Ganz so einfach ist es nicht.
Der Index unzulässiger Meinungen, die Karrieren beenden können, scheint zu wachsen: Mittlerweile ist nicht nur die Geschichte ein Minenfeld für Fehlmeinende, was immer schon so war, sondern auch Klima, Geschlechter, Intelligenz – und nun Epidemiologie. Werden abweichende Meinungen so sehr unterdrückt, dass wir uns in Westeuropa bereits in einem neuen Totalitarismus befinden, den wir nun nicht einmal benennen dürfen? Sind die wenigen verbliebenen Freiheitsfreunde dessen erste Opfer?
Eine gewisse Blockwartmentalität, die das freie Wort fürchtet und unbotmäßige Äußerungen pflichtbewusst zur Anzeige bringt, soll vielen Deutschen eigen sein. Noch stärker ist nur das Vorurteil, dass Deutsche sich gerne als Opfer sehen; immerhin hat „Opfer“ wohl schon „Kartoffel“ als beliebteste Fremdbezeichnung abgelöst. Wenn deutsche Freiheitsfreunde sich also von Blockwarten umgeben sehen, könnte das auch bloß ihre unterbewusste Sehnsucht sein, beim Opferwettbewerb noch ein paar Krumen abzubekommen.
Beide Vorurteile haben einen Kern Wahrheit und sind eng mit dem Problem der Meinungsfreiheit verbunden: Blockwartmentalität ist die Gegenseite einer Hochvertrauenskultur, Opferkult ist die Gegenseite einer Gewissenskultur. Beides ist in Westeuropa stark christlich geformt, und christliche Häresien spielen die größte Rolle bei den politischen Religionen der Gegenwart, die die Grenzen des Sagbaren bestimmen.
Die wachsende Zahl unzulässiger Meinungen, die Karrieren beenden können, mithilfe wachsender Zahlen von Blockwarten oder Opfern zu erklären, greift also viel zu kurz. Viel überzeugender ist eine wesentlich einfachere Erklärung: Es ist schlicht die Zahl an Meinungen und die Zahl beendbarer Karrieren gestiegen.
Meinung ist nicht bloß irgendeine Äußerung. Das ganze Konzept der Meinungsfreiheit als hohes Menschenrecht beruht auf modernen Vorstellungen eines öffentlichen Meinungsbildungsprozesses als Entscheidungsstruktur, die Machtbeziehungen durch Vernunftbeziehungen ersetzt. Diese Vorstellungen sahen ursprünglich im Parlament einen geschützten Erörterungsraum für eine repräsentierende (nicht repräsentative) Elite, der durch den Journalismus tief ins Bürgertum hinein erweitert wird. Diese Vorstellungen sind gut gemeint und noch immer dominant. Dass sie nichts mit der Realität zu tun haben, sollte im 21. Jahrhundert offensichtlich sein. Ist es aber nicht, weil eben der Meinungsbildungsprozess relativ wenig mit Erörterung der Realität zu tun hat.
Einst waren wirksame Debatten tatsächlich auf Parlamente und Presse beschränkt. Diese Beschränkungen sind durch die politische Negativselektion, die Friedrich August von Hayek so gut beschrieb, und die journalistische Kriegstreiberei und Hetze, die das Abrutschen Europas in den Abgrund beschleunigte, anstatt zu bremsen, diskreditiert. Dennoch wird noch heute der letzte Tropfen Legitimität aus diesen Konzepten herausgepresst, um Torwächter zu salben.
Zwischen den Toren, die sie bewachen, stehen kaum noch Mauern. Einst benötigte die relevante Meinung teure Druckerpresse und noch teureres Vertriebsnetzwerk. Journalisten schreiben heute überwiegend ab, Parlamentarier nicken heute überwiegend ab. Wer bestimmt, was geschrieben und abgenickt wird? Ein Meinungsbildungsprozess, der heute überwiegend außerhalb von Redaktionsstuben und Parlamenten abläuft.
Die Meinung, deren Freiheit so gepriesen wird, ist der Beitrag zur Meinungsbildung: jenes Quantum politischer Macht, das heißt durchsetzbarer Interessen, das geschickt hinter vermeintlicher Subjektivität versteckt wird. Meinung ist kein Argument, denn jenes bezieht sich auf die Realität und sucht Erkenntnis. Meinung ist keine Präferenz, denn jene bleibt privat und sucht Befriedigung. Meinung sucht Öffentlichkeit und damit Umstimmung, Durchsetzung, Gewicht.
Noch vor wenigen Jahrzehnten durften normale Bürger nur ganz selektiv, gekürzt und selten meinen – in der Leserbriefspalte. Als die totale Politisierung der Gesellschaft nach den Weltkriegen nur noch in Parlamentarismus und Journalismus Formen mit Restlegitimität finden konnte, wuchs die Bedeutung der Meinung. Die technischen Beschränkungen und die Torwächter führten zu einem massiven Meinungsrückstau – der sich nun in einer Meinungsexplosion entlädt.
Kein Wunder, dass die Zahl von Meinungsärgernissen zunimmt. Ärgernisse entstehen beim Zusammentreffen von entgegengerichteten Quanten politischer Meinungsbildung. Warum beenden solche Meinungsärgernisse Karrieren? Ist das nicht ein Hinweis auf Machtstrukturen, auf klare Fronten zwischen Meinungstätern und Meinungsopfern?
Karrieren sind keine festen Positionen, auf die wir irgendein Anrecht haben, sondern Ausdruck individuellen Strebens, sich in Angebote möglichst hohen Einkommens oder Prestiges einzufinden. Einkommen und Prestige, das der Markt verleiht, sind relativ resilient: Sie verteilen sich auf unzählige Einzelentscheidungen. Dass Millionen Kunden oder Millionen Fans plötzlich im selben Moment die Gunst entziehen und so eine Existenz beenden, ist unwahrscheinlich – meist ist das ein längerer, absehbarer Prozess.
Je weniger Karrieren Konsumentenpräferenzen entsprechen, je weiter sie vom Markt durch Schichten von Entscheidern, Managern, Komitees, Budgets et cetera entfernt sind, desto eher sind sie beendbar. Die wachsende Zahl wegen einzelner Fehlmeinungen sofort beendbarer Karrieren ist also bloß Symptom der Veränderung der Produktionsstruktur in Richtung geldpolitischer Zombifizierung, Etatismus und Mitläufertum aus steigender Kurzfristigkeit.
Der Leserbrief war ein weit billigeres Meinungsforum als der Aufbau einer Zeitung. Die meisten wurden aus rein praktischen Gründen nie veröffentlicht. Ein Facebook-Konto ist ein billigeres Meinungsforum als der Aufbau eines digitalen Publikums. Wir können uns bei jeder Sperre als Opfer fühlen, meist sind die Gründe praktisch: profan kommerziell. Freuen wir uns darüber, dass die Mauern zwischen den bewachten Toren immer niedriger werden! Ist der Meinungsdrang einmal gesättigt, könnten wesentlichere Freiheiten den Übersprung wagen.
Zuerst erschienen bei eigentümlich frei