Bei jenen, die das Vertrauen in die vermeintlichen Eliten verloren haben oder diesen Vertrauensverlust bewirtschaften, liest sich immer häufiger die These von einem Transhumanismus als ideologische Motivation sinistrer Projekte. Insbesondere Klaus Schwab dient dabei als Archetyp einer invasiven Umgestaltung des Menschen wider die Natur durch technokratische Eliten.
Schwab bietet in der Tat eine Steilvorlage für „Memes“, schnell erfassbare und verbreitbare Sinnbilder für geteilte Wahrnehmungen. Doch ihn als Vordenker des Transhumanismus anzusehen, gar diese Ideologie als kürzeste Erklärung für medizinisch-technischen Autoritarismus darzustellen, geht an der Wirklichkeit vorbei und führt in die Irre. Eine ähnliche Kurzformel findet sich auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Gräben. Da ist die Rede von „libertärem Autoritarismus“ mit steigender Gewaltbereitschaft der „Leugner“ des Gesellschaftsvertrags blinden Elitenvertrauens. Beide Erklärungen – jene vom transhumanistischen und jene vom libertären Autoritarismus – sind falsch; letztere ist auch noch dumm. Immerhin finden sich in Davos wirklich die Einflussreichen und die Einflussgierigen. Die gelegentliche Gegenwehr und Feindseligkeit im Milieu der Einflusslosen folgt der Ohnmacht. Der panische Verweis auf das „autoritäre“ Moment der Ohnmacht ist lächerlich angesichts der Gefahren des autoritären Moments der Übermacht.
Der Transhumanismus als gelehrtes Etikett trifft vor allem den christlichen und konservativen Nerv. Was, wenn nicht eine stolze Versündigung wider die menschliche Natur und Natürlichkeit, motiviere die technokratischen Paternalisten? Roland Baaders Begriff von den Gottspielern trifft es auf den Punkt. Die Hybris, um die es im Kern geht, muss aber nicht transhumanistisch motiviert sein. Und diejenigen, die sich zum Transhumanismus bekannt haben, machten sich nur selten dieser Hybris schuldig.
Schwab ist kein Transhumanist, noch nicht einmal ein Vordenker, aber gewiss ein Gottspieler. Wenn Klaus Schwab über Digitalisierung schreibt oder spricht, so erwarten seine Kritiker, dass es ihm um eine Dystopie totaler Überwachung mithilfe digitalen Zentralbankgeldes und totaler Überwindung der menschlichen Natur mithilfe von Gentechnik ginge. Digitalgeld hat in der Tat etwas mit Transhumanismus zu tun, aber in einer Weise, die die Kritiker von Klaus Schwab doch überraschen dürfte.
Transhumanismus bezeichnet die Hoffnung auf Überwindung menschlicher Grenzen mittels Technologie. Am stärksten als Bewegung formuliert wurde das Prinzip durch Max More, der den Begriff „Extropie“ prägte. Dieser sollte das Gegenteil von Entropie ausdrücken (korrekter wäre Negentropie) und steht für die Fortentwicklung hin zu selbstorganisierter Komplexität im Gegensatz zum entropischen Zerfall bis hin zum Wärmetod simpler Gleichverteilung. Diese „Extropier“ waren nie mehr als eine kleine Nische Gleichgesinnter im frühen Internet, prägten aber eine ähnlich kleine, jedoch wirkmächtigere Gruppe: die Cypherpunks. In den transhumanistischen, also technikfreundlichen und langfristig optimistischen Kreisen der Cypherpunks fanden sich auch die Pioniere von Bitcoin. Satoshi Nakamoto war wahrscheinlich „Extropier“.
Bitcoin ist ein Digitalgeld und gewiss eine Innovation, die menschliche Grenzen der Kooperation und des Vertrauens überwinden soll. Doch Bitcoin ist das Gegenteil eines digitalen Zentralbankgelds und einer der wenigen Hoffnungsschimmer in der Dystopie vollkommener Überwachung und totaler Geldpolitik. Digitales Zentralbankgeld mag auch das Bargeld alt aussehen lassen, doch handelt es sich bei Ersterem nicht um eine Innovation, sondern um das Gegenteil. Digitales Zentralbankgeld macht die zentrale Eigenschaft des Bargelds als Inhaberpapier – eine vergangene Innovation – vergessen.
Der Transhumanismus der „Extropier“ ist nicht gegen die menschliche Natur gerichtet, obwohl es vielen Vertretern darum ging, physische und biologische Beschränkungen zu überwinden. Eines der frühen Themen war die Kryonik, das künstliche Erhalten gefrorener Leichname, um in der Zukunft bei höher entwickelter Medizin das Leben im eigenen Körper fortzusetzen. Heute verdrängt die Langlebigkeitsforschung diesen Ansatz. Doch selbst die verwegensten Hoffnungen und Experimente zur Überwindung unserer Biologie gehen nicht gegen die menschliche Natur, sondern folgen dieser. Denn zur Natur des Menschen gehört die Technologie.
Unsere Biologie schwindet an Bedeutung neben der Kultur. Schon Primaten nutzen Werkzeuge, der Mensch zeichnet sich durch Vielzahl und Kulturrevolution der Werkzeuge aus. Noch wichtiger als die Werkzeuge aber sind die institutionellen Innovationen: die Normen der Kooperation, Lernen, Sprache, Geld.
Auch der konservativste Mensch ist heute schon ein Cyborg. Wir bewegen uns mit Energien weit jenseits unserer biologischen Möglichkeiten durch alle Elemente ohne Bedarf für unsere Gliedmaßen, sind kommunikativ und kognitiv an Netzwerke angeschlossen, sind künstlich zusammengeflickt und mit adaptiven Schutzhäuten überzogen. Die besten Transhumanisten riskieren wie alle Innovatoren eigenes Wohlergehen für ungewisse Experimente zur Verbesserung unserer Werkzeuge und zur Erweiterung unseres Wissensstandes, bis hin zum Biohacking.
Die wesentliche Trennlinie läuft nicht zwischen Bewahrern und Veränderern der menschlichen Natur, denn eine solche Trennlinie ist stets willkürlich; immerhin liegt Veränderung in der menschlichen Natur. Die einzig relevante Trennlinie ist die zwischen Zwang und Freiwilligkeit. Klaus Schwabs Hybris, seine Selbstüberschätzung, liegt nicht in tollkühnen Plänen, riskanten Experimenten oder übermenschlichen Ideen, sondern im wichtigtuerischen Ausbreiten von „Weltproblemen“ angesichts der erbärmlichen Realität seiner hofierten „Stakeholder“: privilegierte Funktionäre, weltfremde Akademiker, Fiat-Vermögende mit Geltungsdrang – überwiegend entropische Energiesauger und gewiss keine Transhumanisten.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.