Der Iran weckt Hoffnungen und Ängste. Die Regionalmacht gilt Israel und Saudi-Arabien als grösste Bedrohung, mischt in Syrien und im Libanon militärisch mit und findet sich auf der «Achse der Bösen» als alter Intimfeind der USA. Zugleich ist das wirtschaftliche Potenzial des Landes groß, weite Teile der Bevölkerung wünschen sich eine Öffnung, und Besucher schwärmen von der Gastfreundschaft und der Aufgeschlossenheit der Iraner.
Die Entspannung nach dem Atomabkommen führte zu einem langsamen Rückbau der Sanktionen und zu einer Vervielfachung der Investitionen in das Land. Ist der Iran eine düstere, totalitäre Theokratie? Oder dank gut ausgebildeter, weltoffener Menschen eine der lukrativsten Anlageregionen der Welt? Beim Versuch einer Antwort zeigt sich die überraschende Komplexität des Landes. Beide Einordnungen sind im Kern richtig, doch beide übertrieben.
Die Islamische Republik Iran entstand auf der Grundlage einer schiitischen Häresie. Die «rote Schia» ersetzte die traditionell quietistische Richtung mit einer revolutionär-antiimperialistischen Ideologie. Die Schia – in der islamischen Welt abgesehen vom Iran stets verfolgte Minderheit – sollte symbolisches Bekenntnis aller Entrechteten und Verfolgten der Welt werden. Bestärkt wurde der antiimperialistische Verfolgungswahn durch den realen US-Interventionismus, als das aus Zynismus und Ahnungslosigkeit geborene Unheil begann, das den Nahen Osten auf Dauer zerrütten sollte.
Eine aktive Intervention der CIA förderte den Sturz einer gewählten, national orientierten Regierung und liess den Schah als westliche Marionette erscheinen. Gegen das autoritäre Schah-Regime erwies sich allein die verheerende Mischung aus Religion und Antiamerikanismus als stark genug. Als Saddam Hussein den nachrevolutionären Trubel ausnutzen wollte, um als damals noch US-gestützter Militärdiktator dem Iran Ölfelder abzuringen, entfaltete islamischer Fanatismus im Iran seine beeindruckende militärische Potenz. Im ungeheuren Blutbad des Iran-Irak-Kriegs wurde auch die iranische Opposition ausgeschaltet und die Macht der Politmullahs zementiert.
Dabei war die Islamische Republik gar nie so islamisch, wie sie tat. Führende schiitische Geistliche kamen unter Hausarrest, Khomeini selbst und sein Nachfolger Khamenei sind politisch ernannte Ajatollahs. Der letzte schiitische «Papst», der von allen anderen Grossajatollahs als Quelle der Nachahmung anerkannte Husain Borujerdi, warnte: «Wir, die Geistlichkeit, sollen einen islamischen Staat gründen? … Wir wären hundertmal grössere Verbrecher als die, die jetzt an der Macht sind.» Khomeinis Lieblingsschüler, einige seiner Kinder und Enkel äusserten ebenso scharfe Kritik am Regime. Doch Khomeini gehört zu den Nationalheiligen, den Vorkämpfern nationalistischer Unabhängigkeit – die unerlässliche Legitimation von Regimes.
Auch die heutigen Reformer im Iran beziehen sich auf Khomeini, werden von seiner Familie und engsten Weggefährten unterstützt. Khomeini wurde nach seinem Tod zur Ikone – und die Einschätzungen gehen auseinander, ob der Nationalheilige geirrt hat und Irrtümer selbst noch erkannt haben könnte. Sowohl Reformer als auch Hardliner schreiben alle aktuellen Missstände manch schlechten und korrupten, namentlich nicht konkretisierten Nachfolgern Khomeinis zu.
Der politische Missbrauch der Religion und das miserable Resultat des Experiments «Islamischer Staat», das entgegen den Versprechungen weder Freiheit noch Wohlstand für die Masse brachte, führte zum Paradoxon, dass der Iran heute einer der säkularsten Staaten der Region ist. Immer mehr junge Menschen wenden sich vom Islam ab und haben für die Politmullahs nur Spott übrig. Als Gegenreaktion bestätigen sie dabei aber die schlimmsten Befürchtungen: Atheismus, Hedonismus und global-amerikanische Konsumkultur wirken umso attraktiver, da verpönt.
Die wirtschaftliche Öffnung wird über das verzerrte dollardominierte Geldsystem unserer Tage solche Gegensätze noch verstärken, da vor allem der hochskalierte Konsumismus begünstigt wird. Ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Dynamiken wird das zu neuen antiamerikanischen und antiliberalen Schuldzuschreibungen führen. Darum bleibt die Öffnung des Irans ein Drahtseilakt, der von der Sehnsucht der Iraner nach Freiheit und Wohlstand getrieben ist, aus Angst der herrschenden Kräfte, zu denen auch die Reformer als notwendiges Ventil zählen, aber jederzeit abgewürgt werden könnte. Das macht Investitionen in den Iran zu einer hochriskanten Angelegenheit – aber ohne hohes Risiko gäbe es auch keine Rendite, da die grenzenlosen Geldmengen unserer Zeit schon alles abgegrast hätten.
Verstärkt wird das inneriranische Risiko nun aber durch Donald Trumps aus Obama-Opposition geborenen Antiiranismus, der sich perfekt in die neokonservative Achse mit Saudi-Arabien fügt und daher freie Bahn erhält. Trump bestätigt die alte iranische Sorge, von den USA stets verraten zu werden. Den Iran, nicht aber Saudi-Arabien in einem «Muslim Ban» zu inkludieren, der antiterroristisch legitimiert wird, zeigt eben genau die Mischung aus Ahnungslosigkeit und Zynismus.
Zum Glück haben sich im Iran die populistisch-antiamerikanischen Kräfte weitgehend totgelaufen. Sogar Khamenei ging bereits auf Distanz zu den Kräften um Ahmadinejad, um seine wackelige Legitimität nicht weiter zu gefährden. Letzterer hatte auf Umverteilungspopulismus gesetzt. Da dieser aber keinen Massenwohlstand generieren kann, gefährdete er die Regimegrundlagen, denn die iranische Wirtschaft ist heute in den Händen der steuerbefreiten Stiftungen der paramilitärischen Revolutionsgarden konzentriert und weist damit systemische und dramatische Ungleichheiten auf.
Die Aggressivität des schiitischen Islamismus nach Khomeini war weitgehend rhetorisch – die US- und Israelfeindschaft sollte die Führerschaft des Irans in der islamischen Welt unterstreichen, die lange von westlichen Vasallen dominiert war. Im Libanon konnte der Iran sogar den einzigen militärischen Erfolg des politischen Islams gegen Israel für sich beanspruchen – die Hisbollah bewegte mit iranischen Waffen und islamistischer Märtyrerideologie Israel zum Rückzug aus dem Südlibanon, das dieses als Pufferzone betrachtete. Seit der US-Interventionismus die iranische Dominanz paradoxerweise noch verstärkt hat, kam es zu einer saudischen Gegenreaktion, die wahhabitisch-sunnitischen Islamismus dem Vorbild des Irans folgend zur geopolitischen Einflussnahme mißbraucht.
Die meisten Opfer islamistischer Terrorakte sind heute Schiiten. Das drängt den schiitischen Islamismus zu einer konzilianteren und ökumenischeren Taktik. Die westliche Allianz (ALV 192.26 -0.61%) mit den Saudis ist für die Iraner unverständlich; sie haben nun einen Anreiz, sich als moderatere, berechenbarere, tolerantere Muslime darzustellen. Für drakonische, «hadithische» Strafen gilt im Iran de facto ein Moratorium, die Todesstrafe wird fast nur noch durch Hängen und überwiegend für Kapitaldelikte (Mord oder Vergewaltigung) vollzogen, wobei es die iranische Justiz den bei der Exekution anwesenden Angehörigen der Opfer erlaubt, dem Täter zu vergeben.
Vergebung wird auch der einzige Weg nach vorne für den Iran sein. Im Dilemma zwischen zynisch-ahnungslosem Westen und reaktionärem Islamismus könnte die iranische Identität aufgerieben werden. Im Iran könnte aber auch eine Synthese gelingen durch die Wiederentdeckung eines quietistischen Islams, der nicht fatalistisch ist, sondern Raum für bürgerliches Engagement lässt. Das wäre jedes Investitionsrisiko allemal wert.
Zuerst erschienen bei: Finanz und Wirtschaft