Der Neokortex ist der modernste Bereich unseres Großhirns und dient höheren kognitiven Funktionen. Er arbeitet stetig daran, Modelle der Welt zu schaffen und diese mit Sinneseindrücken zu vergleichen. Interessanterweise unterscheidet sich dieser Aspekt menschlicher Intelligenz nicht grundlegend von den „token predictors“ der künstlichen Intelligenz. Unsere Vorhersagen sind jedoch nicht vollständig durch vorherige Elemente vorbestimmt. Alternative Vorhersagepfade und außerrationale Elemente wie Emotionen, Intuitionen und Zufälligkeiten können stets in die Quere kommen.
Hier liegt eine menschliche Stärke, die uns von den eigenen Modellen emanzipieren hilft. Ihr Preis ist eine unvermeidliche Schwäche: Der nicht rationale Teil kann auch zum Festhalten an Modellen führen, die der Realität widersprechen. Unrealistische Modelle führen zu Erwartungen, die früher oder später durch Erfahrungen enttäuscht werden können – aber nicht müssen. Schließlich ist unsere Umwelt so komplex, dass Handlungen, Ergebnisse und Wahrnehmungen dieser Ergebnisse nicht immer direkt miteinander zusammenhängen.
Die grundlegendsten Modelle bezeichnen wir als Weltbilder. Sie ermöglichen es uns, auch jenseits der direkten Wahrnehmung geistige Eindrücke und Vorhersagen zu nutzen. Oft ist das, was wir nicht direkt wahrnehmen, viel wichtiger für unser Überleben. Die kognitive Trennung der Geistesinhalte von der Realität birgt jedoch die Gefahr, dass die Modelle ihre Ausrichtung an der Realität verlieren und stattdessen andere Funktionen übernehmen.
Eine wichtige Funktion ist die Ausbildung gemeinsamer Identitäten. Dabei versucht unser Neokortex das sozial erwünschte nächste Element einer Kette von sprachlichen oder geistigen Inhalten vorherzusehen, um damit das Einpassen in gemeinsame Weltbilder zu überprüfen. Die soziale Anerkennung der passenden Assoziationen belohnt Lernprozesse, die Vertrauen schaffen und die Grundlage für Kooperation bilden. Das Bilden solcher Weltbilder ähnelt dem gemeinsamen Musizieren, wobei der richtige Ton getroffen werden muss, um sich harmonisch einzufügen.
Wenn die soziale Integration scheitert, können alternative Weltbilder eine Zuflucht bieten. Sie machen es erträglich, nicht immer Mitläufer zu sein. Sie bieten aber auch Entschuldigungen für eigenes Versagen, indem sie die Welt narzisstisch zurechtdeuten. In Persönlichkeitsstörungen nabeln sich Weltbilder oft von der realen und der sozialen Welt ab. Innere Schuldgefühle und kognitive Dissonanzen werden durch Schuldprojektionen zugedeckt. Das geht bis zum Hass auf die Welt: Macht kaputt, was euch kaputtmacht!
Auch „libertäre“ Weltbilder können soziale und asoziale Nebenfunktionen haben. Die sozialen sind geteilte Identitäten, die wunderbare Freundschaften und Vertrauensstrukturen hervorbringen können. Die asozialen bestehen in der Empörung über äußere Umstände, was entlastet, weil wir auf diese Umstände kaum Einfluss haben und daher aus der Verantwortung entlassen sind. Besonders dankbare Ablenkung von inneren Schuldgefühlen bietet dabei die inkompetente und moralisch verlotterte Politikerkaste. Das Schimpfen auf die Politiker eint im Verdruss über die Lebensumstände. Es fällt leicht, weil es rational völlig gerechtfertigt ist. Emotional führt es aber in die Irre, weshalb populistische Parteien oft Sammelbecken der gesellschaftlichen Verlierer werden.
Schlechte Strukturen können zwar zum Scheitern der Besten und zum Erfolg der Schlechtesten führen. Überlagert und leider kaum unterscheidbar ist dies aber vom Scheitern durch das Festhalten an schädlichen Modellen und Identitäten sowie unkooperativen Charakterzügen. In einer komplexen Wirtschaft ist ohne Kooperation der Spielraum für Erfolg meist begrenzt, es sei denn, eine besondere Begabung trifft auf Glück und passt zufällig ohne eigenes Zutun in das wirtschaftliche Getriebe.
Die Weltbilder von „Außenseitern“ sammeln aus diesen Gründen überproportional viele Verlierer und schräge Charaktere, die entzückende Menschen sein können, aber doch die mangelnde Wirksamkeit der eigenen Weltbilder als selbsterfüllende Prophezeiung hervorbringen. Dann darf auch nichts gelingen, denn es könnte unter Druck setzen, sich wirklich der Welt zu stellen und das eigene Scheitern eingestehen zu müssen.
Die gute Nachricht ist: Einige geteilte Weltbilder stehen näher an der Realität als andere. Bestimmte Subkulturen drehen sich um kognitive oder praktische Aktivitäten, die über die Wiedergabe des Kanons einer Phantasiewelt hinausgehen. Solche Aktivitäten sind entweder direkt mit realitätsbezogenen Spielen verknüpft oder schätzen diese als lohnende Beschäftigungen. Oft haben solche Spiele mit Technologie zu tun, etwa bei den Subkulturen der Hacker oder Cypherpunks.
Beim „libertären“ Weltbild ist dieses realitätsnahe Spiel Unternehmertum. Der unternehmerische Erfolg ist in einem derart verzerrten Marktumfeld inmitten eines verzerrten Geldsystems zwar nicht per se ein Ausweis für Klugheit oder Charakter. Doch auch verzerrte Märkte bringen eine Disziplin in das Spiel, die über innere Spielregeln weit hinausgeht. Durch die Orientierung an der konkreten Umwelt tendiert Unternehmertum dazu, den Realitätssinn zu stärken und zu belohnen.
„Realismus“ dient jedoch oft nur als Deckmantel für die Anpassung an das aktuell Machbare. Viele sogenannte „Realisten“ sind eigentlich defätistische Mitläufer. Leider können auch irreführende, aber geteilte Weltbilder nützlich sein. Sie sind besonders hartnäckig, da sie vorübergehenden Erfolg ermöglichen, selbst in zum Scheitern verurteilten Systemen, deren Untergang oft erst weit in der Zukunft liegt.
Unternehmertum, das Tragen von Ungewissheit durch das Antizipieren oder Gestalten einer abweichenden Zukunft, fördert die wichtigste Form des Realismus: nicht bloß ein Gespür für das zu haben, was ist, sondern auch für das, was sein wird. Weltbilder, die Unternehmertum verteufeln, verlieren einen wichtigen Sinn – den für die Realität.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.