Jene Generation, die gerade auf den Arbeitsmarkt kommt, ist gewiss entgegen des Kollektivbegriffs der Millennials ziemlich heterogen. Doch häuft sich der Eindruck, dass einer kleinen Zahl von besonders Engagierten ein größerer Teil mit erheblichen Produktivitäts- und Konzentrationsmängeln gegenübersteht. Der Verdacht liegt nahe, dass diese Mängel dem Lebensstil der digital natives geschuldet sind. Lauter werden die Stimmen, die hier eine Aufmerksamkeitsökonomie am Werke sehen, bei der unternehmerischer Wettbewerb die Attraktivität digitaler Angebote über ein Maß hinaus verstärkt, dem der Wille noch standhalten kann. Diese Perspektive ist verheerend, weil sie Verantwortung weiter abgibt und damit die Verantwortungslosigkeitsspirale nährt, die das eigentliche Problem einer allfälligen Aufmerksamkeitsspirale wäre. Doch sehen wir uns zunächst an, was für diese Perspektive spricht.
Nach dem aktuellen Wissensstand über Suchtverhalten sind digitale Aufmerksamkeitsspiralen in der Tat den Suchtphänomenen zuzuschreiben. Sucht entsteht über die wiederholbare Verstärkung positiver physischer und psychischer Empfindungen. Es sind nicht die chemischen Inhaltsstoffe eines Suchtmittels, die direkt abhängig machen, sondern in der Regel körpereigene Ausschüttungen von z.B. Dopaminen, die Gewohnheiten positiv verstärken. Sucht ist also ein eingeübter Prozess, nicht das unentrinnbare Schicksal willenloser Zombies, sondern eine “gewollte Wiederholung, die zu tiefem Lernen führt” (Lewis 2015: 189). Nicht zuletzt deshalb ist der „Krieg gegen Drogen” falsch. Illegale Drogen sind nur eine kleine Untergruppe von Gütern, deren Konsum gewohnheitsbildend ist, sofern man bewusst die Verankerung zwischen positiver Empfindung und Handlungsweise zulässt.
Im digitalen Bereich wirken insbesondere zwei in den menschlichen Instinkten biologisch eingeschriebene Positivsignale, die einst für das Überleben besonders wichtig waren: auf der einen Seite das Bedürfnis nach Neuigkeiten, auf der anderen Seite das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Schon bei Kleinstkindern ist die gemütserhellende Wirkung von Signalen dieser Art offensichtlich. Neues zieht die Aufmerksamkeit magisch auf sich, genauso wie anerkennende Interaktion. Bislang lag es bloß nicht in unserer Hand, durch einen einfachen Konsumakt bereits die genussfertige Neuigkeit oder Anerkennung zu produzieren. Das Erkennen des Neuen erforderte Neugier, also konzentrierte Aufmerksamkeit, und die Anerkennung war die Frucht mühsam aufgebauten sozialen Kapitals. Diese Produktionsstruktur der Aufmerksamkeit ist nun arbeitsteiliger um den Preis geringerer Authentizität – wir können Neuigkeit und Anerkennung konsumieren, ohne selbst viel dafür zu tun.
Bei immer mehr Menschen zeigen sich eindeutige Suchterscheinungen: Durch Mausklick lassen sich Streams aktualisieren, die weitere Neuigkeiten und Anerkennung bringen. Die frische dopaminergische Ausbeute wird meist noch in der Signalfarbe rot angezeigt: Neue Messages, neue Likes, neue Notifications. Oder die Streams sind bereits selbstaktualisierend, wie etwa bei YouTube, wo eine Spirale an immer neuen, automatisch aufeinanderfolgenden Videos aktiviert werden kann. Dies spielt in die Hand der menschlichen Tendenz zum delay discounting, sprich “sofortige Belohnungen höher als langfristige Vorteile zu bewerten” (Lewis 2015: 100).
Die körpereigene Belohnung der Aufnahme von Neuigkeiten und Anerkennung war für unser Überleben wichtig, weil der Mensch als schwaches, nacktes Tier besondere Wachsamkeit und Kooperationsfähigkeit benötigt, um die biologischen Mängel auszugleichen. Einerseits bindet unser an diesen Aufgaben angeschwollenes Hirn Überlebensenergie, andererseits erlauben diese neuen Fähigkeiten auch Schwäche oder energetische Unterdotierung des rein Körperlichen. Das ist gut so: das geistige Potential des Menschen übertrifft nicht nur sein eigenes körperliches Potential in unvergleichlicher Höhe, sondern auch das körperliche Potential aller anderen Tiere. Menschen schlagen alle tierischen Rekorde durch Geisteskraft.
Der Geist zeigt aber auch ein großes Problem, das die Menschheit bis heute kaum bewältigt oder auch nur verstanden hat: Freiheit. Als politische Phrase klingt sie großartig und erstrebenswert, wird dabei aber als Konsumgut interpretiert. Tatsächlich ist Freiheit eine unglaubliche Herausforderung, welche die schwere Bürde der Verantwortung notwendig mit sich bringt. Digitale Formen der Kommunikation und Kooperation sind als Werkzeuge geniale Ergebnisse der Geisteskraft und absichtsvollen Tätigkeit von Millionen von Menschen, die diese neue Infrastruktur schufen und am Leben halten. Wie jedes Werkzeug hebeln sie menschliches Potential – nach oben, wie nach unten. Das Spektrum wird größer: Die Massenkommunikation hat eine ähnliche Gegenseite wie die Massenvernichtung durch die geniale menschliche Kontrolle der materiellen Welt bis hinunter auf die atomare Ebene.
Die mit Werkzeugen verbundene Verantwortung kann man nun einseitig auf die Anbieter übertragen. Es scheint zunächst plausibel, Schöpfer für ihre Schöpfung zu verantworten. Im Bereich des Digitalen kommt der ehemalige Google-Designer Tristan Harris darauf, dass die meistgenutzten Webseiten und Apps durchaus genau wissen, worauf in der menschlichen Psyche zu zielen ist, um maximale Aufmerksamkeit im Betrachter zu erregen (Bosker 2016). Dies geschehe mit erschreckend einfachen, dem Websurfer in größtem Maße unbewussten Appellen an unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse wie die der sozialen Anerkennung. Wo die Technologie uns als Werkzeug dienen sollte, wäre der Knecht zum Herren geworden, und es würde Zeit, diese Kontrolle zurückzuerlangen, so Harris. Er fordert eine Neuausrichtung der digitalen Welt, damit der Nutzer wieder zum “freien Akteur” werde, der das das Digitale bewusst und maßvoll nutzt.
Dazu ruft er die Designer digitaler Anwendungen zu Verantwortung auf und fordert eine Art “Hippokratischen Eid” (Bosker 2016: 2). Die Befolgung dieses einschränkenden Eides könnte durch Qualitätssiegel angezeigt werden. Die Einschränkung läge darin, Aufmerksamkeitsauslöser zu vermeiden oder bewusst zu machen. Zum Beispiel sollte dem App-Nutzer durch eine Anzeige in Erinnerung gerufen werden, wie viel Zeit er mit der jeweiligen App verbringt.
Eine Konsequenz dieser allzu einseitigen Verantwortungsübertragung ist schließlich der Ruf nach Interventionen. In Analogie zur Tabakindustrie müsste dann bei jedem Klicken eines Like-Buttons auf Facebook ein Warnfenster aufgehen mit einer abschreckenden Botschaft. Denkbar wäre das Bild eines verwahrlosten Digitalsüchtlers oder Aufnahmen der Hirnumformungen.
Das menschliche Hirn ist plastisch und verändert sich durch Verhaltensweisen. Bei Süchten kommt es durch selbstverstärkende Gewohnheiten zur Verkleinerung der Areale, die für Motivation und Entscheidung verantwortlich sind. Da das meiste menschliche Potential im Geistigen liegt, sind digitale Medien „gefährlicher” als Zigaretten und Alkohol. Gewiss nur im irreführenden Sinne des paternalistischen Interventionismus. Werkzeuge sind nicht gefährlich, sondern menschlicher Missbrauch. Nicht einmal Waffen töten, sondern Menschen. Zigaretten sind ungefährlich, denn sie rauchen sich nicht von selbst. Ein konsequenter Paternalismus müsste totalitär werden, er müsste alle Konsumentscheidungen überwachen und Zwangsaskese verordnen. Zucker wirkt beispielsweise genauso wie Suchtmittel und schädigt zudem den Organismus. Die allergrößte Gefahr für Menschen geht aber von anderen Menschen aus, insbesondere jenen, die als Herrenmenschen Umerziehungsprogramm planen.
Obamas herablassender Spruch gegenüber Unternehmern „You didn’t build that” – Du hast es nicht geschaffen – hat einen wahren Kern. Im Gegensatz zur neidpolitischen Intention ist zwar in der Tat unternehmerische Schöpfungskraft kausales und primäres Element der Wohlstandsschaffung, doch jede menschliche Schöpfung ist co-creation, Mitschöpfung, nicht Alleinschöpfung. Unternehmertum im Rahmen einer Marktwirtschaft ist in enge Bahnen diszipliniert: nämlich jene, die Konsumenten vorgeben. Neue Produkte sind komplexe Kooperationsergebnisse, bei denen der Wettbewerb Schnelligkeit, Effizienz und Empathie belohnt, aber nicht die Ergebnisse allein vorbestimmt. Ludwig von Mises fasste diese Perspektive wie folgt zusammen:
Die Menschen trinken nicht Alkohol, weil es Bierbrauereien, Schnapsbrennereien und Weinbau gibt; man braut Bier, brennt Schnaps und baut Wein, weil die Menschen geistige Getränke verlangen. Das „Alkoholkapital” hat weder die Trinksitten noch die Trinklieder geschaffen. Die Kapitalisten, die Aktien von Brauereien und Brennereien besitzen, hätten lieber Aktien von Verlagsbuchhandlungen erworben, die Erbauungsbücher vertreiben, wenn die Nachfrage nach geistlichen Büchern stärker wäre als die nach geistigen Getränken. Nicht das „Rüstungskapital” hat den Krieg erzeugt, sondern die Kriege das „Rüstungskapital”. Nicht Krupp und Schneider haben die Völker verhetzt, sondern die imperialistischen Schriftsteller und Politiker. Wer es für schädlich hält, Alkohol und Nikotin zu genießen, der lasse es bleiben. Wenn er will, mag er auch trachten, seine Mitmenschen zu seiner Anschauung und Enthaltsamkeit zu bringen. Seine Mitmenschen gegen ihren Willen zur Meidung von Alkohol und Nikotin zu zwingen, vermag er in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, deren tiefster Grundzug Selbstbestimmung und Selbstverantwortung eines jeden Einzelnen ist, freilich nicht. Wer es bedauert, daß er andere nicht nach seinen Wünschen lenken kann, der bedenke, daß andererseits auch er selbst davor gesichert wird, den Befehlen anderer Folge zu leisten. (Mises 1922: 437f)
Diese Perspektive darf man auch nicht überdehnen, um den Unternehmer gänzlich aus der Verantwortung zu entlassen. Doch sie relativiert die Gegenübertreibung, den Unternehmer zum Diktator über willenlose Marionetten zu erklären. Tatsächlich bedeutet Marktwirtschaft ständige Koordination und Kooperation, nicht Diktat. Allerdings besteht die Marktwirtschaft im eigentlichen Sinne nicht mehr, wir leben heute in massiv monetär verzerrten Mischwirtschaften. Trotzdem bleibt die Essenz der Kooperation unter Fremden, dass sie sich über die Ziele nicht einig sein müssen und sich nur bei den Mitteln treffen.
Digitale Medien sind Mittel und nicht Selbstzweck oder Zweckdiktat, wenngleich sie durch die heutigen Verzerrungen überdehnt und bedenklich verbogen sind. Der marginale Unternehmer, der sein digitales Angebot dopaminergisch intensiver gestaltet, wirkt als Agent einer von (monetär verschobenen) Kunden gewollten Neuanpassung der Produktionsstruktur.
Unter diesem marginalen Konkurrenzdruck leiden etablierte Medien und Verlage. Doch auch diese sind kein Selbstzweck. Es ist überhaupt nicht gewiss, ob das Informationsprodukt, das durch Prestige und mangelnde Dynamik längere Aufmerksamkeitsspannen hält, die Menschen besser macht. Die Verantwortungslosigkeit, die Kurzfristigkeit, der Kapitalkonsum – was sich alles symptomatisch natürlich auch in den digitalen Medien zeigt – wurde in analogen Zeitungen und Büchern herbeigeschrieben und legitimiert. Das Digitale zeigt nur größere Selbstverstärkung, was den Vorteil hat, dass Entwicklungen schneller sichtbar sind und sich auch eher zu Tode laufen können.
Die digitalen Angebote sind neue Herausforderungen für unsere Freiheit. Sie können Werkzeuge der Selbstzerstörung und Fremdversklavung sein. Eine Hochkultur kultiviert Werkzeuge. Sie kann sogar mit Nikotin, Alkohol, bewusstseinsverändernden Substanzen einen produktiven, potentialsteigernden Umgang entwickeln. Gesundheit ist nicht der höchste Lebenszweck, denn der Körper ist eben das Uninteressanteste am Menschen. Dass die digitalen Medien in einer Zeit des kulturellen Kapitalkonsums aufkommen, mag sie besonders auszeichnen. Das ist aber Zufall. Gewiss haben sie als neuer Hype in einer enthemmten Gesellschaft, der kulturelle Stützen fehlen, dramatische Auswirkungen, die vermutlich noch unterschätzt sind. Wahre Freiheit wächst aber an der Herausforderung. Die marginalen Mitläuferunternehmer, die kokreativ die letzten Aufmerksamkeitsreserven einer Bewirtschaftung zuführen, werden zum einen Teil scheitern, wie es dank der Marktdynamik immer bei einem Hype der Fall ist. Zum anderen Teil sind sie wertvolle Agenten des Umbruchs, kreative Zerstörer im Schumpeterschen Sinne, welche vielleicht das falsche Ethos des Massenmedialen auf den Boden bringen. Sodass dann irgendwann die Coolness und Relevanz der Neuigkeit redimensioniert wird, wie es bei der Zigarette auch ohne Interventionen irgendwann gekommen wäre: Nicht durch Verbote, die diese noch attraktiver machen, sondern weil von der Zigarette, wenn sie von all der Coolness des Verbotenen, der Auflehnung gegen die furchtbar langweiligen braven Asketen, die alle anderen umerziehen wollen, nicht viel mehr bleibt, als gelegentliches Genussmittel einer kleinen Zahl zu sein, vielleicht sogar höchstkultiviert wie in der Zigarrenkultur, wo die Verknappung den Genuss noch steigert.
Die Wirkung der digitalen Medien wird aus utilitaristischer Perspektive viel gewichtiger sein als die herkömmlicher Suchtmittel, und doch bleibt ein totalitär-utilitaristisches Panoptikon der Umerziehung und Überwachung immer noch die größere Gefahr. Warum sind digitale Medien die verheerendste Droge, die der Mensch bislang entwickelt hat; welche Folgen drohen; und warum bleibt trotzdem Hoffnung für die Freiheit des Menschen?
Ein Teil des Textes ist leider nicht öffentlich zugänglich, da der Autor für Freunde schreibt und sich kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Intimität der alten Wiener Salons ist im scholarium Voraussetzung der Erkenntnis, die keinerlei Rücksicht auf Empfindlichkeiten nehmen kann. Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit, gerne laden wir Sie dazu ein.