Regel (…) von einem klugen Kerl und ein paar Schlägern oder angestellten Sicherheitskräften verwaltet. Jeder kann einen Kiosk in diesen Märkten für etwa 50-100 Pesos (ca. 20-30 Dollar) pro Tag mieten und seine Waren und Dienstleistungen verkaufen. (…) Diese Märkte haben sich weiterentwickelt und es sind nun viele verschiedene Produkte verfügbar. (…) Was gibt es auf einem lokalen Markt? Hauptsächlich Nahrung und Kleidung. Einige haben mehr Abwechslung als andere, aber Käse, Konserven, Gewürze, Honig, Eier, Obst, Gemüse, Bier, Wein und Wurstwaren sind allgemein erhältlich, ebenso wie Backwaren und Teigwaren. Diese sind günstiger als die, die man in Supermärkten findet. Frischer Fisch ist manchmal erhältlich, aber nicht immer, die Menschen vertrauen nicht auf Produkte, die gekühlt werden müssen, und besorgen sie stattdessen in Supermärkten.
Im Interview mit der Frage konfrontiert, ob Luis sich in irgendeiner Weise vorbereitet hätte, wenn er die Wirtschaftskrise vorausgeahnt hätte, antwortet er entschieden mit Nein. Er hätte sich in keiner Weise vorbereitet und auch keine Lebensmittel eingelagert. Er könne sich nicht an Nahrungs-Knappheiten erinnern. Die Mittelschicht habe immer genug zu essen gehabt, sich aber arm gefühlt, weil sie sich plötzlich weniger leisten konnte. So auch Luis: Er musste Freizeitausgaben streichen und brachte es sich bei zu kochen. Für die Armen der Gesellschaft wurden öffentliche Suppenküchen eingerichtet, in denen zumeist linke Parteien kostenlose Mahlzeiten verteilten.
In welchem Ausmaß die Angaben über Hungernde in ärmeren Regionen Argentiniens – zum Teil verweist Aguirre hier auf das Fernsehen als Quelle – belastbar sind oder propagandistisch aufgebläht wurden, müssen wir auf alleiniger Grundlage der herangezogenen Quellen als nicht geklärt akzeptieren.
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