Einer der wenigen klassisch Liberalen der deutschen Geistesgeschichte, der nicht belastet dadurch ist, sich vom Wahn seiner Zeit mitreißen zu lassen, und auch heute noch die Lektüre ohne Ekelgefühle lohnt, ist Wilhelm von Humboldt. Er ist noch in einer weiteren Hinsicht eine seltene Ausnahme: Er war Geistesgröße und Staatsmann zugleich. Während in Frankreich Intellektuelle häufig politische Karriere machten, blieb ihnen in Deutschland der Weg bis ganz oben versperrt – nur als Beamte konnten sie Karriere machen. Auch Humboldt war Beamter, doch als Sektionsleiter konnte er in einer günstigen politischen Situation wie ein Minister agieren. Preußen hatte wieder einmal herabgewirtschaftet und an Reformen schien kein Weg vorbeizuführen. So bietet Humboldt ein idealtypisches Beispiel für die Problematik eines praktischen Liberalismus, die Anreize der Politik und die Tragödie der deutschen Entwicklung.
In seiner brillanten Darstellung dieser Tragödie beschreibt Friedrich Sell die liberale Geisteshaltung des jungen Wilhelm von Humboldt :
In Preußen fand [er] nur prosaische Routine und bedrückende Ausbeutung des Individuums im sogenannten Staatsinteresse; in Österreich sah er eine überstürzte Zwangsbeglückung, von der die Untertanen wenig wissen wollten. Frankreich bot das Schauspiel harter Gewaltsamkeit, überdeckt von liberalen Deklamationen. Die Abschaffung der veralteten Adelsvorrechte hier störte den aufgeschlossenen jungen Edelmann zwar nicht; aber der Raub des Eigentums schien ihm nicht nur die materiellen Interessen seines Standes, sondern auch eines der wesentlichsten Menschenrechte zu verleben. Überdies unterwarf die französische Republik alle menschlichen Beziehungen einer ausschließlich rationalen Regulierung. Von Herder und Goethe hatte Humboldt gelernt, daß Leben und Lebenswerte niemals rein rational sein können. So verschieden nun auch diese Staatswesen untereinander waren, eines hatten sie gemeinsam: sie regierten und regimentierten viel zuviel.
Unter diesem Eindruck verfasste Humboldt sein Hauptwerk mit dem sperrigen Titel „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen”. Dabei trat er – trotz aller bescheidenen Vorsicht, die der Titel nahelegt, entschieden für einen minimalen Nachtwächterstaat ein. Dass die Überdehnung des Staates eine der größten Gefahren der deutschen Entwicklung werden würde, sah er prophetisch voraus. Die militaristischen Junker sollten sich darauf beschränken, Polizei im engsten Sinne zu sein und die Schwächeren, weniger Rücksichtslosen, weniger Vermögenden vor Gewalt zu beschützen – nicht ihnen für politische Abenteuer immer mehr Gewalt aufzubürden. Vor jeder Kriegstreiberei solle sich der Staat in Hut nehmen und Frieden mit seinen Nachbarn anstreben.
Diesen Gewaltapparat ins Leben der Menschen eindringen zu lassen, sich ihres Wohles und Wohlstandes anzunehmen, anstatt bloß friedlich vor der Haustür des Bürgers Wache zu schieben, würde notwendigerweise die Vielfalt verkümmern lassen, die der Hintergrund der deutschen Kulturblüte war. Anstelle persönlicher Initiative würde Bürokratie wuchern. Darum sollte der Staat nicht einmal bei Naturkatastrophen Sonderbefugnisse haben – viel zielführender als Zentralplanung wäre freiwilliges Engagement vor Ort durch gelebte Zivilcourage und Verantwortungsbewusstsein der Bürger. Wesentliche Voraussetzung der Kooperationsfähigkeit sei bloß Schutz und Freiheit freiwilliger Verträge. Das Individuum stellte Humboldt vor die Masse; auch vor der Mehrheit brauche es Schutz:
Das Menschengeschlecht steht jetzt auf einer Höhe der Kultur, von welcher es sich nur durch Ausbildung der Individuen höher emporschwingen kann; und daher sind alle Einrichtungen, welche diese Ausbildung hindern und die Menschen mehr in Massen zusammendrängen, jetzt schädlicher als ehemals.
Eine solche Individualbildung sollte abseits des Staates möglich und erlaubt sein. Ein staatliches Bildungssystem würde die Bildung zerstören, indem diese schematisch und stereotyp würde. Diese frühe Einschätzung hat besondere Brisanz hinsichtlich seiner späteren politischen Karriere. Sie war ihr nicht hinderlich, denn erst sechzehn Jahre nach seinem Tod traute sich ein Verleger über die Publikation. Dann war es für eine liberale Wirkung bereits viel zu spät. Kriege, Hegelianismus und Reaktion hatten den Staatswahn der Deutschen so gesteigert, dass Humboldts Haltung gänzlich unverständlich blieb. Die Schrift des berühmten Mannes wurde interpretiert als jugendliche Phantasie eines abstrakten Theoretikers, die zum Glück durch den späteren Praktiker überwunden worden war. Ein zeitgenössischer „Liberaler” konnte sich gerade dazu herablassen, die an sich guten Prinzipien zu würdigen, nannte die Schlussfolgerungen Humboldts aber überspannt und unrichtig.
Humboldt hatte an der Universität Göttingen studiert, einem Zentrum des deutschen Liberalismus. Der britische Einfluss war dort am stärksten, da damals viele Briten zum Studium nach Göttingen kamen. Eine erste deutsche Übersetzung von Adam Smith wurde dort schon 1777 rezipiert, fand in der Lehre allerdings zunächst keinen Eingang, bis der Privatdozent Georg Sartorius ein Handbuch der Staatswissenschaften nach Adam Smiths Grundsätzen ausgearbeitet hatte. (Sell 1953: 138) In Göttingen studierten junge Adelige für eine Beamtenlaufbahn. So brachte diese Universität auch die Reformer Stein und Hardenberg hervor. Die zweite liberale Universität befand sich am anderen Ende Deutschlands, in Königsberg (heute die russische Enklave Kaliningrad). Der dortige Handelshafen führte ebenfalls zu britischen Einflüssen, Adam Smith und andere Vertreter der schottischen Aufklärung fanden von dort aus stärkere Verbreitung, und der berühmteste Nachkomme einer schottischen Familie sollte einer der wenigen Namensgeber der deutschen Aufklärung sein: Kant.
Wilhelm von Humboldt blieb sein Leben lang liberal eingestellt. Doch seine Staatsskepsis musste sich letztlich am Widerspruch aufreiben, selbst als Vertreter des Staates Karriere zu machen. Doch wie sollte der politisch Denkende auch politisch handeln, ohne Politiker zu werden? Humboldt wählte einen grundvernünftigen Kompromiss, seine politische Praxis war ungewöhnlich maßvoll und daher sehr erfolgreich. Der mittelfristige Erfolg wird leider von langfristigen Folgen überschattet, die wenige erkennen, an denen aber bis heute Deutschland krankt. Leider war Humboldts politischer Erfolg ein Erfolg der Politik. Humboldt ist tot, doch der Staat lebt. Wenn er hätte absehen können, welcher politische und etatistische Wahnsinn noch folgen würde – seine Frühschrift wäre wohl noch radikaler ausgefallen. Hätte er sich der Politik enthalten? Die Einschätzung ist schwierig und zeigt das Dilemma der Politik auf.
Zunächst soll Humboldts Erfolg gewürdigt werden. Wie die Geistesgrößen Goethe und Schiller, oder sein unpolitischer, aber wissenschaftlich viel bedeutsamerer, höchst genialer Bruder Alexander, ist die deutsche Kultur Wilhelm zu größtem Dank verpflichtet. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich, lange vor dem deutschen Wirtschaftswunder, im Zuge des deutschen Kulturwunders, aus einer rückständigen, vielfach als barbarisch verachteten Region eine Hochkultur, die bis heute Standards setzt in Literatur, Musik, Philosophie und Wissenschaft. Wilhelms Leistung war die Entfesselung der deutschen Schaffenskraft im akademischen Bereich.
Als Staatsbeamter versucht Humboldt etwas Paradoxes: einen Freiraum vor staatlichem Zugriff staatlich zu schaffen, zu schützen und zu alimentieren. Er münzt das hohe Prestige des Staatsdieners um in Prestige der Wissenschaft und macht die akademische Berufung dadurch praktisch attraktiv. Dem Staatsapparat macht er klar, dass seine Interessen sich mit Freiheit vereinbaren lassen. So wie sich der Wirtschaftsliberalismus mit preußischer Staatsgeilheit verbinden ließ, da die Steuererträge durch Freihandel und Liberalisierung reicher sprudeln, ließe sich auch Geistesliberalismus verkaufen: Die Freiheit der Lehre und Forschung würde günstige Resultate liefern, die für den Staat Legitimität und letztlich sogar Technik abwerfen. So explizit wurde Humboldt hier freilich nie, womöglich hat er die letzte Konsequenz seines Wirkens nicht absehen können – oder der faustische Handel war es ihm wert.
Der Staat, so hoffte Humboldt, würde als neutrale Instanz den Freiraum der Akademiker erhalten und eine Elitenbildung ermöglichen. An staatliche Volksschulen dachte er nie. Schon das preußische Gymnasium richtete sich nur an eine kleine Elite, die humanistische Philosophie auf selbstlosen Dienst für Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft vorbereiten würde. So wirklich selbstlos können freilich besoldete Staatsposten nie sein – allerdings war unter Humboldt auch Dimension und Karrieremöglichkeit noch eng beschränkt. Vielmehr motivierten zunächst das Prestige und die Freiräume tatsächlich zu Selbstlosigkeit, geniale junge Männer strebten der Wissenschaft zu. Die paradoxe Dynamik, die der Wissenschaftsbetrieb entwickelt, habe ich schon in dieser Scholie beschrieben und möchte das Argument nun noch etwas mithilfe der Beobachtungen von Friedrich Sell ergänzen:
Die Objektivität der experimentalen Wahrheitserkenntnis verdrängte alle Erinnerungen an Kants Kritik der reinen Vernunft. Objektive, nicht subjektive Wahrheit war das Ideal. Die Geisteswissenschaften folgten dem Beispiel der Naturwissenschaften. Die philosophische Spekulation, wie es sein könnte, machte der Analyse Platz, wie es ist, wie es war und warum es so war. So rückte in den Geisteswissenschaften die Geschichte überall in den Vordergrund.
Zunächst hatte die neue Freiheit und das neue Prestige unglaublichen Erfolg. Die größten Historiker der Welt kamen aus Deutschland, Namen wie Ranke, Mommsen, Curtius, Niebuhr und Grimm. Auch in den Naturwissenschaften erreichten Deutsche große Höhe. Sogar aus den fernen USA kamen Tausende Studenten, und die US-Universitäten nahmen sich Deutschland zum Vorbild. Die Objektivität und Fachkenntnis der Deutschen wurden in aller Welt gerühmt. Doch die Spezialisierung hatte schwerwiegende Folgen:
In der Naturwissenschaft war sie vernünftig und brachte Resultate, die immer verwendbar waren. In den Geisteswissenschaften konnte sie dazu führen, daß man den großen Überblick verlor und immer seltener imstande war, eine großangelegte Allgemeingeschichte zu schreiben, die in allen Teilen auf eigener Erkenntnis beruhte. […] Die Einsicht, wie sehr sich die Wertmaßstäbe im Lauf der Zeit ändern, wie sehr wir selbst von dem Geist der unsrigen abhängen, wurde immer stärker und führte zu dem Schluß, daß es nur relative, aber keine absoluten Werte gäbe. Das war Relativismus, und dieser Relativismus wurde der Hauptzug jener Einstellung, die man Historismus zu nennen pflegt. […] Viel hat er zum Verständnis der Menschen untereinander beigetragen, größer noch waren die Gefahren, die er in sich barg. Daß er leicht zum antiquarischen Spezialistentum führte, über das Nietzsche sich so aufregte, war eine der geringsten. Von um so größerer Bedeutung waren zwei andere, die Lähmung des sittlichen Wollens und der Antrieb zum sittlichen Umsturz. […] Hatten sich Werte in der Vergangenheit geändert, so konnte das doch auch in der Gegenwart geschehen. Man übersah, daß früher Wandlungen von unten her, aus den Bedürfnissen des Menschenlebens sich langsam entwickelt hatten. Anstatt dessen stellte man nun leidenschaftliche Programme zur Umwertung aller Werte auf. Nietzsche und Karl Marx haben dazu den Anstoß gegeben.
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