In Europa rühmt man sich noch der Innovation und belächelt asiatische Imitation. Doch diese Innovation beschränkt sich immer mehr auf die stolze Vergangenheit und die fiktive Zukunft in Politikerreden. Tatsächlich kommen bereits viele Innovationen aus Asien und werden in Europa imitiert. Gelegentlich schlechte, denn auch neueste Technik kann uralten Zwecken dienen.
Derzeit weist die politische Tendenz in China wieder in Richtung Zentralismus und Kontrolle. So liefern kompetente chinesische Techniker inkompetenten europäischen Technokraten Vorbilder und Mittel. Eben mündet eine Phase des Experimentierens mit Digitalisierung in einsatzbereiter Überwachungstechnik. Das Experiment war wohlbegründet und die Methode zunächst dezentral: In einer Gesellschaft, der es seit der Kulturrevolution besonders an Vertrauen mangelt und Kreditwürdigkeit noch nicht systematisch erfasst war, wurden digitale Lösungen gesucht.
Die Erfassung der Kreditgeschichte mit sanktionierenden Einschränkungen für säumige Schuldner wird auch in Europa und den USA betrieben. Einige der chinesischen Experimente fanden unter Mithilfe privater Unternehmen statt und waren bislang relativ harmlos. Doch in einer Phase wachsenden staatlichen Kontrollwahns schufen diese Werkzeuge verheerende Präzedenzen. Das lag nicht so sehr an der Digitalisierung, sondern am sich ändernden Kontext. In einer Wirtschaft, in der Schulden eine so große Rolle spielen, steigt natürlich die Bedeutung der Kreditwürdigkeit. Je stärker die Schuldenfinanzierung politisiert wird, desto stärker gewinnt auch die Kreditwürdigkeit an politischer Bedeutung.
Xi Jinping ist mit der „spontanen“ Entwicklung der chinesischen Wirtschaft nicht mehr zufrieden und maßt sich an, diese Fehlentwicklungen durch stärkere Vorgaben und Sanktionen zu korrigieren. Dabei sieht er wie westliche Politiker vor allem die Symptome immer stärkerer Verzerrung. Im Gegensatz zu westlichen Politikern verfügt der chinesische Apparat aber leider auch über die Ressourcen und die Entschlossenheit zur Wirtschaftssteuerung. Bei uns ist nur Wirtschaftsbehinderung denkbar, worauf allerdings auch ein großer Teil der chinesischen Steuerungsversuche hinauslaufen muss.
Die Pandemie zeigte den europäischen Weg in der Tagespolitik auf: Imitation chinesischer Methoden ohne Entschlossenheit und Kompetenz. Die dauerhafte Kontrolle von Zertifikaten auf Mobiltelefonen ähnelt in frappierender Weise dem „Social-credit-System“. Diese Übernahme ist mehr unbewusst erfolgt und spiegelt eher die politische Dynamik wider als die Absichten einzelner Politiker.
Es geht im Kern tatsächlich um ein Rückzugsgefecht gegen die sinkende Kreditwürdigkeit der Untertanen. Für Volkswirtschaften, die immer mehr Verschuldungspyramiden ähneln, bedeutet sinkende Kreditwürdigkeit den Zusammenbruch. Das erklärt auch die panische Zunahme an Planwirtschaft in China.
Der überwiegende Teil der Geldordnung besteht heute aus digitalen Schuldtiteln, auf denen immer weitere abgeleitete Schuldinstrumente beruhen. Das erklärt die Fragilität der Struktur, allerdings auch ihre teilweise positive Dynamik. Die Wirtschaftswunder der Nachkriegsgenerationen sind real, nur ihre Nachhaltigkeit ist fraglich. Das hatte schon Ludwig Erhard erkannt.
Einer der wichtigsten Schuldtitel, der weitere Schuldtitel „deckt“, ist in Europa die Staatsanleihe. In China ist die Schuldenstruktur komplizierter und etwas weniger transparent, läuft aber am Ende auf Ähnliches hinaus. Die Geldproduktion versucht einen Vorgriff auf spätere staatlich verfügbare Produktivität der Untertanen. Staatsschulden sind durch Steuermoral gedeckt. Die komplexere chinesische Wechselkurspolitik ist ebenfalls durch künftige Produktivität gedeckt – allerdings nur jene, die staatlichen Zwecken entspricht.
Je wichtiger die Geldpolitik im Vergleich zu privaten Urteilen über Nützlichkeit und Produktivität, desto mehr verändert sich die Bedeutung der Kreditwürdigkeit. Es geht dann weniger um Sparsamkeit und mehr um Fügsamkeit. Die entscheidende Kreditwürdigkeit, die das Fundament der Schuldenpyramide bildet, ist die künftige besteuerbare und steuerbare Arbeitsfähigkeit und -willigkeit der Untertanen. Das bedeutet eine Fügsamkeit, berechenbar künftige Mittel für gegenwärtige staatliche Zwecke hervorzubringen und abzuliefern.
Daher berücksichtigen die politisch wohl aussichtsreichsten „Social-credit-Experimente“ das politische Wohlverhalten der Untertanen. Es kommt dabei, wie bei der Propaganda, niemals auf den konkreten Inhalt an, der zu glauben oder auszuweisen ist, sondern stets auf die Fügsamkeit.
Sind berechenbare und fügsame Menschen nicht auch bessere Arbeitskräfte und damit produktiver? Auf diesem Gedanken beruht zum großen Teil das Bildungssystem. Das Problem ist, dass dieser Zusammenhang vorwiegend in künstlich aufgeblasenen Zombie-Unternehmen zu stimmen scheint – allerdings geht es darin eher um Scheinproduktivität. So rationalisiert die Verzerrung der Wirtschaft diese Prämisse nachträglich – ein verheerender Teufelskreis, der den (be-) steuerbaren Anteil einer dabei real schwindenden Gesamtproduktivität vergrößert.
Die Impfung im Pass drückt mittlerweile Wohlverhalten aus. Das ist bedauerlich, denn so wird eine pharmazeutische Frage zu einer politischen. Ob durch diese Politisierung langfristig mehr Ungeimpfte oder mehr Geimpfte durch für sie letztlich ungünstige Entscheidungen leiden werden, das mag ich noch nicht absehen, auch wenn darüber angeblich „wissenschaftlicher Konsens“ bestehe. Der Gedanke braucht nicht allzu viel Phantasie, dass bald ökologisches Wohlverhalten im wissenschaftlich ebenso zweifelsfrei erwiesenen Klimanotstand ähnlich dokumentiert wird und danach Zugangs- und Reisebeschränkungen verhängt werden.
Frei nach Roland Baader: Was vorausgefressen wurde, muss nachrationiert werden. Kreditwürdigkeit bedeutet dann, auch in Zukunft dem Staat und seinen Bedürfnissen zu genügen und berechenbar die geforderten Dienste und Glaubensbekenntnisse zu liefern.
Zuerst erschienen in eigentümlich frei.