Die steigende Wut über die Verhältnisse weckt so manche Widerstandsgeister. Es brodelt, aber noch regt sich wenig. Der meiste Unmut lässt sich parteipolitisch kanalisieren. Sollte das nicht mehr gelingen, weil die Wahlergebnisse außerhalb des „Verfassungsbogens” gedeutet werden oder die Politikverdrossenheit zu einer Systemverdrossenheit wird, mag die Frage des Widerstands und der Trennlinie zwischen legitimer und illegitimer Herrschaft wieder aufkommen. Der sanfteste Widerstand ist passiv und defensiv. Es ist der individuelle Ungehorsam, der sich weigert, in eine falsche Richtung hinterherzutrotten.
Henry David Thoreau beschrieb in seiner berühmten Schrift von 1849 eine Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Diese Pflicht hat laut Thoreau den Preis, sich manchmal gegen Vermögensaufbau und weltlichen Erfolg entscheiden zu müssen:
Auch wenn ich mich mit dem freisinnigsten meiner Nachbarn unterhalte, stelle ich fest: was sie auch über die Bedeutung und den Ernst der Frage, über ihre Rücksicht auf die öffentliche Ruhe sagen mögen – die Sache läuft immer darauf hinaus, daß sie auf den Schutz der Regierung nicht verzichten wollen und sich vor den Folgen des Ungehorsams für ihr Eigentum und ihre Familie fürchten. Was mich betrifft, ich glaube nicht, daß ich mich je auf den Schutz des Staates verlassen werde. Wenn ich aber diese Staatsgewalt abweise, sobald sie mir die Steuerrechnung präsentiert, dann wird mir sofort mein Eigentum genommen, und ich und meine Kinder werden endlos gequält. Das ist hart. So wird es dem Menschen unmöglich gemacht, ehrlich zu leben und zugleich angenehm, was die äußeren Dinge anbetrifft. Es lohnt sich eben nicht, Eigentum zu erwerben, es würde sehr bald wieder verloren sein. Man muß irgendwo taglöhnern oder pachten, muß eine möglichst kleine Ernte ziehen und sie bald aufessen. Man muß für sich leben, sich nur auf sich selbst verlassen, immer das Bündel gepackt haben und bereit sein, fortzugehen, und nicht viele Geschäfte in Gang haben. Es kann einer auch in der Türkei reich werden, wenn er in jeder Hinsicht ein guter Untertan der türkischen Regierung sein will. Konfuzius sagte: „In einem Staat, der nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, wird man sich für Elend und Armut schämen; in einem Staat, der nicht nach den Grundsätzen der Vernunft regiert wird, schämt man sich für Reichtum und Ruhm.” Nein: solange ich nicht den Schutz des Staates Massachusetts in irgendeinem südlichen Hafen wünsche, wo meine Freiheit gefährdet ist, oder solange ich nicht darauf aus bin, mir hier durch friedliche Unternehmungen ein Vermögen aufzubauen, kann ich es mir leisten, dem Staat meine Loyalität und das Recht auf mein Eigentum und Leben zu verweigern. Mich kostet es in jeder Hinsicht weniger, die Strafe für Ungehorsam gegen den Staat anzunehmen, als wenn ich gehorchen würde. Im zweiten Fall käme ich mir ärmer vor.
Die US-amerikanische Autorin Claire Wolfe versuchte sich an dieser Problematik mit bitterernstem Humor. Wolfe schrieb über die USA und für das dortige Publikum. Der Unterschied zur europäischen Lage liegt bloß in Nuancen, der Unterschied des Publikums aber ist beträchtlich. Sie schrieb für „libertäre Revolutionäre“. Für Wolfe sind die USA bereits am besten Wege zu einem „Faschismus” – um das in den USA beliebte, aber etwas irreführende Etikett für einen militaristisch-autoritären Überwachungsstaat zu übernehmen. Bereits fast sprichwörtlich ist Wolfes originelle Lagebeurteilung:
Amerika befindet sich auf jener ungünstigen Stufe. Es ist zu spät, um innerhalb des Systems zu wirken, aber zu früh, um die Arschlöcher zu erschießen.
Eine denkbar blöde Situation: An eine Revolution ist noch nicht zu denken, doch angehalten werden kann der Zug auch nicht mehr. Claire Wolfe bot als Hilfestellung dazu „101 Things to Do ’Til the Revolution” bzw. in einer überarbeiteten Fassung „179 Dinge, die man vor der Revolution tun kann“. Der jüngere Titel gab die Losung aus: „The Freedom Outlaw’s Handbook” – in etwa: Handbuch für die Gesetzlosen der Freiheit.
Gesetzlos? Claire Wolfes Gedanke ist folgender: Wenn sich der Staat in Richtung Totalitarismus bewegt, werden Dinge wie Dissens, Eigeninitiative, private Laster und andere vollkommen rechtmäßige Aktivitäten zu gesetzlich verfolgten „Verbrechen”. Je totalitärer der Staat, desto mehr macht einen das Streben nach Freiheit zum Gesetzlosen. Wie bleibt man in einer solchen Situation bei Verstand und am Leben?
Jeder auf seine Weise. Claire Wolfe skizziert drei verschiedene Strategien für drei verschiedene Lebensentwürfe, die sie als die drei „DisOrders” bezeichnet. Erstens der „Agitator” – jener risikobewusste Pionier, der das System offen kritisiert und herausfordert, Demonstrationen und Aktionismus organisiert und dafür sogar Haft in Kauf nimmt. Zweitens der „Geist“, der im Stillen Ungehorsam übt und Zweifel weckt. Hierbei legt Wolfe das Gewicht auf zwei Taktiken: jene der „aktiven Non-Kooperation” und jene des „Monkey-Wrenching“, zu Deutsch: Sand ins Getriebe streuen. Drittens schließlich der „Maulwurf”, der innerhalb der konventionellen Strukturen agiert und diese Lage nützt, um jene außerhalb der Strukturen zu unterstützen oder gar Sabotage zu betreiben. Letzterer Lebensentwurf sei aufgrund der korrumpierenden Anreize des Systems allerdings etwas unwahrscheinlicher.
Sympathisch an der amerikanischen Tradition, in der Wolfe steht, ist der individualistische Ungehorsam, etwas bedenklich die Revolutionsrhetorik. Allfälliges europäisches Naserümpfen über solche Bedenklichkeit wird aber durch die Geschichte relativiert: Während die kontinentalen Revolutionen meist im Genozid endeten, war die amerikanische Revolution eigentlich eine antidespotische „Konterrevolution”, wie Peter Drucker ausführt:
Die amerikanische Revolution beruhte auf Prinzipien, die völlig im Gegensatz zu jenen der [kontinentalen] Aufklärung und Französischen Revolution standen. Ihre Absicht und Folge war eine erfolgreiche Gegenbewegung gegen den rationalistischen Despotismus der Aufklärung […]. Weit davon entfernt, eine Revolte gegen die alte Tyrannei des Feudalismus zu sein, war die amerikanische Revolution eine konservative Gegenrevolution im Namen der Freiheit gegen die neue Tyrannei des rationalistischen Liberalismus und des aufgeklärten Despotismus.
Wolfe beschrieb letztlich in weiten Teilen das, was der amerikanische Anarchist Samuel Edward Konkin III. Gegenökonomie (Counter-Economy) nannte. Seine Definition lautete wie folgt:
Die Gegenökonomie ist die Summe aller nichtaggressiven menschlichen Handlungen, die durch den Staat verboten sind. Gegenökonomik ist das Studium der Gegenökonomie und ihrer Praktiken. Die Gegenökonomie umfasst den freien Markt, den Schwarzmarkt, die „Untergrundwirtschaft“, alle Akte zivilen und sozialen Ungehorsams, alle Akte verbotener Vereinigung […] und alles sonstige, was der Staat zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort zu verbieten, kontrollieren, regulieren, besteuern oder verzollen gedenkt. Die Gegenökonomie schließt alle staatlich genehmigten Handlungen (den „Weißmarkt”) und den „Rotmarkt” (nicht durch den Staat genehmigte Gewalt und Diebstahl) aus.
Revolutionär wirkt hierbei nicht kollektive Gewalt, sondern individuelle Gewaltlosigkeit. Die Gegenökonomie bietet eine mögliche Antwort auf Thoreaus Dilemma, es ist aber eine riskante und schwierige. Schließlich setzt das Wirtschaften Netzwerke voraus, was es doch inhärent politisch macht – und nach Gemeinschaften des Vertrauens sehnen lässt. Hier ist auch der Haken der Gegenökonomie: sie benötigt Vertrauen, weist aber keinen politischen Weg, solch Vertrauen zu stiften, ist also „vertrauenskonsumptiv”. Wolfes Weg, mit seiner augenzwinkernden Lynchrhetorik, drängt bei allem Individualismus ebenso zu Netzwerken, denn die Sandkörnchen im Getriebe geben bald frustriert auf, wenn sie sich nicht als ein Haufen fühlen können. Wirklichen Widerstand entfalten dann meist nur Spinner, die sich in Sektengewissheiten einlullen und fiktiven Haufen zurechnen. Ihre Entfernung von der Realität lässt den Ungehorsam allerdings wirkungslos verpuffen.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.