Ein Peter Scholl-Latour zugeschriebenes Zitat bringt die Sorge vieler Europäer auf den Punkt, dass Immigrantenghettos bald zu Slums werden könnten – und sich europäische Städte durch die Massenmigration nach und nach indischen angleichen könnten: Rund um Zentren des Wohlstands drängen sich die Armen in Elendssiedlungen, die als Keimzellen der Kriminalität und Krankheit und Fanale der Ausbeutung angesehen werden. Wie die meisten populären Zitate hat auch dieses – entstellt und ohne Quelle – ein Eigenleben, das durch das Ableben des vermeintlichen Autors noch angefacht wurde. Scholl-Latour soll geschrieben haben:
Wer halb Kalkutta aufnimmt, rettet nicht Kalkutta, sondern der wird selbst Kalkutta.
Das hat er freilich nirgends und niemals geschrieben. Die einzige Quelle ist der lose Bezug auf eine Diskussionsveranstaltung mit Scholl-Latour durch Bassam Tibi in einem seiner Bücher. Scholl-Latour soll dabei laut Tibi ungefähr den Satz geäußert haben: „Wer Kalkutta einführt, wird selber zu einem Kalkutta.” Der damalige Minister Klaus Kinkel habe „diesen, in der Tat zum Nachdenken veranlassenden Satz reflektierend” aufgenommen.
Die Assoziationen rund um das Zitat sind verzerrt durch eine falsche Vorstellung von Slums und deren Gleichsetzung mit „Ghettos“, bzw. Vierteln hoher Zuwandererdichte. Tatsächlich sind etwa die Vorstädte von Paris, die Paradebeispiele dieser modernen Form der Zuwandererghettoisierung sind, in mehrfacher Hinsicht das glatte Gegenteil von Slums. Auch mit historischen Ghettos haben diese Problemviertel eigentlich wenig gemeinsam. Ghettos und Slums weisen in der Regel funktionelle Sozialstrukturen auf. Problemviertel sind hingegen durch „Sozialpolitik” gekennzeichnet, was in aller Regel negativ mit wirklichen Sozialstrukturen korreliert. Diese Problemviertel sind meist Planungsresultate; sie entstehen aus dem Versuch, staatlichen Wohnraum mit staatlichen Strukturen zu verbinden und damit künstliche „Gemeinschaften” zu kreieren. Sehen wir uns einige offensichtliche Unterschiede zu „Slums” näher an.
In Slums gibt es praktisch keine Arbeitslosigkeit. Der Alltag ist geprägt von reger, unternehmerischer Geschäftigkeit. Die Innovationen der Bewohner sind oft beeindruckend; sie bestehen in Lebenskunst unter schwierigsten Bedingungen, in der Genialität, aus sehr wenig ein bisschen mehr zu machen. Slums sind Durchgangsstationen sehr hoher sozialer Mobilität. Wenige verbleiben dort ihr Leben lang. Arme ziehen freiwillig vom Land in die Nähe der Städte, um dort an Märkten zu partizipieren und bescheidenen Wohlstand aufzubauen. In den Slums gibt es praktisch keine wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, aber auch kaum Steuern oder Gebühren, keine staatliche Infrastruktur, aber auch kaum Regulierung, keine Gerichte, aber auch kaum Polizei.
Dabei zeigen Slums eine frappierende Ähnlichkeit zu den Siedlungen rund um die frühen Industriestädte in Europa, insbesondere England. Eine dieser Städte ist berüchtigt geworden als Paradebeispiel für Elendssiedlungen: Manchester. Damals gab es sogar schon eine „Zuwandererproblematik” – und der Begriff Slum wurde geprägt. Über die Zuwanderer rümpften viele die Nasen. Ein berühmter Vertreter der vermeintlichen „Linken” zitierte damals einen (damals, heute kaum noch) berühmten Vertreter der vermeintlichen „Rechten” und stimmte ihm in seinem Urteil weitgehend zu: Die Zuwanderer waren nicht integrierbare Barbaren, minderwertige, schmutzige Menschen, die prototypisch für die Verkommenheit der Slums standen. Bei diesen Zuwanderern handelte es sich um Iren. Slum kommt vom gälischen Wort Lom, (ausgesprochen wie englisch lum), das nackt und blank bedeutet. Das S davor ist eine Kontraktion von is, damit stellt Slum eine entgeisterte Feststellung dar über die armen Iren, denen oft sogar das letzte Hemd fehlte. Der berühmte „Linke” seiner Zeit, Friedrich Engels, beschrieb diese Slumbewohner so:
Der Irländer hatte daheim nichts zu verlieren, in England viel zu gewinnen […]. Diese Leute, fast ohne alle Zivilisation aufgewachsen, an Entbehrungen aller Art von Jugend auf gewöhnt, roh, trunksüchtig, unbekümmert um die Zukunft, kommen so herüber und bringen alle ihre brutalen Sitten mit herüber in eine Klasse der englischen Bevölkerung, die wahrlich wenig Reiz zur Bildung und Moralität hat. Diese irischen Arbeiter […] nisten sich überall ein. Die schlechtesten Wohnungen sind übrigens gut genug für sie; ihre Kleider machen ihnen wenig Müh, solange sie nur noch mit einem Faden zusammenhalten, Schuhe kennen sie nicht; ihre Nahrung sind Kartoffeln und nur Kartoffeln – was sie drüber verdienen, vertrinken sie, was braucht ein solches Geschlecht viel Lohn? Die schlechtesten Viertel aller großen Städte sind von Irländern bewohnt; überall, wo ein Bezirk sich durch besondern Schmutz und besondern Verfall auszeichnet, kann man darauf rechnen, vorzugsweise diese keltischen Gesichter anzutreffen, die man auf den ersten Blick von den sächsischen Physiognomien der Eingebornen unterscheidet […]. Die Mehrzahl der Familien, die in Kellern wohnen, sind fast überall irischen Ursprungs. Kurz, die Irländer haben es herausgefunden, […] was das Minimum der Lebensbedürfnisse ist, und lehren es nun den englischen Arbeitern. Auch den Schmutz und die Trunksucht haben sie mitgebracht. Diese Unreinlichkeit, die auf dem Lande, wo die Bevölkerung zerstreut lebt, nicht soviel schadet, die aber dem Irländer zur andern Natur geworden ist, wird hier in den großen Städten durch ihre Konzentration erst schreckenerregend und gefahrbringend. Wie es der Milesier [Ire] zu Hause gewohnt war, schüttet er auch hier allen Unrat und Abfall vor die Haustüre und bringt dadurch die Pfützen und Kothaufen zusammen, die die Arbeiterviertel verunzieren und ihre Luft verpesten. […] Und was dabei für ein Schmutz, für eine Unwohnlichkeit in den Häusern selbst herrscht, davon kann man sich keine Vorstellung machen. […] Der südliche, leichtsinnige Charakter des Irländers, seine Roheit, die ihn wenig über einen Wilden stellt, seine Verachtung aller menschlicheren Genüsse, deren er eben wegen dieser Roheit unfähig ist, sein Schmutz und seine Armut, alles das begünstigt bei ihm die Trunksucht – die Versuchung ist zu groß, er kann ihr nicht widerstehen, und sowie er Geld bekommt, muß er’s durch die Kehle jagen. […] Mit einem solchen Konkurrenten hat der englische Arbeiter zu kämpfen – mit einem Konkurrenten, der auf der niedrigsten Stufe steht, die in einem zivilisierten Lande überhaupt möglich ist, und der deshalb auch weniger Lohn braucht als irgendein andrer. Engels, 1845: 320ff
Der preußische Kapitalistensohn Engels spricht hier für den Mittelstand, der sich vor dem Lohndruck durch Emporkömmlinge ängstigt. Hätte er die Macht gehabt, gerne hätte er die Iren in Ghettos gesperrt, in Problemviertel, in denen sie der Staat mit „Sozialleistungen” abspeist, während er ihnen die meisten unternehmerischen und angestellten Tätigkeiten verunmöglicht.
Wer die Slums verstehen will, muss sich die Lebensverhältnisse der Menschen ansehen – dort, woher sie kommen! In Irland wartete der Hungertod. Am indischen Land leben die Menschen auf einem Niveau, das hinter das europäische Mittelalter zurückfällt. Ihr Leben dort ist wohl gesünder, naturnäher, ruhiger. Doch die wenigsten Menschen ziehen Gesundheit, Naturnähe und Ruhe in ihren besten Jahren, lange vor dem „Ruhestand”, materiellen Entwicklungsmöglichkeiten vor. Ein vorindustrielles Leben bedeutet Verzicht auf 97 Prozent des materiellen Wohlstands. Die wenigsten entscheiden sich freiwillig dafür – was gewiss manchmal ein Fehler ist. Das Leben, das die Landflüchtigen erstreben, endet oft motorisiert im Stau zwischen Wohnblock und Arbeitsplatz. Doch aus dem konsumgesättigten Westen den Nachzüglern Vorhaltungen zu machen, ist völlig unangebracht. Entscheidend für sie ist die Perspektive: Wer durch den Slum gegangen ist, hat es erstmals geschafft, aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen auszubrechen, lebt erstmals anders als Vater und Großvater und schickt der Familie Geld nachhause, anstatt ihr eine Last zu sein.
Warum aber ausgerechnet im Slum, warum nicht in einer sauberen Wohnung und an einem sicheren Arbeitsplatz? Der Slum ist der Ort der Selbstopfer – oder Scheinopfer, wie Ludwig von Mises sagen würde –, der Möglichkeit für die Ärmsten, aus eigener Kraft ein wenig weiter zu kommen. Das gelingt dadurch, etwas in Kauf zu nehmen, was andere, Wohlhabendere, nicht mehr in Kauf nehmen. Die Iren, die einst bis in die USA auswanderten, erstaunten die Amerikaner, die vor ihnen ins Land gekommen waren, durch ihre unglaubliche Risikobereitschaft. Sie nahmen Tätigkeiten auf sich, für die Sklavenhaltern ihre Sklaven zu schade waren. Warum tun Menschen so etwas, und muss man sie nicht vor dieser Selbstversklavung bewahren?
Junge Männer nehmen vorübergehende Einbußen an Gesundheit, Sicherheit und Komfort bereitwillig in Kauf, wenn sie dafür Aussicht haben, voranzukommen. Das ist völlig natürlich und wird nur durch Wohlstandsverwahrlosung langsam abtrainiert. Im Slum kann man billiger leben, freier experimentieren, sich mehr zumuten als in der geordneten, geplanten, gesäuberten Stadt. Vor den Stadtmauern lungerten immer schon die Emporkömmlinge, die Zuzügler und Nachzügler, denen die Stadt misstraut, weil sie noch nichts zu bieten haben. Sie wollen sich erst beweisen und nehmen dafür viel in Kauf – nur ihre Ehre geben sie nicht gerne ab.
Keineswegs ist das Leben im Slum zu romantisieren. Slum bedeutet Elend, doch es ist Elend in der Hoffnung auf Verbesserung. Umverteilung könnte nichts dagegen anhaben, denn noch nie schwand Elend durch Verteilung, immer nur durch Produktion. Das Elend wird bekämpft in den schmutzigen Schmieden, giftigen Färbereien, stinkenden Kloaken der Slums. Das ist kein Zynismus, denn das Gleiche spielte sich einst in Europa ab. Wie lässt sich dieser Prozess beschleunigen? Durch Wissen und Handel. Er läuft heute in Asien schon viel schneller ab, ist schon im historischen Vergleich dramatisch beschleunigt. Jeder Versuch, den Slum dabei aus dem Weg zu räumen, ihn zum kontrollierten Ghetto zu machen, muss notwendig scheitern.
Gewiss gibt es heute auch massive Verzerrungen, die Städte noch über alle Maßen hinaus wachsen lassen. Dass zig Millionen auf engem Raum zusammenleben, ist nicht nur höherer Produktivität geschuldet, sondern auch der zentralisierten Geldproduktion und Geldverteilung. Diese Verzerrungen zeigen sich an potenzierten Problemen. Der Slum war immer schmutziger, da nicht auf dauerhaftes Leben ausgelegt. Doch die heutige Müllexplosion in den Straßen, Flüssen und auf den Stränden weiter Teile der Welt ist mehr als das. Sie ist ein Zeichen erstaunlicher Nicht-Kooperation, der vermeintlichen Unfähigkeit von Menschen, die für sich hoch kreativ und unternehmerisch sind, gemeinsam die einfachsten logistischen Probleme zu lösen.
Der Grund hierfür ist nicht Irrationalität, sondern ein unbewusstes Signal. Die Logistik- und Versorgungsprobleme rund um die Megastädte der Welt kommunizieren etwas, nämlich ein implizites Wissen: Die Menschen zeigen durch die spezifische Nicht-Kooperation die Überdehnung der Strukturen an. Die Lösung dieser Probleme würde sie nicht beseitigen, sondern die Moloche noch weiter wachsen lassen. Schmutz, Stau und Kloake rund um die Megastädte sind ein spontanes Phänomen, eine künstliche Schwelle, die ein wenig der politischen Überdehnung des Urbanen gegenhält, die Kosten an der Grenze etwas erhöht. Je weniger Stau, desto mehr Autos, desto mehr Stau; je weniger Schmutz, desto mehr Menschen, desto mehr Schmutz. Aus diesem Teufelskreis führt den Einzelnen nur seine individuelle Kreativität, sozial ist dieses Dilemma nicht zu überwinden – darum scheint hier die sonst beeindruckende Kooperation der Slumbewohner zu scheitern.
Tatsächlich sind echte Slums nämlich durch überraschend funktionale soziale Strukturen gekennzeichnet und durch relativ niedrige Kriminalität. Auch dies steht im Gegensatz zu den „sozialpolitisch” verwalteten Problemvierteln, die oft „No-go-areas” sind.
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.